Das fehlende Quäntchen

0:1

Braunschweig hält über die komplette Relegation mit dem Lokalrivalen mit, vermag aber keine dominante Überlegenheit zu entwickeln. Nach desbalancierter Anfangsphase wird der VfL mit der Zeit stabiler und profitiert schließlich vom abbauenden Pressing der Gastgeber.

Mühevoll hält sich der VfL Wolfsburg mit Andries Jonker im Niedersachsen-Derby in der Bundesliga. Auch im zweiten Duell hatten die Grün-Weißen mit Eintracht Braunschweig ihre Probleme, besonders in der guten ersten Halbzeit der Hausherren. Mit Blick auf die Begegnung als Ganzes war der Zweitligist aber nicht so umfassend und stark aufgestellt, dass er den mitgenommenen Rückstand aufholen konnte.

Wolfsburg blockiert sich im Aufbau

relegation2017-braunschweig-wolfsburgStrategisch fanden die Wolfsburger – mit einem Treffer Vorsprung aus dem Hinspiel – in der Anfangsphase nicht gut ins Spiel. Sie ließen im Aufbau viel verschwendetes Potential liegen und schadeten sich mit einigen seltsamen Entscheidungen in der Passfindung. Teilweise kippten beide Sechser gleichzeitig nach außen heraus, so dass etwa Guilavogui für Knoche eher den Raum zum Aufrücken blockierte. Trotz des Rückstandes aus dem Hinspiel wollten die Braunschweiger zunächst anscheinend abwartend agieren, zogen sich also vergleichsweise weit zurück und nur selten ihr früheres, 4-1-3-2- bis 4-3-3-0-artig organisiertes Pressing – an sich eine ihrer Stärken – auf.

Anders als üblich, formierten sich zudem die beiden nominellen Stürmer nicht nebeneinander, sondern häufiger in einer versetzten Keilstaffelung mit Schönfeld hinter Nyman. So hatte Wolfsburg eigentlich mehr Raum in den seitlichen Aufbauzonen, nutzte diesen aber in den eigenen Strukturen zu ineffizient: Abwehrspieler und Sechser standen nicht ausgewogen genug verteilt. Zumal forderte gerade Guilavogui dabei zu viele Bälle. Auch wenn Braunschweig zwischen erster und zweiter Linie vertikal nicht allzu kompakt organisiert war, resultierte das seitliche Nachschieben der vorderen Akteure gegen die breite, suboptimale Anordnung des VfL in einigen hektischen Aktionen.

Zu viele lange Bälle

Überhaupt griffen die Gäste aber auffällig und eigentlich unnötig oft bewusst zum langen Ball – noch bevor es überhaupt zu Eröffnungen von den Innenverteidigern oder teilweise schon von Casteels nach vorne kam. Gerade wegen der nominell klaren Überzahl gegen die Spitze des Braunschweiger 4-4-1-1 überspielten sie so ihre Präsenzzonen und mussten als Abnehmer oft auf Gomez allein vertrauen. Insgesamt brachte Wolfsburg viele Bälle mit geringer Erfolgsstabilität und konnte so wenig Klarheit im eigenen Spielrhythmus entwickeln. Auch vom Flügel hatten sie Probleme mit der Spielfortsetzung, da die offensive Doppel-Sechs der Hausherren anfangs noch weit ballorientiert herüberschob.

Insgesamt sah man im Verschieben der Mannschaft von Torsten Lieberknecht manche unorthodoxe Staffelung ebenso wie einige sehr geschickte gruppentaktische Bewegungen. Über einzelne bogenförmige Rückwärtspressingaktionen in die seitlichen Aufbauzonen entstanden gelegentlich Ballgewinne. Aufgrund der eher breitgestreckten VfL-Struktur ergaben sich manchmal auch schnelle Verlagerungsmöglichkeiten ins Zentrum für Konter. Alternativ befand sich bei tieferen Ballgewinnen am Flügel zumindest einer der Stürmer schon in seitlicher Position, wenn er dort den Rückpassweg für den herausgekippten gegnerischen Sechser blockiert hatte.

Weiträumigkeit, weite Pässe und Bewegung bei Braunschweig

Grundsätzlich verbuchten die Braunschweiger ein Chancenübergewicht in der ersten Halbzeit, das sich wesentlich aus schnellen Angriffszügen über außen ergab – ob einzelne Konter über einen ausgewichenen Stürmer oder auch Direktattacken neben den gegnerischen Sechsern her. Grundsätzlich startete der Gastgeber aber mit zurückhaltendem Offensivspiel in die Partie: Ein wichtiges Mittel stellten wie in den letzten Spielen die langen Bälle dar, aus der hintersten Reihe oder aus abgekippten Positionen.  Das bietet sich grundsätzlich schon an, wenn das Verteidigungspersonal im Aufbau zumindest nicht herausragt und das defensive Mittelfeld von dribbelnden Offensivleuten – insbesondere Allround-Antreiber Boland macht es aber gut – besetzt ist, aber nicht von wirklichen Sechsertypen.

