Heiße Luft in Amsterdam

1:1

Louis van Gaal spielt 2014 reloaded, Deutschland bindet die Flügelverteidiger und hat Ruhe – bis zu späten Umstellungen und nachlassender Entscheidungsfindung.

Wer die dritte Amtszeit von Louis van Gaal als Bondscoach bisher noch nicht eingehender verfolgt hatte, der brauchte nicht lange, um Bekanntes zu entdecken: Im Testspiel gegen die DFB-Elf ließ der legendäre Tulpengeneral in den extremen Mannorientierungen verteidigen, die seine Teams auch schon in den Jahren unmittelbar vor seinem zwischenzeitlichen Karriereende ausgemacht hatten. Oranje spielte über den gesamten Platz in 1gegen1-Zuordnungen, natürlich torseitig ausgerichtet und ballfern jeweils etwas weniger eng, um den Anschluss an die Mitspieler nicht zu verlieren.

Typischerweise musste Blind weit gegen Müller herausgehen, der sich oft im Zentrum tummelte. In der Anfangsphase starteten Sané und Havertz im Wechsel ballfern viele Sprints hinter die Abwehr, denen de Ligt und de Jong zunächst hinterhergehen mussten, um in den Momenten dazwischen die Gegenspieler über Abstände von drei oder vier Metern tauschen zu können. Insgesamt nahmen die Mannorientierungen viel Luft aus der Partie, da sich die Niederländer in dieser Anlage auch weiter zurückziehen mussten. Es gab punktuell zwar einige sehr intensive Momente, aber dazwischen hatte die Begegnung doch vergleichsweise viele „Standzeiten“.

Auflösen über (Eck auf) Kehrer

Die niederländischen Mannorientierungen gegen die deutsche Aufbauformation

Zumal gestaltete die deutsche Mannschaft ihren Aufbau gegen diese Mannorientierungen strukturell eher zurückhaltend, ohne zu viel an der Organisation verändern zu wollen. Im Zentrum gab es manche Rochaden zwischen Gündogan, Musiala und den Offensivspielern, aber auch das Bemühen, möglichst nicht zu viel rotieren zu wollen, und weiterhin keine größeren positionellen Umformungen.

Wenn die Niederländer vorne mit den zwei Stürmern gegen die zwei Innenverteidiger standen, hielt sich vor allem der linke Angreifer – in der Regel Depay – passenderweise etwas breiter, um Kehrer als den flacheren Außenverteidiger mit im Deckungsschatten zu versperren. Das typische Vorgehen der deutschen Mannschaft lautete dagegen: Irgendwann kam im Zentrum einer der dortigen Akteure dynamisch zum Ball, bot sich an und verlagerte – häufig mit dem ersten Kontakt – nach rechts auf Kehrer heraus. Über ein solches Dreiecksspiel ließ sich Depays Position im Passweg knacken.

Nach diesen Aktionen hatte Kehrer viel Raum und konnte aufrücken. Eigentlich hätte nach der niederländischen Mannorientierungslogik Malacia gegen ihn herausschieben müssen. Das funktionierte aber aus mehreren Gründen nicht gut und nochmals deutlich weniger als im Duell von Dumfries gegen Raum auf der anderen Bahn. Zwei relativ simple Faktoren als Basis: Erstens war Kehrers Startposition flacher und daher in vielen Szenen der Weg für Malacia recht weit, so dass er es vorzog, in der Kette zu bleiben. Zweitens war er genau dazu und zu Aufgaben in der Absicherung ohnehin vermehrt gezwungen, da Blind gegen Müller die letzte Linie so oft verlassen musste.

Drittens spielte die Ausrichtung der DFB-Elf als weiterer Faktor entscheidend hinein. Das deutsche Team kam im Laufe der Anfangsphase schnell dahinter, wie man diese Aufrückräume forcieren und so den Gegner weit zurückschieben konnte – durch das Binden der Flügelverteidiger. Wechselnd wichen die Offensivspieler nach außen aus und besetzten genau den Raum vor Dumfries und vor allem Malacia. So wurden diese beschäftigt und taten sich schwerer, schnell herauszuschieben. Auf der rechten Seite war es immer häufiger Havertz, der während des Aufbaus ohne Ball nach außen wich und Malacia band. (Vom Prinzip ähnlich ließ Pep Guardiola mal gegen Roger Schmidts Pressing mit vorrückenden Außenverteidigern die Stürmer breit spielen.)

Beispiel, wie Deutschland auf den flach positionierten Kehrer öffnen konnte: Musiala kommt mit Auftaktbewegungen dynamisch entgegen und verlagert raus

Die Herausforderung, den Kehrer-Freiraum gut zu nutzen

Selbst wenn Deutschland auf diese Weise Kehrer „befreien“ konnte und phasenweise enorm leicht ins Angriffsdrittel aufzurücken vermochte: So groß die Räume auch wirken, ist es dennoch für den jeweiligen Spieler, der den Ball treiben kann, gar keine ganz leichte Aufgabe, sie auch geschickt zu nutzen. Einerseits muss man ein gewisses Tempo und Zug ins Dribbling bringen, damit der Raumgewinn auch effektiv wird – bevor die überspielten Reihen zurückschieben (hier in Person der niederländischen Stürmer weniger das Thema) und/oder der Gegner sich im Mittelfeldzentrum wieder neu orientieren und klar organisieren kann.

Andererseits darf man nicht zu schnell und hektisch vorstürmen, weil man dann leicht dazu tendiert, in die letzte gegnerische Linie „hineinzurennen“ (und ggf. die Mitspieler zu ebenfalls zu vertikalen Bewegungen zu veranlassen) statt nochmalige Verlagerungsmöglichkeiten mit einzubeziehen. Kehrer musste erst einmal die richtige Balance finden. Gleichzeitig waren die unterstützenden Bewegungen der Mitspieler wechselhaft: Erst wegzugehen und Raum zu öffnen, bevor im richtigen Moment ein Kollege kurz zum Herstellen eines 2gegen1 wieder dazukommt – das gelang nicht immer.

Die niederländischen Verteidiger wiederum agierten für ihren Teil geschickt: Sie fielen gegen Kehrers Dribblings recht schnell und vor allem geschlossen zurück, hielten die horizontalen Abstände enorm eng und rückten erst sehr spät, dann aber äußerst dynamisch auf Gegenspieler im Rückraum heraus. Die deutschen Spieler konnten sich häufig einige Schritte nach hinten ins Zentrum absetzen, hatten dann aber gegen Herausrückbewegungen fast nur noch seitliche Anspielstationen, die die Niederländer noch einigermaßen verzögern konnten. Vereinzelt kamen Spielzüge durch wie bei Sanés Chance in der Anfangsphase.

Auch das deutsche Tor gehörte dazu. Bei diesem Treffer spielte eine wichtige Komponente mit herein, die es ansonsten nur in wenigen Angriffen so gab – ergänzendes Aufrücken aus der Innenverteidigung. Nachdem Deutschland den Gegner wieder an den Strafraum gedrängt hatte und nochmal neu nach halblinks verlagern konnte, stellte Schlotterbeck einen Zusatzspieler her. Der Freiburger löste sich im Rücken von Malen nach vorne weg für den Querpass von Gündogan und besetzte einen offenen Halbraumbereich. So war der erste Ball auf Raum effektiver und dieser wiederum konnte bei seinem Rückpass in eine deutlich kontrolliertere Situation zurückspielen. Dadurch schließlich war mehr Zeit da, in denen die folgenden Bewegungen wirksam vorbereitet werden konnten – insbesondere Musialas wichtiger diagonaler Tiefenlauf.

Solche Freilaufbewegungen aus dem Rücken des Stürmers nach vorne sind für viele Verteidiger sehr unintuitiv, weil sie einer klassischen Absicherungslogik widersprechen, aber in den letzten zwei bis drei Jahren sieht man sie doch langsam mehr und mehr (siehe auch Blinds Orientierung in der einen Szenengrafik weiter unten). Im Hinblick auf die Restverteidigung konnte die deutsche Mannschaft grundsätzlich stets auf den ballfernen Außenverteidiger setzen, aber dafür war die extreme Mannorientierungsspielweise des Gegners doch unangenehm: Prinzipiell deckten Depay und Malen fast von oben im 1gegen1 und fast die Rückpasswege, blieben meistens also sehr hoch und so war es für das DFB-Team gar nicht so einfach, einer 2gegen2-Gleichzahl in der letzten Linie zu entkommen.

