Türchen 20: Sergio „Kun“ Agüero

Kun Agüero ist ein Phänomen. Sein Potenzial ist das eines Weltfußballers. Seine Auftritte sind manchmal unbeschreiblich gut, manchmal ist er aber auch einfach nur unsichtbar. Die Karriere des heute 26-Jährigen droht eine unvollendete zu werden.

2014-12-20_Aguero_WM-Finale

Agüero wurde zur Halbzeit des WM-Finals als Angreifer neben Higuaín eingewechselt.

Ich bin ganz ehrlich. Ich tue mich mit der Bewertung von Kun Agüero schwer. Er ist absurd stark und dann doch wieder nicht. Vor der Weltmeisterschaft war ich felsenfest davon überzeugt, dass er mit den Argentiniern groß auftrumpfen würde. Agüero neben Lionel Messi, Gonzalo Higuaín und Ángel Di María. Das ist pure Offensivgewalt, die eben die Albiceleste mindestens bis ins Halbfinale bringen könnte. Irgendwie war davon wenig zu sehen. Irgendwie kamen die Argentinier sogar ins Finale. Irgendwie war Agüero kein entscheidender Faktor. Sicherlich war die Verletzung im letzten Gruppenspiel gegen Nigeria daran nicht ganz unschuldig. Doch auch sonst enttäuschte Kun. Er lungerte im linken offensiven Halbraum herum, während Messi halbrechts das Spiel an sich riss. Lange Verlagerungsbälle zwangen Agüero in Luftzweikämpfe. Die Überladungen mit Di María waren rar gesät. Im Gegenpressing passte er sich der Intensitätslosigkeit seiner Kollegen an.

Kampf der Kulturen

In unserem Heft zur Weltmeisterschaft hatten wir bereits die spezifische Spielauffassung innerhalb des argentinischen Fußballs aufgegriffen. Fútbol criollo nennt man diesen Stil, der sich vom britischen Fußball durch die Negierung von rigiden taktischen Vorgaben, schematischen Wiederholungen und mechanischen Abläufe entschieden abgrenzte.

„While the English prided themselves in a style that was grounded on collective discipline and common effort, the Creoles based their style on individualism and the lack of tactical sense.“ (Jennifer C. Pratt (2005), The role of Non-Professional Football Clubs on Latin-American Immigrants In The United States.)

Sicherlich wäre es nun zu romantisch und auch anachronistisch, um dieses Phänomen, was sich um die vorletzte Jahrhundertwende herum entwickelte, auf die heutige Zeit eins zu eins zu übertragen. Jedoch ist Kun Agüero gewiss ein Vertreter der spielerischen Freiheit. Er steht stellvertretend mit anderen Akteuren wie Messi für einen hohen Prozentsatz Individualismus, den man nicht mit Egoismus verwechseln sollte, der sich aber nicht in ein sehr striktes Korsett pressen lässt und trotzdem seine Wirkung auf einem unglaublich hohen Level entfalten kann. Ist deshalb Agüero die Antithese zu striktem taktischen Denken? Gewiss nicht. Ist es ein Grund, warum man diesen Spieler so schwer in analytischen Mustern fassen kann? Wahrscheinlich schon.

Nachdem wir vor kurzem den Stab über den englischen Fußball gebrochen haben, muss natürlich nun konsequenterweise die Frage gestellt werden, inwieweit Agüero in die Premier League und zum Team von Manchester City passt. Wenngleich manche Analysten Gegenteiliges behaupten, die EPL wird immer noch von einem bestimmten Stil geprägt, der lange Ballzirkulationen im zweiten und letzten Drittel nicht als Notwendigkeit voraussetzt. Der erwähnte fútbol criollo, was eine Art traditionelle Bezeichnung der argentinischen/lateinamerikanischen Auffassung darstellt, steht vielmehr für die Passion, dass man ständig den Ball in Besitz hat und sich um das Spielgerät kümmert. („cuidar la pelota“)

Agüero steht wie viele andere argentinische Offensivkräfte noch heute für dieses Verlangen. Man möchte nicht so schnell wie möglich den Ball wieder loswerden, sondern verspürt eine Lust an Kontakten. Hinzu kommt das bereits erwähnte freie Positionsspiel. Sicherlich ist Agüero auch in der Albiceleste in einem taktischen System unterwegs und hat dort bestimmte Zonen abzudecken. Selbiges galt für ihn in seiner Zeit beim Pre-Simeone-Atlético, für das er immerhin 230 Pflichtspiele zwischen 2006 und 2011 absolvierte. Jedoch ist der ganze Spielrhythmus ein anderer, weshalb Agüero bei den Citizens nicht selten wie ein Fremdkörper wirkt, was aber in diesem Zusammenhang nicht einmal negativ gemeint ist.

