Tuchel biegt krummes Ding (fast) gerade

2:2

Ancelotti findet vor dem Spiel die richtigen Anpassungen, um PSG zumindest eine Halbzeit lang zu dominieren. Tuchels Asymmetrien greifen nicht. Dafür aber eine Umstellung in der zweiten Halbzeit.


Nach dem ebenso überraschenden wie verdienten Last Minute-Sieg gegen den FC Liverpool, trat der SSC Neapel auch bei Paris Saint-Germain an, um Zählbares mit nach Hause zu bringen. Hierfür setzte Carlo Ancelotti nominell auf eine Art 4-4-2 mit Maksimovic, Albiol, Koulibaly und Mario Rui in der Viererkette. Allan und Hamsik nahmen die Sechserpositionen ein, während Callejon und Fabian Ruiz das ungleiche Außenspielerpaar gaben. An vorderster Front agierten derweil mit Insigne und Mertens die beiden kleinsten Spieler des Teams.

Paris Saint-Germain, das unter Thomas Tuchel bislang jedes einzelne Spiel in der französischen Liga gewann, hielt nominell mit einem 4-2-3-1 dagegen. In der Viererkette starteten Meunier, Marquinhos, Kimpembe und Bernat. Verratti und Rabiot bildeten die spielstarke Doppelsechs mit Neymar als zentralem Kreativspieler vor ihnen. Mbappé und Di Maria besetzten nominell die Flügelpositionen, während Cavani als Stürmer begann.

Das „falsche“ 4-2-3-1

Doch so einfach wie sich diese Ausrichtung liest, stellte sie sich keineswegs auf dem Platz dar. Im Grunde gab es höchst selten tatsächlich ein 4-2-3-1 zu sehen. Vielmehr ergaben sich durch verschiedenste Spielerbewegungen unterschiedliche Staffelungen. Wie viel davon tatsächlich geplant gewesen ist, bleibt insbesondere mit Blick auf die nach dem Spiel getätigten Aussagen höchst zweifelhaft:

„Auf diesem Top-Level dürfen wir unsere Struktur nicht verlieren, nicht so einfache Bälle herschenken“, lautete Tuchels alarmierende Analyse. „Wir müssen uns strukturell, aber auch mental verbessern. Ohne Kompaktheit gibt es keine Intensität.“ Seinen Spielern falle es „schwer, den Matchplan eine ganze Halbzeit lang zu respektieren“, sie müssten verstehen, wie wichtig es ist, die Positionen zu halten. „In der ersten halben Stunde haben wir nicht zusammen gespielt.“ Thomas Meunier gab sogar zu, dass die Mannschaft „die Anweisungen nicht wirklich befolgt“ habe.
– Aus dem „Kicker“-Bericht zum Spiel

Grobe Struktur bei Ballbesitz PSG in der ersten Halbzeit sowie häufige Bewegungen.

Einige Muster ließen sich dennoch recht klar herauslesen. Die Mittelfeldspieler von PSG fielen häufig und teils sehr weit zurück. Di Maria agierte aus der Position als nomineller Flügelspieler häufig ins Zentrum einrückend fast wie ein Achter, sodass die Ausrichtung durchaus auch als 4-Raute-2 bezeichnet werden konnte, bei Abkippen eines Sechsers ebenso als 3-4-1-2. Denn Mbappé blieb zumeist konsequent an der letzten Linie. Cavani und er sollten wohl die Viererkette binden.

Von der gesamtmannschaftlichen Struktur gibt es darüber hinaus wenig Positives zum Auftritt der Gastgeber anzumerken. In dieser Hinsicht war nur wenig von Prinzipien des Positionsspiels zu sehen. Häufig befanden sich zu viele Spieler auf einer Linie, etwa auch gleichzeitig Meunier und Mbappé oder Bernat und di Maria seitlich. Darüber hinaus war die gesamte Positionsstruktur häufig gestreckt und schwach abgesichert. Stieß man in höhere Zonen vor, erschwerte dies ein effektives Gegenpressing und Napoli hatte Raum für Konterangriffe über die beiden agilen Spitzen. Fast so, als bräuchte PSG mal einen Ankersechser (tatsächlich eine Rolle, in der Tuchel bereits sowohl Marquinhos als auch Altmeister Lassana Diarra mit überschaubarem Erfolg einsetzte).