Höheres Vorrücken: Notwendigkeit und Risiko

Nach dem Rückstand zur Halbzeit versuchte Oranje, das Pressing etwas weiter nach vorne zu verlagern. Theoretisch hört sich das auf Basis der starken Mannorientierungen leicht an, da man nur jeden direkten Gegenspieler höher und aggressiver anlaufen müsste. Praktisch ist man aber doch von den genauen Positionen und ggf. Positionsveränderungen der anderen Mannschaft sowie deren Abständen abhängig. Tendenziell versuchten die niederländischen Flügelverteidiger höher auf Sprung zu stehen, um die deutschen Außenverteidiger früher anlaufen zu können. Auf der linken Seite wichen die Niederländer in einigen Szenen davon ab: Malacia schob nicht höher, sondern Kehrer wurde anders verteidigt, wahrscheinlich wegen der Abstände. Oft musste Depay ihn aufnehmen und Berghuis schob als nomineller Zehner halblinks in die erste Pressinglinie.

Das verstärkte nochmals die ohnehin schon erhöhte Notwendigkeit auch für die zentralen Spieler, aggressiver und weiter vorschieben zu müssen. Das gab manch kuriosem Effekt, wenn etwa de Ligt zwischenzeitlich am deutschen Strafraum verteidigte. Genau darin lag die Schwierigkeit für den Gastgeber: Wenn man höher pressen und dafür aggressiver verfolgen wollte, reichte nur ein einziger Spieler, der sich in einer beliebigen Situation doch nicht trauen würde, so weit aus seiner Position herauszuschieben – und schon wäre eine Anspielstation für den Gegner offen und das ganze Gebilde könnte in sich zusammenfallen.

Die Herausforderung für die Niederlande im höheren Pressing, alle zentralen Optionen schließen zu können (hier allerdings gegen eine der eher schlechteren deutschen Aufbaustaffelungen mit sehr hohen Außenverteidigern und dann späte, suboptimale Unterstützung von vorne) – nur möglich über weiträumiges Verfolgen der Verteidiger. Sané ist hier im ersten Moment hinter Berghuis zwar nicht anspielbar, nach Rüdigers Rückpass auf Neuer könnte sich das aber ändern. Daher muss Blind weit ins Mittelfeld rücken. Neuer verhält sich clever und dribbelt bzw. geht mit Ball einige Schritte nach vorne. Nachdem Blind Sané aufgenommen hat, versucht Havertz als weitere Option dazuzukommen. Auch er könnte die Situation potentiell auflösen. Hier reagiert Depay (tiefer gegen Kehrer) geschickt und schiebt etwas an den entsprechenden Raum heran. Als Neuer dann zum Flugball ausholt, orientiert er sich schnell wieder zurück.

Zunächst brachte die höhere Spielweise die Niederländer also nicht voran. In der Anfangsphase von Durchgang zwei blieb weiter das DFB-Team etwas gefährlicher und schien die besseren Aussichten zu haben, die Partie noch stärker zu den eigenen Gunsten zu bewegen. Nachdem die eine oder andere Torchance nicht genutzt wurde, ließ mit der Zeit aber die Entscheidungsfindung nach. Gegen die vermehrten Herausrückbewegungen des Gegners neigten die deutschen Spieler dazu, zunehmend vertikaler und hektischer die direkten Vorwärtswege zu suchen und sich schneller zum unbedachten Tiefenball auch in Situationen hinreißen zu lassen, in denen sie zuvor noch überlegter agiert hatten.

DFB-Team wird unruhiger, Oranje passt spät an

So gingen Spielanteile verloren und es entstand eine nachteilige Eigendynamik, die den Eindruck von Unruhe brachte. Nachdem von niederländischer Seite der Freiraum vor Kehrer recht lange zugelassen und nur zwischenzeitlich durch die veränderte Aufteilung zwischen Berghuis und Depay bekämpft worden war, gab es zum Ende der Partie hin schließlich noch eine größere Anpassung bei Oranje: Oft schob einer der defensiven Mittelfeldakteure (oft der eingewechselte Wijnaldum) bei Verlagerungen oder Flugbällen auf den deutschen Rechtsverteidiger dynamisch heraus und/oder stand schon auf dem Sprung.

So hatte Kehrer schneller einen Gegenspieler vor sich. Malacia (später Aké) konnte in der Abwehr bleiben und einen Offensivspieler aufnehmen. In jener Konstellation, in der Kehrer früher gestellt wurde und vermehrt kurze Unterstützung brauchte, wurde die breite Besetzung der rechten Seite für Deutschland von einem Vorteil zumindest zu einem kleinen Ballast. Der dortige Spieler konnte aus hoher Startposition nicht viel mehr machen als die nächste Gleichzahlsituation zu schaffen und hatte auch nicht die besten Winkel für eigene Aktionen, was der eingewechselte Brandt zu spüren bekam.

Wenn ein anderer Akteur aus dem Zentrum unterstützte, hatte man jeweils die Gefahr, den Raum weiter zuzulaufen. Es war keinesfalls zwingend, dass die deutsche Mannschaft jene Gleichzahlsituationen gruppentaktisch nicht auch hätte ausspielen und zu den eigenen Gunsten lösen können – sondern es war absolut möglich und grundsätzlich erst einmal mit einer theoretischen 50%-Chance, nur eben keine ideale Ausgangslage. Manchmal gelang das auch und führte noch zu manchem Ansatz, wegen der zunehmend unruhigen Entscheidungsfindung in Summe letztlich deutlich seltener, als es normalerweise zu anderen Zeitpunkten, beispielsweise einem geordneten Spielbeginn, gewesen wäre.

Niederländischer Ballbesitz gegen deutsches Pressing

Folglich kamen die Niederländer besser in die Partie und nutzten jene Phase zum Ausgleich. Daneben gab es noch den überraschend zurückgenommenen Elfmeter, aber darüber hinaus gar nicht so viele weitere größere Chancen. Exemplarisch wurden in den beiden Szenen die wichtigsten Elemente des Spiels der Elftal im eigenen Ballbesitz: Viele Flug- und Diagonalbälle einerseits, wie bei der Verlagerung de Jongs auf den zurück köpfenden Dumfries vor dem 1:1, und kleine lokale Pärchen- oder Dreiecksbildungen, die schnell ausgespielt wurden, andererseits.

Auf diesen zwei Säulen ruhte der Ansatz der Niederländer über das gesamte Spiel hinweg, in den unterschiedlichsten Zonen des Feldes, ob im Umschalten oder aus dem Aufbau heraus. Stilistisch erinnerte das sogar recht stark an die Ausrichtung der WM 2014 – allerdings in aufgepepptem Gewand, da einfach besser und zielorientierter ausgeführt. Während van Gaals letzter Amtszeit als Bondscoach hatte Oranje über eineinhalb Jahre hinweg auf dem Weg nach Brasilien seinerzeit im 4-3-3 immer wieder viele gute Ansätze. Beim Turnier selbst waren Aufbau- und Ballbesitzspiel aus einer 3-4-1-2-Grundordnung dagegen ein großes Problemfeld und schon in der grundlegendsten Basis unsauber – bezüglich der Struktur als solcher wie auch bezüglich der Qualität der reinen Ballzirkulation.

Die Problematik hatte sich damals bis in van Gaals anschließende Zeit bei Manchester United weitergetragen, in der aktuellen Phase als Bondscoach setzt sie sich nicht mehr fort. Gegen Deutschland blieb Oranje in der Spieleröffnung vom Torhüter aus aber zumindest nicht frei von Problemen. Gegen die niederländische Dreier-/Fünferkette konnte das deutsche Team mit vier Offensivspielern (zwischen 4-2-3-1, 4-2-1-3 und 4-2-2-2) immer aus Zwischenpositionen zwischen den fünf nominellen Abwehrspielern das Anlaufen starten. Auf dieser Basis war es auf verschiedene Weisen möglich, flexibel und asymmetrisch in 3gegen3-Gleichzahlsituationen zu schieben und den jeweils ballfernsten Akteur immer zusätzlich auf dem Sprung zu den gegnerischen Sechsern zu haben.

