Türchen 7: Ungarn – Uruguay 1954

4:2

Das beschauliche Stade Olympique de la Pontaise zu Lausanne wurde während der Weltmeisterschaft 1954 Austragungsort eines ganz besonderen Duells. Die favorisierten Ungarn wurden in Abwesenheit ihres Majors im Halbfinale vom Titelverteidiger bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit getrieben.

Jahrhunderttalente gegen Jahrhundertlegenden

Weltmeisterschaft 1954, 30. Juni 1954

Drei Tage nach der als „Schlacht von Bern“ in die Geschichtsbücher eingegangenen Partie gegen Brasilien mussten die Ungarn erneut gegen ein südamerikanisches Team antreten. Dieses Mal bekamen sie es mit dem Titelverteidiger aus Uruguay zu tun.

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Grundformationen

Im Vergleich zum hart erkämpften 4:2-Sieg über Brasilien nahm Nationaltrainer Gusztáv Sebes zwei Änderungen in der ungarischen Mannschaft vor. Die Tóth-Brüder Mihály und József standen nicht in der Startaufstellung. Dafür spielten László Budai und Péter Palotás im Angriff, während Ferenc Puskás weiterhin schmerzlich vermisst wurde. Kapitän József Bozsik hatte im Viertelfinale die Rote Karte gesehen, war aber für das darauffolgende Spiel nicht gesperrt.

Uruguays Trainer Juan López musste unterdessen drei verletzungsbedingte Ausfälle kompensieren. Mit dem eigentlichen Kapitän und ältesten Turnierteilnehmer Obdulio Varela sowie Oscar Míguez fehlten zwei Akteure, die beim Maracanaço vier Jahre zuvor beteiligt waren. Zudem war Julio Abbadie nicht mit von der Partie. Die personellen Änderungen führten unter anderem zur Hereinnahme des späteren Doppeltorschützen Juan Hohberg, einem Angreifer in Diensten von Club Atlético Peñarol, der erst wenige Monate zuvor sein Debüt für La Celeste gegeben hatte.

Anfängliche Grundzüge der Partie

Vom Anpfiff weg zeigten sich die Mágikus Magyarok als dominante Kraft in diesem Duell zweier Elite-Teams. Die Spielstärke auf allen zentralen Positionen ermöglichte lange Passstafetten, die Uruguays Verteidigungsformation nicht selten zerspielten. Im Mittelfeld der Ungarn war die Rollenverteilung wie immer klar geregelt: Während József Zakariás zur Absicherung vor der Verteidigungslinie blieb oder sich auch gelegentlich in selbige fallen ließ, schloss Bozsik die Räume nach vorn und verband die Mannschaftsteile in der Mitte des Spielfeldes. Bozsik zusammen mit Routinier Nándor Hidegkuti sorgten für das spielmachende Element im ungarischen Team.

Der Spielaufbau lief allerdings gerade in der ersten halben Stunde häufig über die rechte Außenbahn. Jenő Buzánszky war der offensiv aktivste Verteidiger auf Seiten des Favoriten. Von seiner Position an der Seitenlinie aus spielte er wahlweise den Ball diagonal ins Zentrum auf Bozsik oder beförderte das Spielgeräte geradewegs die Linie entlang, wo Budai einige Meter weiter vorn wartete. Der rechte Flügelstürmer verharrte keineswegs im letzten Spielfelddrittel, sondern bot sich aktiv für kurze Anspiele an. Da Uruguays Linksverteidiger William Martínez tief positioniert blieb, konnte Budai entweder einen gegnerischen Mittelfeldspieler aus dem Zentrum herauslocken oder ohne Gegenwehr in Richtung des Strafraums marschieren.

Insgesamt mangelte es Uruguay in der ersten Phase des Halbfinalduells am notwendigen Druck im mittleren Drittel. Die Südamerikaner blieben zu häufig in einer passiven, abwartenden Rolle, was es den technisch versierten Europäern ermöglichte, das Spielgerät laufen zu lassen und die Situation vorm Pass in die Spitze genau zu bewerten.

So gesehen beim Führungstreffer der Ungarn: Hidegkuti wurde halblinks nicht attackiert, sodass der Profi von Vörös Lobogó einen gezielten hohen Ball mit Schnitt auf Sándor Kocsis spielen konnte, der ein paar Meter vor Martínez und José Santamaría positioniert war. Kocsis leitete die Kugel direkt auf Vereinskollegen Zoltán Czibor weiter, der sich zuvor vom Flügel in den Halbraum neben Víctor Rodríguez Andrade bewegt hatte und per Flachschuss zum 1:0 traf.

Rückschläge und Rückkehr

Uruguay brauchte selbst nach diesem ersten Rückschlag noch einige Minuten, bis es langsam selbst offensive Akzente setzen konnte. Zunächst wurde jedoch deutlich, dass die pure Physis der ungarischen Verteidiger allein ausreichte, um den Gegner aus dem eigenen Strafraum herauszuhalten. Hinzu kam die anfänglich mangelnde Unterstützung für Carlos Borges und Co.