„He sometimes lacks focus and can be selfish with the ball.“ (Bewertung von ESPN FC)

2014-12-20_Aguero_Szene-City-Ajax-Freiraum

Agüero geht auf das Einrücken Samir Nasris ein und setzt sich auf die rechte Seite ab, sodass ihn Carlos Tévez im weiteren Verlauf des Angriffs anspielen kann und Agüero ins Dribbling kommt. Gruppenphase der Champions League, Manchester City – Ajax Amsterdam, 6. November 2012.

Vielleicht ist Agüero auch ganz einfach der Außerirdische bei Manchester City. Außerirdisch gut und außerordentlich anders. Seine Bewegungen abseits des Balles genauso wie mit dem Spielgerät am Fuß unterscheiden sich signifikant, wodurch er einerseits oftmals Freiräume auftut, die so nicht im Angriffsschema vorgesehen waren, oder zumindest geht der 26-Jährige sehr intuitiv auf die Bewegungen seiner Mitspieler ein. Andererseits müssen sich die anderen City-Spieler darauf einstellen, ob er nun zum Beispiel hinter der zweiten Spitze den Ball im Zwischenlinienraum verarbeitet und anschließend den Angriff von dort aus beschleunigt oder ob er infolge seines typischen Abdriftens nach links das Spielgerät weit vorn für ein Dribbling direkt in den Fuß gespielt haben möchte.

Offensives Allrounder-Kraftpaket

Wie sieht nun das konkrete Stärken-Profil des Spielers aus, an dem Mitte der 2000er Jahre auch Bayern München neben vielen anderen europäischen Top-Klubs großes Interesse hatte? Gewiss gehört Agüero vom technischen Niveau her zur Weltspitze. Beispiele sind seine Ballannahmen mit der Außenseite des rechten Fußes sowie der direkte Übergang ins Dribbling beziehungsweise ins Eins-gegen-Eins. Häufig sind diese Szenen am linken Strafraumrand zu sehen, wobei Agüero hier das Tempo sehr gut variieren kann, was bedeutet, dass er einen schnellen Pass in ein langsameres, kleinteiligeres Dribbling übernehmen kann oder aber in kleinen Freizonen beschleunigt. Durch seinen bulligen Körperbau mit rund 70 Kilogramm Körpergewicht bei einer Größe von 1,73 Meter sowie den niedrigen Schwerpunkt ist er nicht leicht abzudrängen, zu Boden zu bringen oder vom Spielgerät zu trennen. Seine Ruhe am Ball sowie einen konstant gleichwertigen Abschluss mit beiden Füßen vervollständigen das Bild des Technikers.

2014-12-20_Aguero_ManCity

Rolle in Citys 4-4-1-1/4-2-3-1

In seiner Zeit bei Atlético agierte Agüero oft an der Seite von Diego Forlan, wobei interessanterweise der Argentinier dabei schon häufiger weiter vorn positioniert war. Eine Facette, die es auch später im Zusammenspiel mit vermeintlich klassischen Mittelstürmern wie Álvaro Negredo und Edin Džeko zu beobachten gab. Nach dem Wechsel Agüeros zu Manchester City fand er sich gerade unter der Ägide von Roberto Mancini häufig als Solospitze in einem 4-2-3-1/4-4-1-1 wieder. Durch die aufrückenden Bewegungen von Nadelspieler David Silva oder Halbstürmer Carlos Tévez konnte er aber wiederum typischerweise auf eine Außenbahn ausweichen, musste jedoch für die Aufrechterhaltung offensiver Präsenz oftmals in der Mitte verharren und Bälle mit dem Rücken zum Tor verarbeiten. Simple Weiterleitungen in verengten Räumen ohne den potenziellen Zug zum gegnerischen Gehäuse sind nicht das Spiel des 26-Jährigen.

