Türchen 5: Thimothée Atouba
Die Auftritte des Spaßvogels und tanzenden Publikumslieblings sorgten an verschiedensten Orten der Welt für so manchen metaphorischen, aber auch tatsächlichen Fingerzeig.
Beim einstigen kamerunischen Nationalspieler herrscht in vielerlei Hinsicht noch Jahre nach dem Ende seiner Karriere Unklarheit. Einerseits bezogen auf die korrekte Schreibweise seines Vornamens: Während Wikipedia in Überschriften jeweils „Timothée“ nutzt, ist dort an anderer Stelle sowie bei weiteren Quellen meist von „Thimothée“ die Rede.
Andererseits beim Blick auf eine Liste ehemaliger Mitspieler: Luis Suarez, Jan Vertonghen, Toby Alderweireld, Michael Carrick, Samuel Eto’o, Rafael Van der Vaart, Vincent Kompany und Jerome Boateng spielten mehr oder weniger lange in derselben Mannschaft wie Atouba. Zwischen all diesen (späteren) Stars wusste der Linksverteidiger stets auf seine eigene Art aufzufallen. Wieso ist das so? Und wieso wurde er selbst kein Weltstar? Am besten illustriert dies eine Episode aus seiner Anfangszeit in Basel, die auch schon viel über den Typen Atouba verrät:
Sie waren Verteidiger, dribbelten aber auch gerne. Das muss Christian Gross doch verrückt gemacht haben.
Oh ja. Am Anfang mochte er mich nicht sehr. Er schrie immer rein: „Timo!!!“, Da habe ich ihn nur komisch angestarrt und gar nichts gesagt. Das hat die anderen Spieler amüsiert. Ich habe ihm auch mal in der Umkleide vor allen gesagt, dass ich mit Irgendetwas nicht einverstanden war. Dann hat er mir mit seinem Blick zu verstehen gegeben, dass ich hier eine Grenze überschritten habe und mich in sein Büro bestellt. Dort sagte er mir: „Monsieur, Sie können mich kritisieren, aber nur im Büro.“ Dann habe ich gesagt: „Wenn Sie mir was zu sagen haben, kommen Sie doch in mein Büro.“
Warum hat er Sie nicht rausgeschmissen?
Das ist meine Natur, so bin ich. Das hat irgendwann auch der Trainer eingesehen. Als ich gegen GC als Linksverteidiger zwei Haken geschlagen habe, hat er mich noch angeschrien, ich solle den Ball besser sichern. Beim nächsten Mal habe ich dann extra stark zurück zu Pascal Zuberbühler gespielt, der den Ball mit dem Fuss nur zur Ecke dreschen konnte.
Atouba im Interview mit der Aargauer Zeitung
Der vermeintliche Risikofaktor: Dribblings in der eigenen Hälfte
Auf all seinen Stationen, seitdem er aus Kamerun in die Schweiz zu Neuchâtel Xamax gewechselt war, wurde stets genau dieser eine Aspekt seines Spiels hervorgehoben. Egal, ob in Basel, Tottenham, bei Ajax – oder eben auch beim HSV.
Aus heutiger Sicht erscheint es fast schon lächerlich, dass Dribblings eines Verteidigers in der eigenen Hälfte etwas Besonderes darstellen sollten. Vielmehr hat sich dies mittlerweile sogar zu einer gewünschten Fähigkeit bei Spielern auf allen Positionen entwickelt. Auch Verteidiger müssen unabhängig vom genauen Spielstil auf unterschiedliche Art und Weise pressingresistent sein – zum Beispiel erst recht bei Trainern, die Innen- oder Außenverteidiger ins Mittelfeld rücken lassen. Allerdings geht es auch um das punktgenaue Einsetzen des Mittels Dribbling. Genau in dieser Hinsicht wäre Atouba auch heute noch mindestens unkonventionell und für viele sogar riskant.
Denn seine bevorzugte Dribblingmethode als Außenverteidiger war es, bewusst auf einen Pressingmoment des Gegners zu warten, um ihm anschließend den Rücken zuzudrehen. Warum begibt sich jemand absichtlich in eine geschlossene Stellung und schränkt so seine Spielfortsetzung freiwillig ein?
Die Antwort könnte bei Atouba konkret auch in seiner fußballerischen Ausbildung liegen: Wie er selbst im oben genannten Interview mit der Aargauer Zeitung erwähnt, hat er das Fußballspielen auf der Straße gelernt und eben nicht in einem Nachwuchsleistungszentrum. Zudem spielte er lange auf der Position des Zehners, bei der man eben des Öfteren auch mit dem Rücken zum Feld agieren muss. Folglich schien er sich in diesen Situationen wohlzufühlen und löste sie willentlich oder einfach intuitiv selbst auch als linker Verteidiger aus. Anlocken und Auflösen in Extremform.