Napoli verteidigte dagegen souverän im 4-4-2, das mit kleineren Besonderheiten ausgeführt wurde. Fabian Ruiz verhinderte mit seinem Deckungsschatten im situativ auftretenden 4-3-3 Pässe nach außen auf Meunier (oder eher: auf die Mbappé-Seite). Zudem agierten die zentralen Mittelfeldspieler gut und aggressiv im Herausrücken, nahmen immer wieder Mannorientierungen auf, die sich als zielführend erwiesen, da PSG sich eben oft nicht optimal staffelte und da etwa ein zurückfallender di Maria mit Rücken zum Tor auf diese Art und Weise hervorragend zu Ballverlusten gezwungen werden kann.

Vielversprechende Momente gab es von Thomas Tuchels Mannschaft vor allem in kleineren gruppentaktischen Situationen im zentralen Mittelfeld zu sehen. Hier konnten insbesondere Verratti und Rabiot durch Zurückfallen und Überladungen auf halblinks Gegenspieler aus der Formation ziehen und dank ihrer Pressingresistenz den Ballbesitz sichern. Die Bewegungen in die dahinter entstehenden Lücken wussten durchaus zu gefallen. Hier sah man den Spielern an, dass sie bemüht waren, sich auf unterschiedlichen Ebenen zu positionieren und gewisse Abstände oder Passwinkel herzustellen.

Insbesondere die zentrale Rolle Neymars hinter dem neapolitanischen Mittelfeld stach hierbei heraus. Er löste Situationen konstant und erfolgsstabil auf, leitete die meisten guten Momente von PSG ein. Die Statistiken dazu: 92% angekommene Pässe (nicht schlecht für jemanden, der gerne für seine vielen Ballverluste kritisiert wird und für finale Bälle zuständig ist) sowie (jetzt wird es richtig wahnsinnig) 12 erfolgreiche Dribblings bei 17 Versuchen. Napoli kam als Mannschaft insgesamt auf 5 erfolgreiche Dribblings. So was nennt man absolute Weltklasse, vermute ich mal.

Lokal bildeten die Gastgeber durchaus ansprechende Strukturen, um Neymar freizuspielen – allerdings kaum konstant genug. Hieraus entsteht natürlich eine gute Torchance.

Napoli nutzt Schwächen gezielt

Gegen den Ball konnte man das eigentliche 4-2-3-1 bei PSG erst recht kaum mehr erkennen. Auch hier gab es eine Asymmetrie zu sehen, die das Pressing eher zu einem 4-3-1-2/3-4-1-2 werden ließ. Wenngleich durchaus sinnvolle Ideen dahinter vermutet werden können, gestaltete sich die Umsetzung, wie von Tuchel selbst angemerkt, weder kompakt noch intensiv genug.

Eine Art 4-4-1-1 zeigte sich erstmals und nur situativ nach etwa 25 Minuten. Mbappé positionierte sich im Pressing ansonsten durchweg hoch an der Seite von Cavani, welcher sich im Gegenzug eher halblinks hielt. Meunier schob auf der rechten Seite ebenfalls höher und verhielt sich eher wie ein Flügelläufer denn wie ein normaler Außenverteidiger. Di Maria nahm eine vergleichbare Rolle gleichzeitig auf links neben Rabiot und Verratti ein. Bernat hielt sich tiefer und rückte erst bei entsprechenden Pässen auf den Flügel heraus.

Die beiden zentralen Mittelfeldspieler nahmen aus dieser Ausgangsposition immer wieder gemeinsam mit Neymar Mannorientierungen auf zurückfallende Spieler auf. Verratti konnte zudem auch nach außen pressen, wenn Meunier zum Zurückfallen gezwungen war. Durch die höheren Ausgangspositionen auf rechts wäre es bei guter Umsetzung möglich gewesen, Napoli von der präferierten eigenen linken Seite fernzuhalten und auf rechts, wo sich die etwas spielschwächeren Akteure befanden, zu isolieren.