Mit der Ankunft von Manuel Pellegrini sollte City fortan häufiger mit einem zweiten Neuner an der Seite Agüeros agieren, wodurch sich für den Argentinier auch gruppentaktisch neue Möglichkeiten ergaben, weil er nicht in das simple 4-2-3-1-Angriffspiel eingebunden war. In Verbindung mit Džeko zum Beispiel konnte er von den Ablagen und Ballbehauptungen profitieren, hatte damit vielleicht nicht mehr so viele eigene Ballkontakte, brachte dafür aber seine Fähigkeiten im sauberen Abschluss wieder mehr ein. Das Zusammenspiel mit Negredo war jedoch auch sehr gewinnbringend für beide. Der Spanier war bei City des Öfteren der tiefere Part und saugte die Bälle im Zwischenlinienraum oder oftmals bei Umschaltsituationen im Loch vor der gegnerischen Abwehrreihe auf und leitete sie in die Laufwege seines Sturmpartners weiter. Beide kommunizierten fußballerisch auf einem hohen Niveau.

Abschließend sollte man noch erwähnen, dass Agüero zumindest individualtaktisch ein starker Pressingspieler sein kann. Er hat ein gutes Antizipationsverhalten für den gegnerischen Aufbau und kann folglich die Pässe sehr gut lesen und fängt dementsprechend auch das eine oder andere Zuspiel ab. Doch wie auch in der argentinischen Nationalmannschaft flackert bei City das passende Niveau im Pressing, inklusive notwendiger Kompaktheit in den ersten Linien sowie einer akzeptablen Restfeldverteidigung, nur hin und wieder auf, sodass besonders diese Stärke Agüeros nur unzureichend genutzt wird.

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Mit der Ankunft von Pellegrini nahm seine Beteiligung an der Passzirkulation ab. Dafür wurde er zumindest partiell in bessere Schusssituationen gebracht, wenngleich die Torquote stets außerordentlich hoch war. – Erstellt mit der Squawka Comparison Matrix

Steiler Weg nach oben

Der junge Agüero war immer ein Fan vom CA Independiente und nachdem er sich bei lokalen Klubs wie Loma Alegre bewiesen hatte, durfte er beim bekannten Verein aus Avellaneda anheuern. Bereits im Alter von 15 Jahren, einem Monat und drei Tagen debütierte er in einer Partie gegen San Lorenzo in der ersten Liga und brach damit Diego Maradonas Rekord. Mit der Lichtgestalt des argentinischen Fußballs sollte er von da an nicht selten verglichen werden, was durch seine zeitweilige Beziehung mit der Tochter Maradonas nicht unbedingt nachließ.

Aguero_Sergio

Goalimpact Chart (anklicken zum Vergrößern)

Mitte des letzten Jahrzehnts rissen sich bereits alle um die Dienste des Sturmtalents, der schlussendlich für rund 23 Millionen Euro zu Atlético Madrid ging und im Vicente Calderón seinen nächsten Karriereschritt unternahm. Für die Rojiblancos wurde Agüero schnell zum Schlüsselspieler und er steht in einer Reihe mit den vielen großen Angreifern, die bei Atlético in den letzten zehn Jahren unter Vertrag standen. Doch fünf Spielzeiten später sollte es ihn nach England zu Manchester City ziehen. 30 Tore in der Debütsaison sowie die entscheidenden Treffer im Herzschlagfinale gegen die Queens Park Rangers am letzten Spieltag legten den Grundstein für die Verehrung Agüeros, der innerhalb des zusammengekauften Teams eine Ausnahmestellung einnimmt. Das wurde vor kurzem wieder anhand der Reaktionen deutlich, nachdem sich Agüero eine Knieverletzung zuzog und aktuell für einige Zeit nicht zur Verfügung steht.

Doch ist damit der Höhepunkt in seiner Karriere bereits erreicht? In der Nationalmannschaft ist er seit jeher ein Mitläufer und City macht im Moment nicht den Eindruck, als würde der Klub demnächst die Champions League gewinnen. Es bleibt spannend rund um das Phänomen Kun Agüero.

