Türchen 8: Napoli bricht aus dem Zentrum aus

Vor zwei Saisons war Napoli noch der leuchtende Stern am europäischen Fußballhimmel. Doch in der darauffolgenden Spielzeit schlug die Euphorie in eine handfeste Krise um. Die Rückkehr von Antonio Conte nach Italien – ein Schritt, der wenig überraschend kam – sollte der SSC Napoli den dringend benötigten Neustart ermöglichen. Und bisher scheint dieser Plan aufzugehen: Mit einem beeindruckenden Punkteschnitt von 2,38 thront das Team derzeit an der Tabellenspitze.

Napoli hat unter Antonio Conte in dieser Saison nicht nur spielerisch, sondern auch strategisch eine klare Identität gefunden. „Es geht nicht nur darum, den Gegner zu stoppen, sondern ihn mit unserem Ballbesitz zu dominieren“, erklärte Conte, der einst vor allem für seinen Fokus auf Pragmatismus bekannt war. Nun setzt das Team im Spielaufbau auf klare Muster, die den Fokus auf das eigene Agieren und das Schaffen von Lösungen legen.

Soweit, so selbstverständlich, für ein Team im Jahr 2024. Systematisch stellt sich jedoch bereits auf den ersten Blick ein spannendes Bild dar, wie die Partie gegen US Lecce verdeutlichte. Die neu formierten Mannen von Conte begannen vor heimischem Publikum ambitioniert und übernahmen die Initiative: Bei eigenem Ballbesitz schoben die beiden Außenverteidiger, Olivera auf der linken und Di Lorenzo auf der rechten Seite, aggressiv in den Raum zwischen Sechsern und offensiven Mittelfeld als Ausgangspositon. Horizontal waren sie auf die volle Breite – zur Auslinie – angeordnet und waren sozusagen der Breitengeber.

Die Doppel-Sechs des nominellen 2-4-2-2 wurde durch das enge Zusammenspiel von McTominay und Anguissa definiert. Dieses Zusammenrücken ergab sich, indem Gilmour halblinks höher agierte. Neben ihm spielte der leicht zurückgefallene und eingerückte Neres als zweiter offensiver Mittelfeldspieler. Gleichzeitig positionierte sich Ngonge als zweiter Stürmer neben Lukaku, wobei er sich eher an den äußeren Rand des Zentrums orientierte.

Der 2-4-Aufbau gegen das 4-3-3 von Lecce

In der Partie gegen Lecce kam der für diese Wochen übliche systematische Ansatz besonders exemplarisch zum Tragen. Durch die Anordnung von acht Spielern im Zentrum wurde das mannorientierte 4-3-3 ebenso kompakt zusammengeschoben. Entlang dieser Raumaufteilung bestand häufig eine Passoption, nämlich zu den diagonal abkippenden Sechsern. Diese Abkippbewegungen bildeten daraufhin eine „diagonale Verbindungslinie“ zwischen Innenverteidiger und Außenverteidiger.

Diese Linien stellen Gegner meistens vor Probleme: Denn plötzlich presst man nicht mehr -1 gegen eine enge Innenverteidigung, sondern gegen eine breite asymetrische Dreierkette. Gegen Lecce sah man eine Reaktion, die man oft in der Saison beobachten konnte: Es entstanden zwei Teile des pressenden Teams. Ein Spieler, der gewillt war, in der ersten Linie die Innenverteidiger anzulaufen, und der Rest, der versuchte, mannorientiert die anderen Linien zu verteidigen. Das Ergebnis: Die Pressinghöhe wird immer und immer tiefer, wodurch Napoli näher zum Tor kommt.

Neben diesem räumlichen Effekt ist es aber auch im Passspiel nicht wenig schlauer, dass man diese Linien dynamisch herstellt. Denn man stellt den Gegner aufgrund der extremen Breite der Außenverteidiger vor eine Herausforderung: Schiebe ich breit oder halte ich die Struktur? Auf beide Fragen hat Napoli – wie man im untenstehenden Beispiel erkennen kann – eine Antwort.

In Beispiel 1 sieht man, dass der Außenspieler die Struktur im Halbraum hält, wohl um erst beim Ballspiel des Außenverteidigers zu pressen. Dieser Handlungsstrang passiert oft intuitiv, ist hier jedoch auch suboptimal, da durch die diagonale Linie und den Passwinkel Di Lorenzo der Pass in den offenen Fuß gespielt wird. Durch den Pressingwinkel von der Seite ist der Pass diagonal einfach spielbar, sodass der ballnahe Stürmer und offensive Mittelfeldspieler in den Halbraum schieben und ein 2v1 gegen den Halbraumverteidiger bilden. Eine 1,5-Variante besteht zudem darin, dass Anguissa in diesem Fall Olivera – den ballfernen Außenverteidiger – diagonal sucht, sollte kein Gegnerdruck direkt erfolgen.

In Beispiel 2 sieht man, dass der Außenspieler mehr in Richtung Di Lorenzo zieht, sodass der Pass eher nicht zu spielen ist. Hier wird häufig der Rückpass zum Innenverteidiger gespielt, der isoliert ist, woraufhin der ballferne Sechser (hier McTominay) das Zentrum sucht, um sich vor dem Pressingwall zu lösen. Durch die Zweiteilung des pressenden Teams hat er sehr viel Raum, zudem muss Lecce hier in der Szene auch die +1-Ordnung aufgeben, um McTominay zu pressen. Gerade die offensiven Mittelfeldspieler suchen in diesen Szenen die Zwischenräume, um für das Spiel in den Druck erreichbar zu sein. Verbunden wird dies oft mit Ablagenspiel auf den durchschiebenden offensiven Mittelfeldspieler. Zudem schiebt der Außenverteidiger wieder durch, um ein 2v1 gegen den Halbraumverteidiger zu bilden.