Juan López‘ Team beschränkte sich zu stark auf Umschaltangriffe, wodurch in der Regel sieben Feldspieler am eigenen Strafraum positioniert und die Angreifer nach erhaltenen Anspielen auf sich allein gestellt waren. Wenngleich die langen Flachpässe hin zu den Angreifern mit oftmals passendem Timing und guter Präzision gespielt wurden, blieb das Unterfangen, aus den beschriebenen Situationen ein Tor zu erzielen, doch aussichtslos.

In längeren Ballbesitzphasen und einem ruhigeren Spielaufbau wiederum war es gerade für Spielgestalter Juan Schiaffino möglich, bis in den ungarischen Strafraum vorzurücken und als Ballempfänger zu fungieren. Auch andere Mittelfeldakteure wie Néstor Carballo gingen gelegentlich den Weg in die Spitze, was einen gewissen Überraschungseffekt mit sich brachte. Die ungarische Sturmreihe war nicht gewillt, die weiten Strecken in der Defensive mitzusprinten.

Das starke Aufrücken der ungarischen Stürmer verursachte jedoch auch regelmäßig Lücken in der eigenen Formation. Hierbei kam das schnelle Umschaltspiel der Uruguayer positiv zum Tragen, da sie ihre Zurückhaltung nach und nach ablegten und aggressiver in die offenen Zonen vorrückten oder sogar bei gegnerischen Angriffen zuweilen auf Balleroberungen spekulierten. Allerdings endeten viele Angriffe in aussichtslosen Fernschüssen oder Flanken, bei denen die Flügelstürmer einrückten, um mehr Präsenz im Sechzehnmeterraum zu schaffen.

Aufgrund der offensiven Ausrichtung Uruguays kam interessanterweise Ungarn in den Minuten vor der Halbzeitpause zu Konterangriffen. Kurz nach der Pause setzte Sebes‘ Mannschaft den nächsten Nadelstich. Budai drang über die rechte Außenbahn vor und befand sich an der kurzen Strafraumseite im Duell mit José Santamaría. Seine Flanke wurde abgefälscht und entwickelte sich zur Bogenlampe, die am zweiten Pfosten nach unten kam und von Hidegkuti über die Linie geköpft wurde.

Für die uruguayische Elf änderte sich damit wenig. Sie gingen weiterhin offensiv vor und spielten in der Phase nach dem 0:2 immer besser die eigenen Außenstürmer frei, welche jedoch zumeist abgedrängt wurden. Ungarn derweil brachte vermehrt erfolgreich Anspiele in die Schnittstellen neben José Santamaría an, wobei Uruguay keinen Block mehr vor der Verteidigungslinie aufgestellt hatte.

Der Spielaufbau der Südamerikaner entwickelte sich unterdessen zum Chaos, weil sie zu rasch und zu direkt in die Spitze durchbrechen wollten, aber die Steilpässe nicht entsprechend vorbereiteten. Es war dann ein erneuter Konterangriff, der das 1:2 einleitete. Über mehrere Stationen kombinierten die Uruguayer. Javier Ambrois rückte im rechten Halbraum nach und ging auf den zentralen Block der Ungarn zu. Er lockte damit Lóránt heraus, wodurch sich Hohberg in den Rücken des Zentralverteidigers schleichen konnte und den Ball von Ambrois erhielt.

Anschließend gab es auf beiden Seiten Großchancen, die jeweils auf der Torlinie geklärt wurden. Im strömenden Regen von Lausanne gelang vier Minuten vorm Spielende Hohberg der Ausgleich. Schiaffino trieb einen Konter voran und steckte auf den Angreifer durch, der Torhüter Gyula Grosics umkurvte und den Ball mit Gewalt ins Netz beförderte. Buzánszky und Mihály Lantos versuchten vergeblich auf der Linie den Schuss zu blocken.

Während des Torjubels kollabierte der uruguayische Held Hohberg, weil er einen Herzstillstand erlitt. Für einige Momente war er dem Tod nah. Doch Hohberg kehrte wiederbelebt nach Beginn der Verlängerung aufs Spielfeld zurück.

Das Kopfballungeheuer von Budapest

Über einen Sieg seiner Mannschaft sollte sich Hohberg am Ende allerdings nicht freuen dürfen. Die 30-minütige Verlängerung war zunächst an Chaos und Spannung kaum zu überbieten. Viele Szenen spielten sich in den beiden Strafräumen ab. Die ermüdeten Teams waren nicht mehr in der Lage, die Räume effektiv zu schließen und suchten beiderseits ihr Heil in der Offensive.