Eine frühe Pressingszene des deutschen Teams: Müller schiebt hier ballfern ein und Werner kann auf einen Rückpass hin ins Anlaufen starten (worauf Oranje kurz nur über van Dijk noch lösen könnte, der darin aber unsauber agierte), die Doppel-Sechs enorm kompakt ballseitig, Außenverteidiger schiebt ballnah bei Bedarf hoch

Damit hatte das deutsche Team mehr Handlungsmöglichkeiten gegen den Ball als der Gegner auf der anderen Seite und einfacher die Möglichkeit, überhaupt im vordersten Drittel zu verteidigen. Es konnte schneller reagieren und kam insgesamt auch zu einer – im Verhältnis zur kurzen Trainingszeit im Nationalmannschaftskontext – soliden Umsetzung. Auch aus dieser Perspektive trug der Unterschied der Pressingspielweisen entscheidend dazu bei, dass in Halbzeit eins die Spielanteile stärker auf deutscher Seite lagen. Gelegentlich konnte sich de Jong gegen 4-2-1-3-Staffelungen seitlich neben den Zehner absetzen. Ansonsten gab es viele schnelle Rückpässe auf Flekken, der letztlich oft mit Flugbällen auf die Flügelverteidiger neu zu eröffnen versuchte.

Extremes Auffächern schafft (nur) Ballsicherung

Nach kurzer Zeit begannen die Niederländer mit verschiedenen Umformungen: Unter anderem ging Blind zwischenzeitlich weiter ins Mittelfeld nach vorne, Malacia bewegte sich flacher, um kürzer anspielbar zu werden, und teilweise ging Depay währenddessen früher nach außen. Vor allem das extrem breite Herauskippen von Koopmeiners rechts zwischen den weiterhin auffächernden de Ligt und den außen bleibenden Dumfries oder gar zwischen de Ligt und van Dijk nahm mehr und mehr eine Schlüsselrolle an. Die Niederländer schienen darauf abzuzielen, die Struktur möglichst großräumig anzulegen und möglichst viele Spieler um den deutschen Block herum zu positionieren.

Gleichzeitig gab es die Vielzahl an möglichen Umpositionierungen, die jeweils dazu zwangen, sich neu zu orientieren. Im Verbund machten diese Faktoren es dem deutschen Team zunehmend schwieriger, durchgehenden Zugriff in der ersten Linie zu schaffen. Punktuell entstanden weiterhin gute Pressingmomente auf den gegnerischen Keeper, aber gegen das enorme Auffächern und das Andeuten statischer Flugbälle wurde es kaum praktikabel, jeden Querpass und jede Verlagerung zuzulaufen. Die Anzahl der Szenen, in denen Deutschland sich um 10 bis 20 Meter zurückziehen musste, nahm zu. Die niederländische Ballbesitzstruktur funktionierte zumindest insoweit gut, dass sie dem Gegner den Zugriff in der vordersten Linie wegnahm – aber eben hauptsächlich dort.

Selten entstand aus entsprechenden Szenen mehr als ein kleiner Raumgewinn. Die Niederländer konnten dem gegnerischen Druck entweichen, den Ball sichern und vielleicht einige Meter aufrücken – aber selten brachten selbst das weite Herauskippen von Koopmeiners und die verschiedenen Flugbälle mehr als das. Diese Umformungen im Aufbau sorgten erst einmal dafür bzw. waren insoweit „erfolgreich“, gegnerische Vorteile zu verhindern oder zu neutralisieren, aber sie wirkten nicht so weit, dass sie klar eigene Vorteile brachten. Sie stellten gewissermaßen eine Pattsituation her, reduzierten Druck und dienten vor allem der Ballsicherung.

Gute niederländische Ansätze in Anschlussaktionen von außen

Kurz gesagt: Jenseits dieses Effekts der Ballsicherung produzierte der Aufbau der Niederländer kaum Situationen, die wirklich klares und vielversprechendes Potential für Angriffe hergegeben hätten. Um nach vorne zu kommen, musste Oranje statt auf die Qualität der Ausgangslage – also die größere Struktur als Grundlage – auf das gruppentaktische Verhalten der Beteiligten setzen.

Weiterer und „offensiverer“ Raumgewinn gelang dann einige Male in den Folgemomenten, da die Niederländer auch gute Ansätze zeigten, wenn es darum ging, von den Flügelverteidigerpositionen (bzw. allgemein nach Verlagerungen) Anschlussaktionen herzustellen.

Berghuis nach einem Ballgewinn ausweichend, um den Ballbesitz zu sichern: Aus der Dynamik haben sich die Positionsbesetzungen vertauscht; im Grunde ist Berghuis in dem nun folgenden Ballbesitzmoment praktisch in der Position des Flügelverteidigers (Malacia), Malacia in der des Halbverteidigers (Blind) und Blind in der des Sechsers (de Jong). Blind verhält sich dann auch stellvertretend so: Mit dem erneuten Pass zurück auf den Flügelverteidiger (hier eben Berghuis statt Malacia; von dem Raum her gesehen, in dem er sich bewegt) löst er sich zentral als Anschlussoption in den Raum. Genauso kommt Depay in dem Moment als diagonale Option ins Mittelfeld.

Zum einen betraf das die ballführenden Spieler: de Ligt hatte beispielsweise beim Andribbeln einige Male ein hervorragendes Timing für den Moment des Tiefenballes, wie vor der gefährlichen Szene mit Malen zu Spielbeginn. In jener Aktion glänzten zudem die gegenläufigen Bewegungsmuster der Angreifer, die gut trainiert wirkten: Die beiden formierten sich vor dem Lauf eng aneinander und lauerten in kurzen Abständen auf den Sprint in die Spitze. So stellten sie die Verteidiger vor eine Aufgabe in einer Szene, in der eigentlich von vornherein klar, dass nur genau jene Aktion ein gefährliches Mittel für den Durchbruch würde sein können – letztlich aber mit der Frage, wer von beiden wie den entsprechenden Weg machen würde.

Malacia tat dem niederländischen Spiel mit seiner sauberen Orientierung in der Diagonalen sehr gut. Er erkannte schnell die vorhandenen Räume und Wege ins Mittelfeld hinein und befand sich dadurch in verhältnismäßig günstiger Ausgangsposition, sofern er außen im 1gegen1 von Kehrer oder einem Offensivspieler gepresst wurde. Wenn sich de Jong als kurze Anspielstation anbot und ein entsprechender Pass umsetzbar war, ergriff Malacia ziemlich zuverlässig solche Gelegenheiten. Auf jener Seite unterstützte Depay zudem gut, indem er sich gegenläufig diagonal zum Ball zurückfallen ließ, oft in kleine Zwischenräume des deutschen Mittelfelds (hierzu eben die Szenengrafik oben).

Zum anderen kamen, wie in einem solchen Fall, die kleinen Pärchenbildungen ins Spiel. Die niederländischen Offensivkräfte sorgten an unterschiedlichen Stellen für kleine Ballungen, die sie mitunter attackierend bis riskant ausspielten – ob einer der Stürmer in direkter Nähe zum Flügelverteidiger, beide Stürmer eng im Zwischenlinienraum oder einer von ihnen im Duett mit Berghuis überladend auf einem der Flügel. Diese kurzen, lokalen Engenbildungen bieten für die ersten Momente nach Verlagerungen, solange der Gegner noch nicht komplett hat nachschieben können, hohes Potential: Man lockt damit die unmittelbaren Gegenspieler an, vergrößert so die Anschlussräume zum Rest und kann sich dynamisch genau dort hinein lösen, um den Spielzug wieder zu beschleunigen.

Spielerqualität hilft van Gaal(s Spielweise)?

In diesen Szenen stach Depay auch individuell gesehen hervor und setzte damit fort, was er schon letzten Sommer bei der EM gezeigt hatte. Wenn er von den Flügelverteidigern im Zentrum oder Halbraum angespielt wurde, konnte er im Zweifel auch über Einzelaktionen den Übergang in die Spitze herstellen. Seine Vorlage zur Großchance von Malen stand beispielhaft dafür – beeindruckend, wie bruchlos und dynamisch er nach dem wegspringen Ball im Duell mit Gündogan aus der Bewegung zum Ball direkt einen dann enorm scharf gewichteten Pass anschließen konnte.