Dafür war die Eintracht aber in ihrer aktuellen weiträumigen Ausrichtung – auch wenn diesmal ohne solch klare Doppelspitze – nicht so kompakt wie noch zu manchen 4-3-2-1-Zeiten in der ersten Liga, schob nicht so geschlossen und überladend auf die Abpraller. Den Stil, die langen Bälle konsequent diagonal auf ausweichende Läufe zu spielen, verfolgten sie nicht gezielt genug. Trotzdem ist das Bewegungsspiel als solches generell recht gut und wirkt in offenen, unkontrolliert entstehenden Situationen als wichtige Stärke. Das Spektrum der Lieberknecht-Jungs reicht hier von den umtriebigen Stürmern bis zum ausgreifenden Aktionsradius der offensiven Sechser.

Die Flügelspieler Khelifi und Hochscheidt rückten gelegentlich ein, aber eher in tiefen Zonen und gar nicht mal – überraschend besonders bei Letzterem – so präsent. Viel mehr schienen sie zu versuchen, punktuell einen Wolfsburger Sechser zu binden und so Raum zu schaffen – durchaus mit Effekt. Im Angriffsdrittel fokussierten sich die beiden Außen dann eher auf klare, lineare und direkte Aktionen. Bei der vielleicht größten Braunschweiger Chance durch Reichel nahm Mittelstürmer Nyman eine Schlüsselrolle ein: Zurückfallend fand er Raum im Wolfsburger Mittelfeld. Von dort war Luiz Gustavo weit herausgerückt, während Guilavogui sich bei der Absicherung allein auf Schönfeld konzentrierte und den Angreifer quasi „daneben“ gewähren ließ.

Balancefragen und Grundlagen

Auch in diesem Zusammenhang hatte der VfL zu Spielbeginn also noch nicht die richtige Ausgewogenheit seiner strategischen Ausrichtung gefunden. Sie begannen mit zu starken Mannorientierungen, gerade in den angesprochenen Zentrumsbereichen gegen Schönfeld und den jeweils offensiver unterstützenden Hintermann von der Sechserposition. Insgesamt rückten die defensiven Mittelfeldkräfte der Wolfsburger recht aggressiv heraus. Leicht nach außen weichende Bewegungen Bolands versuchten sie etwas zu weiträumig über die eigenen Sechser unter Druck zu setzen anstatt sie eher über die Dichte des Blocks zu verteidigen, von der Systematik ähnlich wie beim Zurückfallen Nymans.

Im Laufe des Spiels wurde das aber immer besser: Die Wolfsburger agierten vorsichtiger, in ihren Entscheidungen balancierter, sauberer auf die Grundpositionen bedacht – alles nicht total umgekehrt, aber eben etwas passender. Auch deshalb blieben die unermüdlichen Bemühungen seitens der Gastgeber letztlich fruchtlos. Über die gesamte Relegation hinweg gesehen fehlte es an einem festen und stabilen Fundament, um sich an dessen Struktur und Abläufen „entlang zu hangeln“. Lokal und auch gruppentaktisch hatten die Braunschweiger in den verschiedenen Feldzonen immer wieder gute Bewegungen und Ansätze, aber beispielsweise kein spezifisch durchstrukturiertes Aufbauspiel und keine durchgängig laufstarke Balleroberungssystematik, mit dem man dieses Potential konstant hätte abrufen können.

Sicherungsprobleme im Braunschweiger Pressing

Als die Braunschweiger im Verlaufe der Partie etwas mehr Risiko einzugehen schienen und dafür herausrückender spielten, gerieten sie schnell in Balanceprobleme. Generell zeigten sie zuletzt im höheren Pressing lokal immer wieder gute Momente, bekamen die erste Linie aber nicht gut genug abgesichert. Problematisch zeigte sich in der Restverteidigung besonders die zu geringe Defensivpräsenz in den Halbräumen. Häufig orientierte sich das verbleibende Personal aus den Mittelfeldbereichen etwas zu scharf und schematisch genau auf die zentralen und äußeren Kanäle, verhielt sich dabei individuell und als Pärchen auch geschickt, aber nicht ausreichend untereinander vernetzt.