P.S.: Den Spitznamen „Kun“ hat er bekommen, da er in sehr jungen Jahren oft einen japanischen Cartoon im Fernsehen sah, wo ein Höhlenmensch Laute, die wie „Kum“ klangen, von sich gab, die Sergio Agüero, bevor er richtig sprechen konnte, genauso wie die Bewegungen der Figur häufig imitierte.

Izi 20. Dezember 2014 um 16:33

Schönes Portrait eines guten Spielers!

Wenn ich mir die „Squawka Comparison Matrix“ anschaue, dann fällt mir auf, dass er in der CL und bei der WM weniger ins Passspiel eingebunden war und weniger Torchancen nutzte, dafür wesentlich mehr Pässe abgefangen hat. Wurde er da anders eingebunden (mehr Arbeit nach hinten, Rückwärtspressing) oder haben einfach nur die Gegner anders gespielt (tiefere Ballzirkulation, nicht gleich nach vorne boltzen)?

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CE 20. Dezember 2014 um 16:50

Gerade in der PL wird im Vergleich schon viel stärker gebolzt. Das konnte man vorhin wieder sehr gut beim City-Spiel gegen Palace betrachten. Besonders gegen die großen Gegner wird an flachen, kurzen Spielaufbau überhaupt kein Gedanke verschwendet. Bei der argentinischen Nationalmannschaft mussten er und Higuaín stärker nach hinten arbeiten, weil Messi vorn stehen bleiben durfte. Trotzdem täuschen die Statistiken von CL und WM sicherlich ein wenig, weil er beispielsweise in Brasilien nur 312 Minuten auf dem Platz stand und die Durchschnittswerte auf 90 Minuten gerechnet sind. Aber gerade in puncto INT könnte das schon ein Hinweis sein.

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Isco 20. Dezember 2014 um 15:54

Eins habe ich jetzt aber nicht verstanden:
Wieso hat sich Aguero denn so häufig in einem Doppelsturm höher positioniert als sein Partner?
Bei einem Spieler wie Aguero, der einen höheren Fokus auf längere Ballzirkulationen hat, sollte man doch annehmen, dass ihm eine tiefere Positionierung eher entgegenkommt, weil er da seine kombinativen Stärken besser ausspielen kann und er das Spiel „vor sich hat“, wohingegen seine Schwächen beim Spiel mit dem Rücken zum Tor nicht so auffallen.

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CE 20. Dezember 2014 um 16:32

Das überrascht sicherlich ein wenig. Die grundsätzliche Überlegung hinter dieser Rollen bestand wohl darin, dass Pellegrini Negredo als Ablagenspieler für den Zwischenlinienraum und gleichzeitig Agüeros Geschwindigkeit und Kontrolle in engen Schnittstellenräumen nutzen wollte. Beide Neuner hatten jeweils eine Seite, wobei sie auch horizontal auswichen, aber Negredo kippte zudem weiter nach hinten. Dadurch zog er oftmals noch einen Innenverteidiger, der sich nicht entscheiden konnte, ob er nun verfolgen soll oder nicht, leicht heraus. Anschließend war Agüero entweder steil anspielbar oder aber der Argentinier erhielt den Ball in den Fuß. Selbst in enger Deckung kann er da noch ins Dribbling kommen. Negredo halte ich für etwas limitiert, wenn er als Zielspieler für lange Bälle fungieren soll – und diese langen Zuspiele wollte Pellegrini auch nicht unbedingt sehen. Agüero hingegen ist nicht so gut, wenn er – selbst im Zwischenlinieraum – den Ball mit dem Rücken zum Tor bekommt.

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DonFrantic 20. Dezember 2014 um 09:34

Schöner Artikel über einen meiner Lieblingsspieler. Sogar was neues gelernt.
Gutes Geburtstagsgeschenk 😀

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PNM 20. Dezember 2014 um 18:16

Alles Gute 😉
Da lag´ich falsch mit meinem Tipp, aber toller Spieler, einer meiner absoluten Lieblingsspieler. Leider auch ziemlich häufig verletzt.
den Artikel fand´ich übrigens sehr gelungen, lässt sich gut lesen, beschreibt den Spieler sehr präzise und liefert interessante Hintergrundinformationen und Statistiken. Weiter so!

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