In diesem Zusammenhang noch eine letzte kleine Hypothese, warum Elemente von van Gaal‘schem Offensivspiel momentan vielleicht etwas besser funktionieren als „früher“: Wenn man auf die vergangenen Jahre zurückblickt, dann war es rein gruppentaktisch in van Gaal-Teams eigentlich oft so, dass viele Spieler eine gute Zwischenraumbesetzung entwickelten (nur bei United dann weniger; in der vorigen Amtszeit als Nationaltrainer zumindest wechselhaft; bei Bayern seinerzeit aber für die damaligen Verhältnisse ziemlich ausgeprägt; bei AZ davor ohnehin).

Daraus entstand damals ein relativ geringer Effekt. Heute gibt es viel mehr Spieler, die einerseits viel selbstverständlicher in diesen Bereichen zurechtkommen – auch unter Druck und/oder in suboptimalen Situationen – und die andererseits selbstverständlicher die Orientierung auf diese Bereiche haben und sie vor allem selbst dann halten, wenn eine Isolation droht. Dementsprechend bekommt man einzelne gute Bewegungen in Zwischenräume hinein auch aus einer vergleichsweise breiten, festen Positionsstruktur ganz automatisch öfter und besser angespielt und genutzt.

Fazit

Wegen der enormen Mannorientierungen (und der dadurch erzwungenen passiven Strategie) der Niederländer verlief der Klassiker zwischen den Nachbarländern (gefolgt von einem post-match-Spektakel, das Unterhaltung bot) letztlich in vielen Phasen recht unspektakulär. Vor acht Jahren erreichte die van Gaal‘sche Elftal bei der WM mit genau dieser Defensivlogik (und damals noch weniger Qualität bei eigenem Ballbesitz) immerhin einen dritten Platz, aber dafür musste auch sehr vieles günstig zusammenlaufen. Ob man sich noch einmal darauf verlassen kann, scheint zumindest fraglich – und es war eben vor acht Jahren.

Aus Sicht der deutschen Mannschaft lässt sich aus dieser Partie vielleicht gar nicht so viel mitnehmen, weil die Spielweise des Gegners so extrem angelegt, damit auch eher bedingt „repräsentativ“ ist und man in der großen Mehrzahl der Partien doch auf andere Art und Weise gefordert sein wird. Insgesamt war es ein ordentlicher Auftritt des deutschen Teams. Die Ausweichbewegungen der Offensivakteure zum Binden der gegnerischen Flügelverteidiger stellten ein gutes Element dar, mit dem die DFB-Auswahl in Halbzeit eins passend auf den Gegner reagierte.

Hansi Flick dürfte optimistisch stimmen, dass sein Team im Pressing die in Phasen enorm weiträumige Aufbaustruktur des Gegners doch einigermaßen gut überstand – angesichts dessen, dass sein Bayern-Team Probleme am ehesten gegen massives Verlagerungsspiel im zweiten Drittel hatte. Allerdings dürfte dies auch daran gelegen haben, dass Deutschland letztlich doch zu selten – dank der ausgeprägten Möglichkeiten, sich im eigenen Ballbesitz auszuruhen – auf Mittelfeldhöhe verteidigen musste, als dass sich das Thema wirklich hätte auswirken können. Wenn es doch passierte, dann brachten die Niederländer im zweiten Drittel ihre Verlagerungen gar nicht immer so dynamisch und attackierend an. Gleichzeitig spielt man im Nationalmannschaftsumfeld dann doch nicht so aggressiv und auch nicht mit so hoher Linie auf Abseits, wie das der FCB als Vereinsteam mitunter tat.

tobit 10. September 2023 um 18:19

So, Flick ist Geschichte. Nach einer völlig verkorksten letzten Umstellungspatrone.
Die Idee Arsenal zu kopieren fand ich für das Spielermaterial eigentlich ganz gut, nur war sie an vielen Stellen zu inkonsequent. Kimmich hätte noch klarer vor, Schlotterbeck klarer in die Abwehr gemusst. Bei letzterem passte aber auch die Ausrichtung der Spieler vor ihm so gar nicht. Gnabry stand die ganze Zeit zu eng und zu hoch, auch Gündogan hätte sich angesichts von Can statt Rodri/Rice/Jorginho öfter tief anbieten müssen. So war man viel zu leicht festzunageln und kam nur über Geniestreiche von Wirtz oder Sané mal in gute Angriffssituationen.

Mal schauen, wie Völler am Dienstag das unausweichliche 4-4-2/4-2-3-1 besetzt und wie viel heftiger die Klatsche gegen Frankreich ausfällt.

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Ibou 10. September 2023 um 21:34

I remember seeing some unease (which I shared) about how the exact integration of Havertz would work into Arsenal’s system. A lot of criticism of the purchase remains and a lower level of fluidity than last season, but how do you see it now after a few games?

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WVQ 10. September 2023 um 22:25

Arsenal seit Arteta so gut wie gar nicht gesehen, was machen die denn?

Das gestern… Ich kann’s immer noch gar nicht glauben. Wie kann es denn auf Nationalmannschafts-Niveau passieren, daß ein „einrückender“ RV teilweise bis in den linken Halbraum durchzieht und dies von allen anderen Spielern exakt null kompensiert wird? Ich meine, wenn man Kimmich so verwenden will, dann macht doch gerade bei drei gelernten IV in der Formation ein 3-2-Aufbau Sinn… Quasi dann als City-Kopie mit Kimmich à la Cancelo. Aber die Kette hat ja nicht einen Millimeter nach rechts verschoben, vielmehr schob Schlotterbeck im Aufbau einfach standardmäßig ein Stück hoch, Can ist Kimmich quasi nur nach links/vorne aus dem Weg gelaufen, Gündogan auch, Wirtz sollte wohl auch hoch bleiben, Sané sowieso, und der RV-Raum blieb einfach komplett leer… So eine schlimme taktische Idee habe ich ja im Profifußball überhaupt noch nie gesehen.

Und das Verrückteste war noch, daß Japan (jedenfalls ab der 20. Minute, als ich eingeschaltet habe) nicht mal etwas draus gemacht hat, der Spielverlauf vielmehr von der so oder so bestehenden deutschen Unfähigkeit zu strukturiertem Offensiv- und Defensivspiel bestimmt war und das einzige deutsche Tor überdies noch ausgehend von Kimmich auf halblinks gefallen ist. Dachte echt, ich bin im falschen Film…

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Koom 11. September 2023 um 12:00

Gerade das Spiel gegen Japan zeigte viele Probleme auf, dass tatsächlich die vielbeschworenen Basics fehlen. Und das würde auch kaum ein anderer Trainer hinbekommen, weil diese Basics eigentlich in Vereinsarbeit geregelt werden sollten. Es ist erschreckend, wie schlecht Dortmund und die Bayern dabei sind, sich ballorientiert zu verschieben, Dreiecksbildung durchzuziehen auf dem Feld, einen Mitspieler abzusichern, auch Gegenpressing ist ganz furchtbar geworden.

Tuchel repariert bei den Bayern immer noch und kriegt es gaaanz langsam hin, aber das wirkt fast so, als ob die Guardiola-Bayern einen schweren Autounfall hatten und jetzt in Reha versuchen, überhaupt wieder laufen zu können.

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WVQ 11. September 2023 um 15:28

Grundsätzlich hast Du schon Recht (auch wenn die Probleme der Nationalmannschaft weiter darüber hinausgehen), aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Nummer gegen Japan auf das Konto einzelner Spieler ging. Womöglich hat Kimmich es mit dem Einrücken tatsächlich übertrieben, aber selbst wenn er nur in den rechten Halbraum eingerückt wäre (wie man es von so einer Variante üblicherweise erwarten würde), hätten die drei Abweherspieler trotzdem nach rechts verschieben müssen, und DAS muß vorher klipp und klar eine Ansage des Trainers und überdies wenigstens in einem kleinen Trainingsspiel einstudiert sein. Aber das sah ja aus, als hätte Flick einfach Kimmich pauschal gesagt, daß er im Ballbesitz auf die Sechs geht… und allen anderen nichts!