Neben den eigenen Unzulänglichkeiten verhinderte auch die Grundstruktur der Gäste dies. Maksimovic, der eigentlich Innenverteidiger ist, hielt sich auf der Rechtsverteidigerposition verhältnismäßig tief und sorgte dafür, dass eine Dreierkette entstand. Lediglich für direkte hohe Bälle in Flügelzonen oder für Verlagerungen schob er situativ höher.

Statt ihm hielt Callejon die Breite auf rechts. Auf links übernahm Außenverteidiger Mario Rui diese Aufgabe, wodurch Fabian Ruiz, der eigentlich auch eher Achter als äußerer Mittelfeldspieler ist, sich vermehrt zurückfallen lassen konnte. Die beiden Sechser hielten sich näher an der ersten Aufbaureihe. Die Stürmer besetzten zunächst PSGs Innenverteidiger, konnten sich jedoch zur Unterstützung des Kombinationsspiels zurückfallen lassen. Durch die schwache Verbindung von Rabiot und Verratti zu ihrer Hintermannschaft standen hierfür in der Regel ausreichend Räume zur Verfügung.

Die offensichtlichste Schwachstelle, die auch immer wieder, vor allem nach Verlagerungen, genutzt wurde, befand sich jedoch auf der rechten Seite PSGs. Mbappé presste praktisch nicht mit nach hinten, Verratti und die Innenverteidiger wurden zentral oder höher gebunden, womit Meunier sich häufig im 1 gegen 2 oder gar 1 gegen 3 befand.

Durch diesen Raum entstand etwa der Lattentreffer von Mertens beim Stand von 0:0. Hier zeigte sich die allgemeine Schwäche der Gastgeber beim Verschieben, was es Napoli fast schon unabhängig von genauen Ausgangslagen erlaubte, Überzahlen herzustellen. Je länger die erste Halbzeit dauerte, desto passiver und tiefer verteidigte die Mannschaft von Thomas Tuchel. Über Konter erzeugten sie vereinzelt Gefahr, was eben automatisch funktioniert, wenn man Neymar, Cavani und Mbappé an vorderster Front hat und den Ball einfach mal nach vorne schlägt.

Im Laufe der ersten Halbzeit veränderte sich auch die Struktur der Gäste eher in Richtung eines 3-4-2-1/3-4-3, indem Insigne vermehrt auf die rechte Seite ging. Aus dieser Position erzielte er auch nach Pass Callejons in den Rücken von Kimpembe den Führungstreffer für die Neapolitaner.

Napolis Aufbaustruktur zu Beginn des Spiels gegen PSGs Pressing.

Das 3-2-4-1 rettet PSG

In der Halbzeit war Tuchel somit zum Wechsel gezwungen und tat dies auch, indem er auf ein deutlich klareres 3-2-4-1 wechselte. Kehrer kam für Bernat und nahm die Position des rechten Halbverteidigers ein, während Di Maria zum linken Flügelläufer wurde.

Der Formationswechsel funktionierte vor allem, weil so eine Überzahl im Mittelfeld bestand, die Neymar und Mbappé für Kombinationen nutzen konnten. Aus dieser Ausgangslage wurden zudem die Positionen rotiert, sodass etwa eine Rautenstruktur im Mittelfeld kreiert werden konnte. Im letzten Drittel wurden insbesondere die äußeren Halbräume gewinnbringend genutzt.

Die Aufbaudreierkette war zudem mit zwei Stürmern und ohne Unterstützung der zentralen Mittelfeldspieler nur schwer zu pressen. Die Flügelspieler beschäftigten sich derweil gerade zu Beginn des zweiten Durchgangs vor allem mit den weit vorschiebenden Flügelverteidigern. In der Phase um die Auswechslung von Insigne herum passte Ancelotti dagegen mehr auf ein 4-2-3-1 an, wodurch im höheren Pressing potentiell besserer Zugriff entstand, indem die beiden Halbverteidiger sowie der nächste tiefe Sechser gepresst werden konnte. Die Probleme dahinter wurden dadurch allerdings nicht behoben.