Wenn Napoli – aus dem normalen 2-4-Aufbau heraus – mit den breiten Außenverteidigern auf gute Pressingwinkel des Gegners trifft, fehlt es im Halbraum oder in die Tiefe an Gestaltungsspielraum. Conte sprach wohl seinen Außenverteidigern aufgrund der Einzelbesetzung der Flügel ein Verbot aus, in direkte Duelle zu gehen. Dementsprechend sind die Bewegungen für die weitere Progression aus dem Zentrum essenziell.

Napoli gegen Atalantas Manndeckungen: 15. Minute

Diese Bewegungen erfolgen meist klassischerweise vom Innenverteidiger, um für Spielverlagerungen und Drucklösungen bereit zu sein, aber auch die Sechser rücken ballseitig ein. Gegen Bergamo war es immer wieder Kvaratshkelia, der diagonal in den Halbraum zog, wenn der Außenverteidiger isoliert war. Ballfern rückten die Außenverteidiger – wie hier Di Lorenzo – früh auf die letzte Linie, wodurch perspektivisch eine 2v1-Situation gegen den gegnerischen Außenverteidiger entsteht und die gegnerische Verteidigungslinie unter Druck gesetzt wird.

Napoli sucht den ballfernen Außenverteidiger gegen Bergamo –> der zentrale Mittelfeldspieler (unterer Rand) rückte zu weit ein und konnte daher Di Lorenzes Bewegungen nicht mitgehen, auch der Bergamaske Außenverteidiger rückte ein und so wurde der diagonale Passweg bespielbar

Infolge dieses Passes zu Kvaratshkelia folgt meistens eine Aufdrehbewegung vom direkten Gegenspieler weg, um in den Zwischenlinienraum zu dribbeln. Das Trio in Front agiert dabei mit offener Körperhaltung und Blick zum Ball, was das angestrebte Ablagespiel unterstützt. Besonders Kvaratshkelia beherrscht es in diesen Szenen, das Tempo zu erhöhen und so – wie in diesem Beispiel – den Gegner dazu zu zwingen, Überzahl- oder Gleichzahl-Situationen aufzulösen.

Gerade wenn ein Spieler auf eine Abwehrlinie zuläuft, muss zwangsläufig ein Herausverteidigen erfolgen, was für Napoli Räume in der Tiefe öffnet. Dabei spielt auch der ballferne Außenverteidiger – hier Di Lorenzo – eine wichtige Rolle, und diese Wege werden gezielt gesucht.

Im Spiel gegen Juventus Turin zeigte sich, dass die Rollenauslegung der Außenverteidiger eine Verbindung zwischen Direktheit und Indirektheit darstellt. Aus dem 2-4-4, das im Allianz Stadium zum Einsatz kam, schoben Olivera und Di Lorenzo bei Ballbesitz der Innenverteidiger immer wieder dynamisch deutlich höher als gewöhnlich. Gleichzeitig agierten die offensiven Mittelfeldspieler Politano und Kvaratshkelia noch breiter.

Der direkte Tiefenlauf der Außenverteidiger verfolgte zwei Ziele: Zum einen verschaffte er den Innenverteidigern einen besseren Passwinkel, wenn der gegnerische Außenspieler eng am Mann war. Zum anderen zog er den Juve-Außenspieler in die Breite, um dessen Deckungsschatten für die offensiven Mittelfeldspieler zu entfernen. Diese hatten nun die Möglichkeit, entweder in den Zwischenlinienraum zu drehen oder das Ablagespiel auf den aufgerückten Außenverteidiger zu suchen, um eine 2v1-Situation gegen dessen Außenverteidiger zu schaffen.

Napoli lockt den Außenspieler von Juve und ist auf verschiedene Szenarien vorbereitet (20.) Erklärung: Der graue Spieler ist der Außenspieler im 4-4-2 von Juve, sollte er die Breite mitgehen, denn dann wird der Pass zum offensiven Mittelfeldspieler frei.

Für das Ablagenspiel spielt auch die Rolle des Mittelstürmers eine entscheidende Rolle: Romelu Lukaku fungiert als Wandspieler für Diagonalpässe – besonders nach seinen Aufdrehen –, die er aufgrund seiner robusten Physis mit dem Rücken zum Gegner hervorragend festmachen kann. Mit seiner kräftigen Statur lehnt sich Lukaku intensiv in den Gegenspieler, wodurch dieser es schwer hat, sich um seinen Körper zu bewegen. Oft wird gezielt auf Lukakus Aufdrehbewegungen gesetzt, bei denen er sich mit offener Körperhaltung den Ball sichert und anschließend weiterspielt.

MX hat sich ursprünglich schon in früher Jugend im Positionsspiel à la Pep Guardiola verloren, doch jetzt hat ihn auch der Relationismus komplett gepackt. Seine Texte geistern auf Der-Jahn-Blog und miasanrot rum. Im NLZ von Jahn Regensburg hat er seine Spuren hinterlassen, aber seit ein paar Wochen treibt er sein Unwesen bei einem anderen bayerischen Team.

AG 8. Dezember 2024 um 07:26

Wieso sind denn Lecce und Atalanta mit nur 9 Verteidigern dargestellt? :O

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Next Generation 8. Dezember 2024 um 07:51

Also ich zähle 11? ;;)

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