War letztlich wie gesagt für den Spielverlauf nicht mal entscheidend, aber es exemplifiziert meines Erachtens, welche taktische Rat- und vielleicht sogar Ahnungslosigkeit da zuletzt bestanden hat. Man vergleiche das (von den Flick-Bayern mal ganz abgesehen) mit den ersten Spielen unter Flick, als es eine grundsätzlich ähnlich komplexe Umstellung in Ballbesitz gab (mit Hofmann, der von RV auf RA aufgerückt ist), und da sah das im kollektiven Verschieben alles weitgehend sauber aus. Ich wüßte wirklich zu gern, was sich seitdem verändert hat, denn das Potential war im Trainerteam (und in der Mannschaft) ja offensichtlich da.

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Taktik-Ignorant 14. September 2023 um 19:27

Das ist in der Tat das Seltsame: die taktischen und spielphilosophischen Neuerungen, auch die kleinen Dinge wie das Trainieren von Standards mit einem Spezialisten, funktionierten in den ersten Spielen. Seit gut einem Jahr funktioniert gar nichts mehr, und das kann nicht nur an stärkeren Gegnern liegen. Ich sehe da vielleicht atmosphärische Ursachen, aber da sollten Profifußballer eigentlich drüber stehen.

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Taktik-Ignorant 15. September 2023 um 00:00

Ergänzung: „in den ersten Spielen unter Flick“.

Daniel 11. September 2023 um 09:43

Bin mir gar nicht sicher, ob es gegen Frankreich so eine heftige Klatsche gibt. Wenn Völler einigermaßen vernünftig an die Sache rangeht parkt er den Bus und versucht gar nicht, irgendeine Form von Spielaufbau zu betreiben. Und so ein ausgefeiltes Ballbesitzspiel hat Frankreich dann auch nicht, um das auseinanderzuziehen. Ich könnte mir vorstellen, dass das eher total unansehnlich wird als ein französisches Schützenfest (was aber natürlich schon auch passieren kann)

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Koom 11. September 2023 um 12:02

eine Klatsche gegen Frankreich wird vermutlich sehr viel mehr von Frankreich als von Deutschland abhängen. Gegen Japan war das doch schon eine relativ defensive Aufstellung mit 2 Sechsern + einrückendem Kimmich, dahinter 3 Innenverteidiger. Das war schon die Bollwerk-Lösung und man fing sich von Japan gleich 4 Stück.

Frankreich ist oft einfach zufrieden, nur zu gewinnen. Das wird vermutlich auf ein 0:2 rauslaufen, Deutschland wird viel wertlosen Ballbesitz habe und kaum nen Torschuss schaffen.

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tobit 11. September 2023 um 15:18

@Ibou
Havertz as a Xhaka-successor makes no sense to me. He should mainly play (f)9 or 10, but Arsenal have enough good players for those positions. So it would have made more sense for them to got for Kovacic or Bellingham or maybe even Caicedo to replace Xhaka.
They already looked less fluid in spring when they had to rotate more due to injuries. So it isn’t surprising that this continues with even more new faces in the squad.

@WVQ
Arsenal spielt basically Peps Cancelo-Variante. Letztes Jahr meistens mit Zinchenko als falschem LV, dieses Jahr auch oft mit Partey von rechts (nachdem er auf der Sechs von Jorginho und Rice verdrängt wurde).
Die Positionierung von Süle sieht leider in jeder 3er-Reihen-Variante so aus. Der steht immer zu eng, wenn er nicht nominell als RV beginnt. Ist halt als zentraler IV auch besser aufgehoben mMn. Rüdiger als ZV steht dafür immer zu hoch und blockiert den Passweg zwischen den HV (was auch die bessere Position für ihn wäre). Schlotterbeck war dann das deutschlandtypisch auf LV alleingelassene arme Schwein.

@Koom
Jop, der Unterschied bei der Passgeschwindigkeit war mal wieder erschreckend. Das war ja schon unter Löw ein Problem, aber da fiel es nur gegen Teams wie Spanien wirklich auf. Flick hatte es am Anfang eigentlich ganz gut hinbekommen, aber dann ist man 2022 (nach dem Italienspiel) ganz komisch abgebogen.
Personell könnte man es als Bollwerk-Lösung bezeichnen – nur strukturell war es das nicht. Gündogan hat 1zu1 seine City-Rolle als „verspäteter Zehner“ gespielt und Schlotterbeck war ein offensiver Flügelläufer.

@Daniel
Völler kann mit diesem Team aber nicht den Bus parken.
1. hat er (oder sein Trainerteam) nicht den Skill, das in zwei Einheiten gut einzuüben.
2. sind die Spieler dafür individuell überwiegend ungeeignet.
3. ist Frankreich gut genug, auch gegen gut eingestelltes Busparken (was wir nicht hinkriegen) deutlich zu gewinnen. Klar werden die wahrscheinlich kein Feuerwerk a la Spanien (6:0) abbrennen, aber die individuelle Klasse wird reichen um die unausweichlichen Fehler der Deutschen (egal ob beim Busparken oder einer anderen Strategie) wesentlich effektiver zu bestrafen als Japan das konnnte.
(4. kann er sich unausweichlich unerfolgreiches Busparken medial nicht leisten, weil es nicht dem Anspruch an „Die Mannschaft^(tm)“ entspricht. Dafür hat er persönlich Flick zu lange geschützt, offenbar ja auch gegen eine Mehrheit im DFB.)

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WVQ 11. September 2023 um 15:54

> Arsenal spielt basically Peps Cancelo-Variante.

Ja, das hätte dann gepaßt und ich hätte es für die aufgestellten Spieler ebenfalls recht passend gefunden… wenn es auf dem Platz auch nur annähernd passiert wäre.

> Die Positionierung von Süle sieht leider in jeder 3er-Reihen-Variante so aus. Der steht immer zu eng, wenn er nicht nominell als RV beginnt. Ist halt als zentraler IV auch besser aufgehoben mMn. Rüdiger als ZV steht dafür immer zu hoch und blockiert den Passweg zwischen den HV

Das mag alles sein, aber es WAR ja gar keine Dreierreihen-Variante; es war eine Vierrerreihe, bei der einfach der RV fehlte! Was Du beschreibst, wären Mängel in der Umsetzung, aber ich habe einfach keine Umsetzung gesehen. Süle, Rüdiger und Schlotterbeck standen alle exakt da, wo sie standen, wenn Kimmich die RV-Position besetzt hat.

Von/unter Völler gehe ich jetzt auch davon aus, daß die Maßgaben einfach Reinhängen, Zweikämpfe gewinnen, Verausgaben etc. sein werden. Die einzige offene Frage ist in meinen Augen, ob vielleicht Wolf oder Wagner es irgendwie vermittelt bekommen, daß man im Aufbau nicht fünf bis sieben Spieler in der letzten Linie parkt, sondern den Zwischenraum besetzt – ein paar Positionsjusteíerungen schienen mir so ziemlich das einzige, was man unter den gegebenen Voraussetzungen durch bloße Ansage versuchen könnte und was nicht nur dem Aufbau, sondern auch der defensiven Stabilität und dem „Gegenpressing“ helfen könnte. Selbst das unwahrscheinlich, aber ansonsten würde es einer sowieso vollends verunsicherten Mannschaft nichts bringen, irgendwelche größeren Neuerungen aufgetragen zu bekommen.

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tobit 11. September 2023 um 18:14

Süle hat sich auch 2021 in den guten Spielen genau so positioniert. Der spielt wirklich einfach immer so, wenn er RIV ist, egal wie die Ausgangs- oder Zielstaffelung ist.

Ansonsten gebe ich dir komplett recht: außer Kimmich, Sané und Wirtz (+tlw. Havertz und Gündogan) hat die Umsetzung schlicht nicht stattgefunden. Und außer Kimmich haben die halt alle einfach ihren normalen Stiefel gespielt, also wahrscheinlich auch keine angepassten Aufgaben gehabt.

Schlotterbeck will ich hier aber ein bisschen entschuldigen, der hat hauptsächlich als Reaktion auf den Mist vom Rest (insbesondere Gnabry) so hoch und breit gespielt. Sah man dann auch in der zweiten Halbzeit: Da haben er und Gosens viel tiefer gespielt, weil Gnabry und Schade mehr breit geblieben sind.