Sowohl nach Ballverlusten als auch im hohen Anlaufen zeigte sich PSG darüber hinaus nun deutlich intensiver, auch dank eines mutigen Auftritts der gesamten Dreierkette. Aufgrund von potentiell drei an vorderster Front pressenden Gegenspielern, staffelte sich die Viererkette Napolis im Aufbau nun konventioneller.

Da Mbappé und Neymar sich hier durchweg nach vorne orientierten, selbst wenn sie nicht unmittelbar Druck ausübten, bestand der numerische Vorteil in zentralen Zonen für die Gastgeber eben nicht gegen den Ball. Vielmehr konnte Napoli vereinzelt die Räume neben oder zwischen den beiden Sechsern bespielen. Aus einem der wenigen halbwegs erfolgreichen Angriffe erzielten sie auch den Treffer zum 2:1.

Thomas Tuchel nahm anschließend einige personelle Wechsel vor, ehe ganz zum Ende des Spiels der eingewechselte Diaby quasi als Linksaußen agierte, Kimpembe hinter ihm wie ein Linksverteidiger spielte und die Akteure aus dieser Ausgangslage vor allem im Zentrum enorm viel rochierten. Di Maria, am Ende in der Position des rechten Zehners, sorgte mit einem Distanzschuss letztlich für das ebenso gerechtfertigte wie schmeichelhafte 2:2.

Grobe Struktur nach der Halbzeit und eine von mehreren möglichen Rotationen auf Seiten der Gastgeber.

Fazit

Ancelotti gewann das Trainerduell vor dem Spiel, Tuchel jenes in der Halbzeitpause. Ein Unentschieden auf ganzer Linie, das PSG im Angesicht der gewaltigen Ambitionen jedoch zu denken geben wird. Die zweite Halbzeit kann dabei zwar positiv gewertet werden, doch Tuchel tut sich schwer damit, eine Ausrichtung mit optimaler Einbindung seiner Starspieler zu finden.

Von außen ist nur schwer zu beurteilen, wie detailliert seine Vorgaben vor dem Spiel tatsächlich sind. Gerade Mannschaften mit enormer individueller Qualität können oft dann auftrumpfen, wenn Spielern innerhalb ihrer Positionen viele Freiheiten offenstehen, sie jedoch implizit eine passende Rolle in passender Spielumgebung innehalten und einige allgemeine Prinzipien befolgen.

Neymar ließe sich hier aktuell als Paradebeispiel herausstellen. Tuchel stellte ihn ins Zentrum, sorgte damit wohl auch was die Position im Mannschaftsgefüge angeht für Zufriedenheit, und der Brasilianer zeigt herausragende Leistungen.

Es ist also möglich, Lösungen zu finden. Nur sollte dies der Fall sein, bevor man in der Gruppenphase der Champions League ausscheidet. Den Neapolitanern kann man hier nur ein Lob aussprechen, dass sie sowohl Liverpool als auch PSG in eine Lage gebracht haben, wo dies als realistische Option erscheint. Gruppe C bleibt die vermutlich spannendste und hochkarätigste im diesjährigen Wettbewerb.

Torsten 27. Oktober 2018 um 14:03

Danke für den Artikel! Was meint ihr, fehlt es eher am Ankersechser oder am gemeinschaftlichen Verteidigen?

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tobit 29. Oktober 2018 um 12:43

Ehrlich gesagt an beidem. Vor allem wegen der sehr offensiven Ausrichtung der AV. Theoretisch könnte man Rabiot oder Verratti da verschwenden, dann fehlt aber wieder ein zweiter Achter.
Ehrlich gesagt scheint der Mangel an gemeinsamem Verteidigen auch ein Tuchel- und nicht nur ein Spieler-Problem zu sein. Das sah man beim BVB auch immer wieder, dass einige Spieler (hauptsächlich Auba und Dembélé) defensiv systematisch unbeteiligt waren oder die Strukturen zu unkompakt und/oder passiv wurden.