José Santamaría entwickelte sich in den finalen zehn Minuten zur tragischen Figur dieses Spiels. Der spätere Abwehrchef von Real Madrid wurde sowohl beim 3:2 als auch beim 4:2 von Kocsis übersprungen und war zum Schluss am Boden zerstört. Uruguay fand zurück in die Partie, wurde aber von den hochtalentierten Ungarn doch noch bezwungen. Diese sollten ihren eigenen Albtraum vier Tage später erleben…

juwie 8. Dezember 2016 um 22:24

Nice!

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HK 7. Dezember 2016 um 13:53

Bis hierher meine Lieblingsanalyse aus dem Kalender.
Man ist so daran gewöhnt die WM 54 durch die deutsche Brille zu sehen. Da vergisst es sich leicht, dass es da auch noch was anderes gab.

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kirmoar 7. Dezember 2016 um 11:47

Danke für die interessante Analyse.
Eine kurze Frage, konntet ihr das auf Basis von Filmmaterial analysieren bzw. gibt es solches noch vollständig? Vom 54er WM-Finale gibts ja keine ganz vollständigen Aufnahmen mehr meines Wissens.

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CE 7. Dezember 2016 um 15:23

Es gibt nicht die vollständigen 120 Minuten, aber ein größerer Teil des Spiels ist verfügbar. Die Schwierigkeit liegt eigentlich darin, die einzelnen Spieler bei den schlechten Aufnahmen überhaupt zu erkennen.

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Schorsch 7. Dezember 2016 um 20:35

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich in irgendeiner TV-Dokumentation über die WM 54 einen längeren Bericht mit entsprechenden Filmaufnahmen u.a. auch über diese Spiel gesehen. Kann sein, dass dies im Zusammenhang mit der WM 14 in Brasilien war. Möglicherweise kam diese Dokumentation im schweizer TV. Die (schwarz-weiß) Filmaufnahmenwaren da meiner EWrinnerung nach recht gut. aber man wird auch eine ‚Positivauslese‘ genommen haben.

Im übrigen vielen Dank für diesen Artikel! Ein wenig habe ich darauf spekuliert, dass Ihr dieses Spiel im Adventskalender habt und ein wenig habe ich auch darauf gehofft, da die ‚Goldene Elf‘ zu meinen historischen Lieblingsteams gehört. Dass ein Spiel von der 54er WM dabei sein würde, erschein mir sehr wahrscheinlich, da Ihr euren Bogen ab 1954 beginnend angekündigt hattet. Und das Finale dürfte ausreichend oft analysiert worden sein… 😉

Man sollte nicht vergessen, dass das ungarische Wunderteam hoher Favorit dieses Turniers war und im Halbfinale gegen den amtierenden Weltmeister angetreten ist. Zuvor im Viertelfinale spielte man gegen Brasilien, eine am Ende doch recht rüde Partie mit 3 Platzverweisen und Prügeleien noch im Kabinengang nach dem Abpfiff. In den K.O.-Spielen musste Ungarn also gegen die beiden ‚Quasi-Finalisten‘ der vorherigen WM antreten.

Für Uruguay war dieses Spiel so etwas wie der Abschied von der Weltbühne des Fußballs als große Fußballnation für sehr lange Zeit. Erst 1970 gelangte man wieder in ein Halbfinale einer WM; dies war allerdings nur ein Intermezzo, danach dauerte es wieder sehr, sehr lange. Dennoch, immer wieder erstaunlich, was diese kleine Nation an großen Fußballern und großen Nationalmannschaften hervorgebracht hat (und es noch tut).

Nochmals vielen Dank für die Analyse dieses Spiels! Auch wenn ich dieses Spiel – naturgemäß 😉 – nicht selbst erleben konnte, so hat es einfach einen mythischen Klang und es gehört zu meinen historischen Lieblingspartien (von denen es allerdings eine ganze Menge gibt…). Da geht einfach das Fußballerherz auf, auch wenn der ‚Major‘ nicht dabei war…

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Florian 7. Dezember 2016 um 10:08

Erstmal Danke für den interessanten Artikel und eure Arbeit im Allgemeinen.
Ich glaube (imho) in folgenden Absatz ist euch leider ein kleiner Fehler unterlaufen, da die Ungarn nicht die Schnittstellen neben ihrem eigenen Zentralverteidiger bespielt haben, sondern die neben Santamaria.

Für die uruguayische Elf änderte sich damit wenig. Sie gingen weiterhin offensiv vor und spielten in der Phase nach dem 0:2 immer besser die eigenen Außenstürmer frei, welche jedoch zumeist abgedrängt wurden. Ungarn derweil brachte vermehrt erfolgreich Anspiele in die Schnittstellen neben Lóránt an, wobei Uruguay keinen Block mehr vor der Verteidigungslinie aufgestellt hatte.

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CE 7. Dezember 2016 um 10:29

Das stimmt. Besten Dank.

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