WVQ 11. September 2023 um 20:17

Werde Süle diesbezüglich nochmal genauer beobachten. Magst grundsätzlich Recht haben, aber so extrem ist es mir noch nie aufgefallen. Das offensichtliche Gegenbeispiel wären in meinen Augen tatsächlich die ersten Flick-Spiele, in denen er zumindest mal wirklich in einer HV-Position gelandet ist und nicht weitgehend exakt auf der ursprünglichen IV-Position blieb. (Daß das damals kein komplettes Durchschieben war, war ja in dem Fall nur gut, da Kehrer so in die günstige Position als HV-/6er-Hybrid gelangte.)

Grundsätzlich kann der AV gegenüber vom einrückenden AV natürlich nur insoweit verschieben, als es seine beiden Nebenmänner zulassen, und dasselbe gilt für die vertikale Positionierung in Bezug auf den AS bzw. ggf. zentrale Spieler. In dem Sinne war Schlotterbeck gestern wohl tatsächlich chancenlos. Aber am Ende lief es einfach darauf hinaus, daß eigentlich nur Kimmich ins Zentrum gezogen ist und alle Reaktionen darauf waren höchstens von ausweichender Natur. Sané und Wirtz würde ich da auch überhaupt nicht rausnehmen; beide hätten ja das riesige rechtsseitige Aufbauloch nach Kimmichs Einrücken zumindest notdürftig füllen können, entweder durch eine tiefere, breitere Positionierung von Wirtz im Halbraum oder eine tiefere von Sané auf dem Flügel, aber das habe ich auch beides nicht gesehen. Wie gesagt: Sah aus, als hätte einfach niemand gesagt bekommen, was er denn tun soll, wenn Kimmich da in der Mitte aufkreuzt. (Und Kimmich auch nicht, wohin er denn genau kreuzen soll.)

In der zweiten Halbzeit hat sich die Frage dann ja nicht mehr gestellt, da Kimmich weitgehend auf RV geblieben ist bzw. höchstens mal noch im Halbraum vorgerückt ist. Da hatte man offenbar in der Halbzeit die Reißleine gezogen und es hat einfach gar niemand mehr verschoben. (Es sei denn ich habe einzelne Situationen übersehen, habe dann bald nicht mehr arg aufmerksam hingeschaut.)

WVQ 13. September 2023 um 01:47

> ein paar [Positionsjustierungen] schienen mir so ziemlich das einzige, was man unter den gegebenen Voraussetzungen durch bloße Ansage versuchen könnte und was nicht nur dem Aufbau, sondern auch der defensiven Stabilität und dem „Gegenpressing“ helfen könnte.

Und siehe da: Spielt die Doppelsechs tatsächlich auf der Sechs, besetzen die drei Offensiven tatsächlich nicht stupide die letzte Linie, schieben die AV beim ersten Anzeichen von Ballbesitz nicht gleich brutal hoch, und hat man dann noch einen Müller in (unerwarteter) Topform, der aber auch jeden bedürftigen Raum erkennt und Verbindungen und Dynamik herstellt, wo sonst eigentlich gar keine sind, schafft man es plötzlich nicht nur, den Ball ohne Risiko zu halten und gelegentlich kontrolliert nach vorne zu tragen, sondern man kann Ballverluste (insoweit man sie nicht vermeidet) auch viel besser abfangen und den Gegner gelegentlich stellen, statt ihm nur hinterherzurennen. Alles ohne nennenwertes Einüben, bloß durch passende (tiefere) Grundpositionen.

Zugegeben, Frankreich war in gewissem Sinne sogar ein dankbarer Gegner, weil es sich wie gewohnt nicht daran gestört hat, eine Halbzeit lang nicht groß zum Zug zu kommen und früh zurückzuliegen. Aber Japan hatte uns ja nun auch nicht gerade zerpresst. Und man muß Frankreich am Ende trotzdem auch daran hindern, einen dann früher oder später mit latenter Wucht zu überrollen. Was umso bemerkenswerter war, als es nach Gündogans Verletzung einen frühen Bruch gab, ab dem die Anbindung der deutschen Offensive deutlich wackeliger wurde und man lange kaum noch zu aussichtsreichen Offensivaktionen kam.

Die Personalwahl auf den AV-Positionen muß man durchaus auch loben, das hat in Kombination mit dem deutlich dosierteren Hochschieben (insbesondere von Tah) gut funktioniert. Kann nicht sagen, daß ich mir stattdessen Kimmich als RAV gewünscht hätte.

… und übrigens auch nicht auf der Sechs. So fürchterlich Can das mit Ball am Fuß überwiegend spielt, er hält (inzwischen) zumindest die Position und im Defensivzweikampf kann man ihn an guten Tagen auch akzeptieren. Hätte natürlich nichts dagegen, wenn Kimmich jetzt noch eine solche Wandlung in der Positionsdisziplin vollzöge, möglich bleibt’s ja. Aber solange nicht, dann lieber einen, der den Raum besetzt hält. Gerade in der Kombination mit Gündogan, der plötzlich wie ausgewechselt wirkt, wenn er Bälle in Situationen erhält, in denen es tatsächlich vertikale Anschlußmöglichkeiten ohne Harakiri-Gefahr gibt. (Und natürlich am liebsten gleich Groß + Gündogan, wenn Weigl schon nicht eingeladen wird, denn Can wird das weiterhin nicht regelmäßig zumindest so hinbekommen wie heute.)

Man darf gespannt sein, wer dann das nächste Spiel der Nationalmannschaft leitet und ob er die sich aufdrängenden Lehren aus dem heutigen Spiel zieht.

Taktik-Ignorant 13. September 2023 um 14:07

So kann man sich irren, mit den Prognosen zum Frankreich-Spiel. Aber lieber so als anders herum.

Das Japan-Spiel habe ich leider nicht gesehen, nur die Tore in einer Aufzeichnung. Allerdings zeigte das Frankreich-Spiel immer noch genügend Defizite auf, sowohl beim Mannschaftsverhalten im Spiel als auch im Hinblick auf die Besetzung einzelner Positionen.

Ballgewinne beispielsweise gelangen gegen die Franzosen kaum, und schon gar nicht in aussichtsreichen Positionen. Das lag natürlich zum einen an der insgesamt tieferen Stellung, aber auch an der nicht immer optimalen Positionierung zum Gegenspieler, die zu oft in Ruhe den Ball annehmen und sich orientieren konnten; auch Pässe über längere Entfernungen wurden kaum durch geschicktes Stellungsspiel abgefangen, und bei der Positionierung als „Deckungsschatten“ fehlte oft ein Meter und damit ein Schritt, um Pässe abzufangen. Wenn es denn mal gelang (in den seltenen Momenten, wo der Ballbesitzwechsel zu Deutschland nicht auf einem Einwurf, Torabstoß oder ähnlichem beruhte), war der Ball selbst bei Überzahl in Ballnähe oft schnell wieder weg, weil zwei deutsche Spieler sich gegenseitig behinderten. Immerhin wurde als Ausweg nicht immer nur der Pass nach hinten gewählt, ein Grundübel des deutschen Spiels. So waren die Franzosen die meiste Zeit feldüberlegen, ohne groß in die Gefahr plötzlicher Gegenangriffe zu laufen. Bei etwas konsequenteren Schiedsrichterentscheidungen oder mehr Glück bei den Standards hätte die Pausenführung keinen Bestand mehr gehabt.

Individuell: immer noch werden einige Spieler auf Positionen eingesetzt, die nicht optimal sind. Henrichs ist eher auf der rechten Seite zu Hause, hatte zwar einige gute Offensivaktionen, war aber sowohl gegen Coman als auch gegen Dembelé einfach überfordert, obwohl er versuchte, durch variables Deckungsspiel (mal näher dran, mal weiter weg) zumindest nicht jedes Mal überlaufen zu werden. Tah hatte es als Innenverteidiger auf der RAV-Position leichter, weil Deschamps auf Mbappé verzichtet hat und die Offensivaktionen der Franzosen auf der linken Seite weitgehend dem frz. LAV Hernandez überlassen wurden. Eine Dauerlösung ist das eher nicht, aber Kimmich möchte ich dort auch nicht sehen, bei ihm habe ich jedes Mal Angst, dass er seine Position zu selten hält, weil er um jeden Preis mit dem Ball das Spiel prägen möchte. Weiterhin fehlt ein zentraler Stürmer, und im zentralen offensiven Mittelfeld besteht ein Überangebot an guten Spielern, das nur schwierig austariert werden kann.