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Torsten 30. Oktober 2018 um 14:30

Meinst Du er erkennt diese Schwäche von sich (also Tuchel) und arbeitet daran oder holt sich zusätzliches Know How? Hat er deshalb sein Trainerteam um Zsolt Lőw erweitert? Eventuell erklärt das die gute erste Saison beim BVB, pressen konnte die Mannschaft durch die langen Jahre unter Klopp auch ohne neue Anweisungen und er musste nur die Mechanismen für den Ballbesitz hinzufügen. Dann hätte er sich aber ein Team suchen müssen, das bereits sehr gut verteidigt und dem er nur noch Offensivstruktur geben muss … also quasi das Gegenteil von Paris SG.

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AG 31. Oktober 2018 um 09:47

Between the post (hängt mit 11tegen11 zusammen) sieht es jedenfalls so, dass er am Verteidigen arbeitet:
https://betweentheposts.net/psg-napoli-2-2-tuchel-tactical-analysis-insigne-neymar/

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tobit 31. Oktober 2018 um 16:09

Das Problem liegt für mich nicht vordergründig im Pressing. Da gibt es mit Spielern wie Neymar, Mbappé, Auba oder Dembélé immer eine eher lasche Ausrichtung, da die eben selten wirklich intelligent und gleichzeitig intensiv mitarbeiten (wollen/können). Das kennt man so ja auch von vielen anderen Topteams, würde ich also dem Trainer nicht all zu scharf anlasten.
Tuchel-spezifisch sehe ich grundsätzlich eine gewisse Präferenz zu einem inaktiven (Zentral)Stürmer, der nur recht passiv leitet und gelegentlich individuelle „brute force“ Anlaufbewegungen zeigt. Passt halt eigentlich nicht zum „klassischen“ Cavani (den ich verehre, bin da also nicht wirklich neutral), der defensiv unheimlich aktiv und laufaufwendig agiert, dabei aber gerne mal die Struktur für eigene Konter sabotiert, wenn er am eigenen Strafraum grätscht und kämpft. Dieser Cavani war aber auch in den letzten Jahren bei PSG nicht so oft zu sehen. Es könnte also interessant sein, Cavani a la Ramos auf dem Flügel zu bringen (wenn der das denn mitmacht – gibt ja mal wieder neue Napoli-Gerüchte) und Mbappé nominell in der Spitze agieren zu lassen. In breiteren Zweistürmer-Pärchen sieht das dann meist schon wieder ganz anders aus, die nutzt er aber eher, wenn er sein Team fundamental unterlegen sieht.

Wo es (sowohl in Dortmund als auch in Paris) recht große Probleme gab/gibt, ist die Endverteidigung am eigenen Strafraum. Da werden oft eher breite Strukturen mit vielen Lücken und offenen Passwegen eingenommen – wenn man denn mal so weit zurückgedrängt wird (das schafft in der Ligue1 halt quasi niemand). Gerade die Abwehr scheint oft darauf bedacht, keine Fouls zu begehen und zieht sich bei einzelnen rausrückenden Bewegungen schonmal präventiv (als Reaktion auf einen möglicherweise verlorenen Zweikampf) etwas weiter zurück als nötig – was dann den Raum vor der Kette und die Gefahr eines verlorenen Zweikampfes weiter erhöht (selbsterfüllende Prophezeiung und so). Dieses Phänomen wird natürlich durch die oft verspätet zurückkehrenden AV (und deswegen natürlich breiter aufgefächerten IV), sowie die eher aufrückende Besetzung des Zentrums bei Paris verschärft. Ein Ankersechser neben Rabiot und/oder Verratti (als Gündogan-Verschnitt, beide haben gewisse Ähnlichkeiten mit dem Ex-Borussen, sind aber finde ich etwas vertikaler in ihrer Anlage) könnte da Wunder wirken, da er eben diesen besonders gefährlichen Raum besetzen kann/soll/wird.
Insgesamt beginnt Tuchel bei PSG taktiktheoretisch wohl recht ähnlich wie beim BVB. Die individuelle Klasse ist hoch, es gibt viele technisch starke und offensiv denkende Spieler, also wird daran zuerst gearbeitet (macht Spaß, bringt die Topspieler und Fans hinter dich). Dadurch gewinnt man in der Liga recht souverän und liefert durchaus aufregende/unterhaltsame Spielverläufe. Was das angeht, ist er glaube ich ein ziemlicher Idealist und würde gerne immer so spielen. Aber ganz offensichtlich ist er auch ein pedantischer Perfektionist, der es hasst nicht das perfekte Spiel abzuliefern – also wird so lange an der Balance geschraubt, bis auch die Defensive hält. Dieser teilweise fast naive Idealismus verbindet ihn dann mit anderen solchen Trainern wie Nagelsmann, Jemez, und mit Abstrichen auch Bielsa oder Guardiola. Letzterer (oder der ihm zur Verfügung stehende Kader) ist aber meist so gut, dass er sein Ideal fast komplett durchgedrückt bekommt.
Das hat im ersten BVB-Jahr für Tuchel so perfekt geklappt, weil man im Prinzip immer individuell krass überlegen (RAM war ein geiles Sturmtrio) war und trotzdem aus einer Herausfordererposition (der sich selbst und allen anderen etwas beweisen will) agieren konnte. Bei PSG sind die Erwartungen absurd hoch gesteckt und er hat direkt eine harte Gruppe im wichtigsten Wettbewerb gelost bekommen. Das erschwert seinen Ansatz denke ich recht deutlich.
Die meisten Trainer agieren eher genau andersrum und trainieren erstmal eine stabile Defensive ein (was oft eher so mäßig funktioniert) und versuchen da dann passende Offensivstrukturen darufzusatteln ohne defensiv einzuknicken. Klappt meist eher nicht so gut (=> Hecking, Mourinho, …), außer man weiß schon von Anfang an, wie die offensive Idee aussehen soll (=> Favre, Klopp).