Hier offenbart sich einerseits seine eigene Sturheit und Überzeugung, aber auch das große Vertrauen seiner beiden hauptsächlichen Förderer Christian Gross und Martin Jol. Ohne (insbesondere im Kontext der Zeit Anfang und Mitte der 2000er) derart tolerante Trainer wäre eine Karriere als Linksverteidiger undenkbar gewesen.
Auch und vor allem in Kontersituationen verlangsamte Atouba so oft zunächst das Spiel seiner eigenen Mannschaft, indem er den Ball eben nicht einfach wie viele handelsübliche Linksverteidiger nach vorne drosch, sondern ihn erst mal bei sich behielt und wartete, bis der Gegner sich davon anlocken ließ. Er tat dies allerdings gerne auch einmal in Situationen, wo es vermutlich eine klare Anspieloption gegeben hätte. Die (vermeintlich) einfache Lösung lag dem Kameruner nur bedingt. Offensichtlich ganz zum Leidwesen seiner Mitspieler:
Danjiel van Buyten, ihr Mitspieler beim HSV, sagte einmal, dass er immer Angst hatte, wenn Sie in der eigenen Hälfte am Ball waren.
Ja. (lacht). Das hat er mir beim Abschiedsspiel von Rafael van der Vaart auch erzählt. Er hat aber auch gesagt, dass er nie begriffen hat, warum ich dabei quasi nie den Ball verloren habe.
Atouba im Interview mit der Aargauer Zeitung
Ja, warum verlor Atouba eigentlich so selten den Ball, wenn er doch vermeintlich so viel Risiko ging, dass es selbst dem Sohn eines belgischen Berufscatchers kalt den Rücken herunterlief? Man könnte es einfach auf den Punkt bringen und antworten: Gegenspieler waren auf diese Spielweise genau so wenig vorbereitet wie die eigenen Mitspieler und wussten im Zweifel auch nicht so recht, wie genau sie Atouba denn attackieren sollten.
Das hat im Detail auch mit seiner ungewöhnlichen Statur zu tun. Atouba ist 1,90 Meter groß und hat vor allem ziemlich lange Beine. Das erlaubt es ihm, geschickt seine Masse so zwischen Gegner und Ball zu bringen, das letzterer fast immer gut abgeschirmt ist. Gleichzeitig erlauben seine körperlichen Voraussetzungen ganz andersartige Richtungswechsel als etwa bei kleinen Dribblern mit niedrigem Körperschwerpunkt.
Atouba nutzte hier seine Weiträumigkeit mit überraschendem Timing. Bevorzugt setzte er hierfür noch die Sohle ein, um den Ball hin- und herzubewegen. Da der Gegenspieler ihm im Rücken hing unter der Annahme, der Ball sei leicht zu erobern, hatte er aufgrund der Nähe dann teilweise gar keinen Blick mehr dafür, wo sich die Kugel überhaupt genau befand. Dann noch abwechselnd ein paar große Schritte nach links oder rechts und die Verwirrung war perfekt.
Der viel größere Risikofaktor: Verteidigen in der eigenen Hälfte
Das, was offensiv oft von Vorteil war, konnte sich defensiv jedoch gegen Atouba wenden – vor allem wenn es um direkte Zweikämpfe ging. Diese kamen im damaligen Fußball insbesondere für Außenverteidiger in nahezu isolierter Form noch häufiger vor als heutzutage. Gleichzeitig sahen sich Außenverteidiger oft sogar einem 1 gegen 2 ausgesetzt, wenn ihr gegnerisches Pendant auch noch hinterlief – eines der bevorzugten Angriffsmittel vieler Gegner.
Durch seine langen Schritte fiel es Atouba häufiger einmal schwer, sich gegen wendige Dribbler zu behaupten, die mit hoher Frequenz agierten. Diese Gegenspieler sind außerdem oft auf den ersten Metern schnell unterwegs – ganz im Gegenteil zu Atouba, der erst mit etwas Anlauf sein Tempo richtig ausspielen konnte.
Er war darüber hinaus schließlich nicht fähig dazu, diese körperlichen Faktoren taktisch auszugleichen. Häufig verringerte er den Abstand zum Gegenspieler zu langsam und blieb in einer Zwischenposition stehen, in welcher er auch den Raum in seinem Rücken nicht effektiv abdecken konnte. Entschied er sich in solchen Momenten dann doch Druck auf den Ballführenden auszuüben, war es meist schon zu spät.
Auch angesichts der oft mannorientierten Spielweise seiner Teams, verfolgte Atouba zudem seinen Gegenspieler oft viel zu weit und in unpassenden Momenten. So kam es gerne einmal vor, dass er dem Flügelspieler abseits des Balles bis ins Zentrum hinterherlief, wo aber eigentlich schon einer der Innenverteidiger oder Sechser so stand, dass er ihn hätte kontrollieren können.