Antworten

WVQ 13. September 2023 um 17:15

Sehe ich überwiegend schon auch so. GUT war das Spiel in vielerlei Hinsicht nicht. Aber gemessen am planlosen Chaos unzähliger Spiele vorher haben zumindest ein paar ganz basale Dinge endlich wieder einmal gestimmt (siehe meinen obigen Kommentar).

Henrichs hatte natürlich seine liebe Not mit Coman und Dembélé, aber da gibt es in meinen Augen wenige Verteidiger, die die nicht haben, und ganz sicher nicht im deutschen Kader. Er hat es zumindest überwiegend geschafft, den Außenstürmer so lange zu beschäftigen, bis (was seit langem auch nur extrem schlecht funktioniert hat) Rüdiger oder Can unterstützen konnten, und auch deren Bewegungen wurden dann meist grundsätzlich angemessen durchgesichert. Daß irgendwo jemand einen AV oder rausgerückten IV hat stehen lassen und einfach durch war, habe ich glaube ich im ganzen Spiel nicht gesehen. Das ist letztlich eine Minimalerwartung an eine deutsche Nationalmannschaft, aber es war immerhin Frankreich und es hat vorher gegen individuell weitaus weniger bedrohliche Gegner regelmäßig überhaupt nicht funktioniert. Und Henrichs hat die Defensivposition eigentlich auch nur verlassen, wenn er abgesichert war und es wirklich Chancen auf offensive Produktivität gab; auch das war immer ein riesiges Problem. (Und Gosens hat mir später eigentlich in allen Belangen weniger gut gefallen, wenngleich das deutsche Spiel da allgemein schon ziemlich zerfasert war.)

Tah wurde weitaus weniger geprüft, klar. Aber das, was man von ihm erwarten konnte, hat er getan. Und seine kaum existente Vorwärtsbewegung war zumindest mal ein klares proof of concept, daß die Außenverteidiger keine Außenstürmer sein müssen, damit man auch gegen eine kompetente Abwehr gefährlich werden kann. Gerade in der Anfangsphase mit Gündogan und sehr umtriebigem Müller gab es auch über rechts einige aussichtsreiche Situationen.

Koom 14. September 2023 um 10:56

Fairerweise: Anderers Spiel. Frankreich war Favorit, selbst ohne die Japan-Klatsche wären sie das gewesen. Ergo kann sich DE mehr drauf verlagern, defensiv gut zu stehen und es wird vom Publikum mehr goutiert, wenn man keine 15 Torchancen hat und „nur“ 1 Tor macht.

Das ist im Grunde dann vergleichbar der Leistung des BVB, wenn sie mal gegen einen Großen spielen: Da stehen sie auch plötzlich tiefer und bekommen dann aber auch vorne mehr Räume. Und es wirkt dann so, als ob „der Knoten endlich geplatz ist“. Und dann kommt der nächste kleine Gegner und nichts geht mehr. Und alle dann so „MENTALITÄT“, „haben den Gegner nicht ernst genommen blaflasel“. Nein, der Gegner hat nur weniger angeboten, weil er selbst eher darauf erpicht war, kein Gegentor zu bekommen als selbst eins zu erzielen.

Taktik-Ignorant 15. September 2023 um 00:05

Das Problem ist natürlich, dass die deutsche Mannschaft auch in Zukunft, trotz aller ehrenhaften Bemühungen, das eigene Unvermögen offenzulegen, keinen Rechtsanspruch auf die Außenseiterrolle haben wird und nicht darauf pochen darf, dass der Gegner versucht mitzuspielen. Spielerische Lösungen gegen tiefstehende Gegner wird Deutschland auch künftig brauchen – aber auch da gibt es „Basics“ (Bewegungsverhalten, Laufwege, Passgeschwindigkeit), die selbst unter Nationalmannschaftsbedingungen (ständig wechselnde Kader, wenig Trainingseinheiten) funktionieren sollten. Und beim BVB ohnehin ….

AG 19. September 2023 um 14:17

Interessant, dass es jetzt doch wieder ein offensiver Trainer werden soll: Nagelsmann! Natürlich hat er schon bei Hoffenheim gezeigt, dass er strauchelnde Teams auf die richtige Spur bringen kann. Dazu hat er Erfahrung mit mittelfeldstarken Teams ohne Mittelstürmer.

Ich halte das für eine starke Lösung, allerdings mit hohem Risiko durch seinen Hang zu 3-1-5-1 und Co. Wie seht ihr das?

Koom 19. September 2023 um 15:44

Da es genug negative Meinung (und durchaus zurecht) über ihn geben wird, lass ich mal den Optimisten raushängen:

Nagelsmann ist ein Fachmann, der vor allem bei Hoffenheim sehr viel gezeigt hat, dass er den Fußball von Grund auf versteht. Wenn er die Nationalelf als das sieht, was sie ist und ihre Probleme versteht und auch die Kürze der Zeit im Auge hat, dann kann das eine gute Verpflchtung sein.

Um das zu erläutern: Die Nationalelf hat keinen Modus für eine kontrollierte Spielweise. Schlechtes Freilaufverhalten, schlechtes Gegenpressing, schlechtes Verschieben mit und ohne Ball. Wenn Nagelsmann das so erkennt und praxisorientiert das behebt, kann das was werden. Wenn er meint, mit den „taktischen Grundschülern“ direkt ins Physikstudium einzusteigen, wie mit den Bayern, dann wirds furchtbar.

WVQ 20. September 2023 um 13:44

Denke das trifft es so ziemlich. Hängt voll und ganz davon ab, wie hoch Nagelsmann zielt und wie viel er als bereits gegeben annimmt. Ich mußte auch direkt an Hoffenheim denken, wo er innerhalb weniger Spiele Struktur und Sinn in eine vormals desolate Mannschaft gebracht hat. Und dann mußte ich auch an Bayern denken, wo er versucht hat, einen hochspezialisierten Ansatz alternativlos komplett auf die Spitze zu treiben. Wenn er beim DFB mehr das erstere als das letztere macht, könnte es interessant werden.

Eine andere Frage – und die stimmt mich nicht so optimistisch – ist die, welche Freiheiten er beim DFB gegeben (wohl) Vertrag nur bis zur EM und (zweifellos) klarer Aufgabenstellung, das Team in die Nähe einer Finalteilnahme zu bringen, überhaupt haben wird. Das klingt eher nach der Bayern- als nach der Hoffenheim-Variante. Grundsätzlich dennoch möglich, es über kleine Schritte und basale Korrekturen anzugehen und dann von da zu schauen, was nach oben hin noch geht, aber man muß es dann wohl ziemlich genau treffen, was die strategischen und taktischen Entscheidungen anbelangt, insbesondere gegeben die (netto) sehr kurze Zeit bis zum Turnier.

Noch eine Frage ist, inwieweit die Passung Spieler/Trainer stimmt und ob Nagelsmann bei den Nominierungen noch grundlegende Korrekturen vornimmt (#Weigl…). Betrachtet man die Kader bei Nagelsmanns erfolgreichen Stationen Hoffenheim und Leipzig, hatte er immer eine technisch starke und taktisch disziplinierte Defensive, die den tiefen Aufbau so gut regeln konnte, daß man auch aus hohem Druck heraus sowie auch gegen tiefe, passive Gegner gefährlich werden konnte. Das ist beides so ziemlich das Gegenteil dessen, was die N11 derzeit zu bieten hat, und erneut weit näher an der Bayern-Situation. Und zumindest in der ersten Linie wird sich da auch personell nicht mehr viel ändern lassen.

Insofern… wird spannend.

AG 21. September 2023 um 08:34

Ich bin doch etwas überrascht über die negative Reaktion auf ihn. Eigentlich war doch lange Konsenz, dass er gut für die Spielanlage von Teams ist, und die Ergebnisse sprachen auch eher für ihn. Das zeigt sich allerdings klarer in xG als in den reinen Ergebnissen:

In Hoffenheim war er bis Ende der Saison 18/19. Die erste Saison, für die ich Daten habe, ist die davor. In den beiden hatte Hoffenheim eine xG-Differenz pro Spiel über die Saison erst von +0,1 (sind Dritter geworden) und dann +0,7 (sind nur Neunter geworden, aber nach xG wären sie das drittbeste Team). Das erklärt auch, warum Nagelsmann nach einem eher schlechten Ergebnis zu einem besseren Team gewechselt ist. Seitdem erreicht Hoffenheim durchgängig nur xGDs von +/-0.