Ob Zsolt Löw (den ich nur vom Namen und ein paar Halbzeitinterviews von Leipzig-Spielen) kenne, da eine Hilfe oder Inspiration sein kann, weiß ich nicht. Grundsätzlich würde ich Tuchel aber auch zutrauen, diese Probleme selbst zu beheben.

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Torsten 31. Oktober 2018 um 16:58

Wow, danke für Deine Antwort in der der Länge und Tiefe! Beim nächsten Paris-spiel werde ich mal auf das Verhalten der Abwehrkette achten …

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tobit 1. November 2018 um 11:35

Gerne.
Das meiste davon basiert hauptsächlich auf BVB-Spielen, meine ich aber auch in den Stücken die ich von PSG gesehen habe (das war bisher leider Recht wenig) wiederentdeckt zu haben. In Dortmund ist das im Verlauf der ersten Saison immer besser geworden, über die zweite Hüllen wir dahingehend lieber den Mantel des Schweigens.


August Bebel 25. Oktober 2018 um 22:15

Also Neymar fand ich auch unheimlich stark. Zeigt vielleicht, dass solche Dribbelstärke in der Mitte besser aufgehoben ist als am Flügel. Super Pässe hat er auch noch gespielt. Ein oder zwei mal hat er allerdings den Ball auf seltsame Weise verloren (durch eine Art Annahmefehler), was ja mal passieren kann, aber dann nicht mal nachzusetzen, obwohl der Ball immer noch höchstens einen Meter entfernt ist, ist doch sehr nachlässig, um es freundlich auszudrücken.
Es war wirklich gut zu sehen, dass PSG die mannschaftliche Geschlossenheit abgeht, vor allem in der Defensive (Mbappe z.B.), wo mir die Abstände sehr groß und die Intensität sehr niedrig erschienen (beispielsweise auch beim Zweikampf von Verratti gegen Fabian vorm 1:2), aber auch in der Offensive wirkt etwa Cavani kaum eingebunden.
Ancelottis Umstellung auf 4-4-2 macht sich bei Napoli bislang echt gut, Insigne kommt sehr gut zur Geltung, auch (der richtig gute) Allan ist noch etwas stärker eingebunden. Insgesamt spielen sie etwas flexibler, ohne aber ihre Stärken aus den letzten Jahren einzubüßen. Und mal zu rotieren ist echt etwas, was Ancelotti Sarri offenbar voraus hat.

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