Beispielsweise hielten sich Boland und Omladic häufig sehr eng und kompakt aneinander, die Flügel wichen vorsichtig nach hinten, aber die horizontalen Distanzen dazwischen büßten an Beachtung ein. So ergaben sich bisweilen große Zwischenlücken und Abstimmungsprobleme für die Zugriffsfindung – Aspekte, die auch bei der ursprünglichen Einleitung des letztlich spielentscheidenden Vierinha-Tores mitwirkten. Nicht unähnlich gestaltete sich die Lage in der vertikalen Kompaktheit nach vorne: Einerseits gab es immer mal – speziell bei 4-4-2-hafteren Phasen – recht große Anschlusslücken zu den Stürmern, die mit unorthodoxen Bewegungen aber punktuell für unangenehme Rückwärtspressingdynamik oder interessante Umschaltausgangslagen sorgen konnten.

Spielentscheidung nach der Pause

In dieser Konstellation verhielten sich die Wolfsburger ambivalent: Die Ballzirkulation wurde mal mehr, mal weniger gezielt genutzt. Gegen die Zwischenlücken um die Halbräume verlagerten sie insgesamt etwas zu oft nach außen, statt jenen Weg innerhalb der gegnerischen Anordnung zu forcieren. Da die offensiver werdenden Braunschweiger aber immer weniger zügig zum Flügel nachschieben konnten, war es dort nun möglich, den Ball festzumachen und in den Ausweichräumen vor der Mittelfeldreihe für Kontrollphasen zu sorgen. Gelegentlich starteten Malli und Didavi auch kleinräumige Ansätze, die – wie schon in einigen Momenten der ersten Begegnung – die spielerische, aber strukturell noch nicht so geschärfte Klasse der Wolfsburger aufblitzen ließ: Die Wahl der Aktionen war dann schon gut, die Umsetzung noch nicht stabil.

In der zweiten Halbzeit gingen die gelegentlichen Tormöglichkeiten der Partie dann auch eher von den Gästen aus. Dass sie sich durchsetzen würden, war nach dem Seitenwechsel eigentlich zu keinem Zeitpunkt mehr wirklich in Gefahr. Alles in allem hatten die Braunschweiger über die zwei Partien gut mitgehalten und sich als unangenehmer Gegner präsentiert, jedoch ging ihnen die entscheidende Qualität ab, eine Partie ganz klar zu dominieren und mit Offensivdrang entscheidende Aktionen auch gegen einen nominell stärkeren Gegner zu erzwingen. Das Spiel mit mehr Risiko in die Hand zu nehmen, lag ihnen nur bedingt und wirkte eher problematisch. Dies unterstrich die passende Einschätzung Lieberknechts, mit einer etwas vorsichtigeren Haltung in die Partie gestartet zu sein.

Fazit

Dass Braunschweig in der Gesamtbetrachtung die bessere Mannschaft war, scheint etwas überzogen. Der sehr knappe Ausgang zugunsten des VfL war wohl gerechtfertigt, auch wenn die Wolfsburger insgesamt nicht wirklich zu überzeugen wussten und sicherlich mit der Elfmeterentscheidung aus dem Hinspiel das nötige Glück brauchten. Braunschweig gebührt großer Respekt für ihre Gesamtsaison mit starker Punktausbeute ebenso wie für die engagierte Leistung in diesen Entscheidungsspielen. Wenn man es böse formulieren wollte, könnte man abschließend sagen, dass die Probleme und Schwächen, die den Blau-Gelben in dieser Relegation den Aufstieg kosteten, symptomatisch das ansprechen, was vielen Zweitligisten abgeht.

Schorsch 4. Juni 2017 um 10:57

Eine mMn treffende Analyse. Nur mit diesem Fazit kann ich mich nicht ganz anschließen: „Dass Braunschweig in der Gesamtbetrachtung die bessere Mannschaft war, scheint etwas überzogen. Der sehr knappe Ausgang zugunsten des VfL war wohl gerechtfertigt, auch wenn die Wolfsburger insgesamt nicht wirklich zu überzeugen wussten und sicherlich mit der Elfmeterentscheidung aus dem Hinspiel das nötige Glück brauchten.“

Nach meiner Einschätzung waren beide Teams über alle 4 Halbzeiten hinweg gleichwertig. Dass letztlich Wolfsburg das bessere Ende für sich hatte, kann ich daher nicht als „wohl gerechtfertigt“ sehen.

Außerdem hat es für mich immer etwas schade, wenn eine Auseinandersetzung zweier Teams durch eine Schiedsrichterfehlentscheidung stark beeinflusst wird. Ich bin prinzipiell immer auf der Seite der Referees und es ehrt den Schiedsrichter, dass er nach Betrachtung der TV-Bilder eine Fehlentscheidung seinerseits einräumte. Über eine gesamte Saison hinweg gleichen sich solche Fehlentscheidungen in der Regel aus; in einem Finale oder in einer Entscheidung über 2 Spiele hinweg ist dies häufig genug nicht der Fall. Der Videobeweis ist hier vielleicht kein Allheilmittel, wird aber mMn einiges entschärfen.

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