Spiel abseits der Risikofaktoren
Wohler fühlte sich Atouba hingegen in Momenten, wo er weiträumiger und durchgehend aktiver nach vorne verteidigen konnte. Hätten seine Mannschaften darauf vermehrt ihren Fokus gelegt, wären die etwaigen Schwächen im tieferen Verteidigen wohl weniger ins Gewicht gefallen. Obwohl er auch hier durchaus mit der Einschätzung von Situationen zu kämpfen hatte und nicht schnell genug zurückkam, wenn er überspielt wurde.
Das ist einer der zusätzlich überraschenden Faktoren im Spiel von Atouba. Eigentlich agierte er am liebsten aus einer etwas zurückgezogenen Position am linken Flügel. Eigentlich dribbelte er am liebsten. Doch wenn er in eine Position zum Flanken kam, schaffte er es häufig unmittelbar, den Ball so hineinzubringen, dass es gefährlich für den Gegner wurde. Dabei spielte er ihn entweder einfach scharf (hoch oder flach) möglichst in den Rücken der Verteidigung. Oder er schlug ihn in etwas zu hohem Bogen unkonventionell so hinein, dass zumindest die Einschätzung der Flugbahn sich schwierig darstellte. Ein anderer Weg, den Ball in den Strafraum zu befördern, waren seine nicht minder unkonventionellen Einwürfe, mit denen er oft dennoch eine beachtliche Weite erreichte.
Manchmal, man glaubt es kaum, schlug Atouba den Ball aber auch einfach so irgendwie weg, wenn er ihn in der eigenen Hälfte hatte – hoch und weit ins Niemandsland oder in die Höhe. Obwohl er oft hervorragende diagonale Flachpässe von Außen nach Innen spielen konnte, auch mit einem Kontakt. Und er hätte ja auch dribbeln können wie sonst, aber machte es manchmal einfach nicht. Es blieb wirklich vieles ungewiss im Spiel des Thimothée Atouba.
Ein Unikat – auf und neben dem Platz
Wenn Verrücktheit und Unberechenbarkeit Risiko bedeuten, dann ist Thimothée Atouba ein Vorzeige-Risikospieler – vor allem in Bezug auf den Fußball der 2000er. Bis auf die weiten Einwürfe standen quasi all seine Stärken nahezu im Gegenteil zum damals vorherrschenden Anforderungsprofil eines Außenverteidigers. Diese Unkonventionalität in Verbindung mit bloßen Showeinlagen machte ihn zwar nicht zu einem systematischen Vorreiter auf seiner Position aber bei Fans allerorten zur Legende.
Wobei es da noch diesen einen Vorfall in der Champions League gegen ZSKA Moskau gab:
„Als ich zur Bank ging, stand jemand aus dem Publikum auf. ‚Verdammter Affe‘, rief er. Ich hörte auch Affengeräusche von der VIP-Tribüne des HSV kommen“, rechtfertigte Atouba seinen folgenden Wutausbruch, der in einem Stinkefinger gegen die Fans endete. „Der Teammanager versuchte mich aufzuhalten. ‚Nein, scheiß auf alle‘, schrie ich. Der Schiedsrichter kam auf mich zu und gab mir eine Rote Karte (…). Am nächsten Tag wollte der Vorstand des HSV, dass ich mich bei den Anhängern entschuldige. Das wollte ich tun.“ Atouba forderte seinerseits aber ebenso eine Entschuldigung vom Verein. „Der HSV hat einen Entschuldigungsbrief für mich an die Anhänger geschrieben, aber das hat mir nicht gefallen. Wie kann es sein, dass einige Fans rassistisch gegen mich waren und ich der Einzige war, der sich entschuldigen musste?“. Zwar bedauere er seinen Ausbruch, „aber in diesem Moment war ich so wütend, dass ich nicht anders reagieren konnte.“ Am Ende unterschrieb er den Brief trotzdem. „Die FIFA gab mir keine Geldstrafe, aber der HSV. Plus eine Sperre für vier Spiele. In diesem Moment wusste ich: Ich will Hamburg verlassen. Das ist nicht fair.“
Atouba im Interview mit der niederländischen „Vice“, übersetzt von „Transfermarkt“
Aus dieser Episode lässt sich auch ablesen, wie sich Fußballvereine in den letzten Jahren in Bezug auf das Thema Rassismus weiterentwickelt haben – oder zumindest die Öffentlichkeit. Die meisten Clubs würden bei solch einem zweifelsohne rassistischen Vorfall heutzutage nicht mehr nur die Schuld beim Spieler selbst suchen. Auch ein Aufschrei in den sozialen Medien ließe wohl kaum auf sich warten. Und das völlig zu Recht. Im heutigen Fußball hätte es ein T(h)imothée Atouba in vielerlei Hinsicht vielleicht etwas leichter.
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