Leipzig: 17/18 war ein relativ schwaches Jahr mit +0,2xGD/90, 18/19 waren sie aber schon in den Top 3 mit +0,75. In den beiden Jahren unter Nagelsmann haben sie jeweils +1,0xGD/90 erreicht und waren damit klar die zweitbeste Mannschaft in der Buli, einmal sogar nach Platzierung 😉 Seit dem Abgang von Nagelsmann? Wieder zweimal +0,7.

Die Bayern sind etwas schwerer einzuordnen, da gibt es ja auch noch andere Ziele. Nichtsdestotrotz hat Nagelsmann sie nach einem „schwachen“ 20/21 mit xGD von +1,0/90 wieder auf ihr voriges Level um +1,5 in 21/22 zurückgebracht. Die letzte Saison war klar schlechter, aber fairerweise hat Tuchel sie ja auch nicht direkt verbessert.

WVQ 21. September 2023 um 15:07

An Nagelsmanns fachlichen Fähigkeiten zweifelt ja keiner und an seinen bisherigen (weiterhin beeindruckenden) Erfolgen auch nicht. Um die zu sehen, braucht man auch keine xG-Daten, man braucht sich bloß die Spiele angucken. ;~) Aber bei Bayern sind halt Dinge passiert, die gerade angesichts seiner früheren Stationen Fragen aufwerfen – darunter die, ob er in einer spielerischen und teils auch ergebnistechnischen Krise geeignete Korrekturen vornehmen kann und ob er gut mit einem Kader arbeiten kann, bei dem eher wenig Talent für einen systematischeren tiefen Aufbau vorhanden ist. Und auf einen solchen Kader trifft er halt in der Nationalmannschaft erneut und von der bisherigen Spielweise her ist die Mannschaft auch eher mit dem Flickschen Bayern zu vergleichen als mit dem Stevensschen Hoffenheim, so daß man nun gespannt sein darf, ob Nagelsmann in der N11 eher erneut zur Bayern-Variante greift (aggressiv vertikaler Spielaufbau, früh viel Personal an der letzten Linie, v.a. tempo- und dribblingbasierte Angriffe, Gegenpressing dann mehr aus der Situation heraus und Defensive allgemein eher nur als Notfallplan) oder ob er eher wieder aus einem tieferen Spielaufbau heraus spielen läßt, was mir persönlich für die N11 trotz teils begrenzten Talents dafür der deutlich aussichtsreichere Ansatz zu sein schiene.

Und nur damit kein Mißverständnis entsteht, ich halte Nagelsmann für den besten verfügbaren Trainer für die N11, den fachlich bisher besten Nationaltrainer überhaupt und ich bin heilfroh, daß es nicht van Gaal oder gar irgendetwas noch schlimmeres geworden ist. Die Mannschaft braucht ja Entwicklung und Sachverstand und keinen Rückfall in die 2000er-Jahre.

Daniel 21. September 2023 um 20:26

Also van Gaal „Entwicklung und Sachverstand“ abzusprechen ist aber ziemlich absurd. Sachverstand hat er im Überfluss und er hat auch mit Sicherheit schon oft gezeigt, eine Mannschaft entwickeln zu können-und zwar vor allem im Ballbesitzspiel.

„Die letzte Saison war klar schlechter, aber fairerweise hat Tuchel sie ja auch nicht direkt verbessert.“
Nett formuliert. Tuchel versucht halt auch, einen komplett anderen Stil zu implementieren, daher ist es ein Stück weit verständlich-aber von der Qualität ist Tuchel’s Amtszeit noch immer deutlich schwächer als jeder vergleichbar lange Zeitraum unter Nagelsmann. Allein schon der grauenhafte Auftritt gegen ManU gestern hat mal wieder verdeutlicht, wie weit diese Mannschaft von geordnetem Fußball entfernt ist. Wenn DAZN diesen Grottenkick mit Regensburg-Verl statt FCB-ManU überschrieben hätte wäre das nur wegen des Stadions aufgefallen.

Ansonsten sehe ich das wie AG: Nagelsmann hat bisher überall einen Effekt gehabt. Ob er bei Bayern wirklich gescheitert ist? Schwierig. Wenn man Nagelsmann wohlgesonnen ist kann man auch externe Faktoren (Verlust der beiden wichtigsten Spieler Lewy im Sommer und Neuer im Winter, meiste Spieler hatten keine gute WM) für das Nachlassen in der Rückrunde verantwortlich machen. Wenn man das Problem hingegen bei Nagelsmann sieht ist es natürlich konsequent, ihn auch als Bundestrainer kritisch zu beäugen-schließlich wird er auf viele Spieler nun erneut treffen.

WVQ 21. September 2023 um 22:59

> Also van Gaal „Entwicklung und Sachverstand“ abzusprechen ist aber ziemlich absurd.

Das bezog sich auf die (medial teilweise zirkulierenden und DFB-intern sicherlich zumindest teilweise auch einmal diskutierten) „noch schlimmeren“ Alternativen (wie bspw. Magath oder Sammer oder überhaupt jeder beliebige frühere Nationalspieler ohne großen Trainer-Sachverstand).

Van Gaal sehe ich in der jüngeren Vergangenheit sehr kritisch. Nein, an grundsätzlichem Sachverstand mangelt es dem nicht und entwickeln könnte er eine Mannschaft auch – die Frage wäre nur, wohin. Die Auftritte der holländischen Nationalmannschaft unter ihm waren in beiden Amtszeiten reichlich zynisch. Man kann glaube ich schon seit einer Weile nicht mehr sagen, daß van Gaal noch für sonderlich modernen Fußball steht.

Ansonsten halte ich es für unstrittig, daß es in München Probleme gab, die zumindest teilweise klarerweise Nagelsmann anzulasten waren, und ich finde es naheliegend, die potentiellen Hürden zu diskutieren, die angesichts der ähnlichen Kaderzusammensetzung womöglich auch in der Nationalmannschaft entstehen könnten. (Oder nicht – bin wie gesagt sehr gespannt darauf, was er mit der Mannschaft machen wird.)

tobit 22. September 2023 um 10:11

Die N11 müsste ja auch nicht unbedingt modern spielen. Systematisch wäre ja schonmal ein Fortschritt.
Die Niederlande hatten in jeder von van Gaals Amtszeiten einen Punkteschnitt von 2,00 oder besser, in seiner letzten Amtszeit sogar von 2,35. Seine Amtszeiten liegen dahingehend auf Platz eins, drei und sieben unter den Bondscoaches die länger als ein Jahr durchgehalten haben. Und sie waren unter ihm immer besser als unter seinen direkten Vorgängern und Nachfolgern. Er macht also offensichtlich immernoch sehr viel richtig und erreicht seine Spieler.

Auf Nagelsmann bin ich aber auch gespannt. Wenn er seinen Bayern-Ansatz wählt, wird er scheitern, weil der schon im Club nur mit einer wirklich eingespielten Elf gelaufen ist. Wenn er seinen Leipziger oder Hoffenheimer Ansatz umsetzt, sehe ich gute Chancen auf ein erfolgreiches Jahr und zumindest mal keine Totalblamage bei der EM.
3-1-5-1 kann eine ziemlich interessante Struktur für Deutschland sein – wenn man Kimmich in die 5 stellt (egal ob innen oder außen und egal aus welcher Startposition) und Weigl dahinter hat.

WVQ 23. September 2023 um 20:24

Klar, modern ≠ erfolgreich; in puncto Erfolg da hat’s bei van Gaal am wenigsten gemangelt. Und ja, eine klare Struktur wäre auch schon ein fundamentaler Fortschritt. Hätte mich aber trotzdem damit schwergetan, und es wäre sicherlich auch ziemlich weit von den Richtungen entfernt gewesen, in denen die deutschen Top-Vereine derzeit so arbeiten (Dortmund mal außen vor, wo’s keine Richtung mehr gibt). Aber wie auch immer, nun ist die Variante ja aus dem Spiel.

Nagelsmann hat auf der Vorstellungs-Pressekonferenz nun schon gesagt, daß er bereits einen klaren (und relativ „einfachen“) Ansatz nach dem Motto „gesunde Aggressivität mit und gegen den Ball“ vor Augen hat. Nicht unbedingt sehr spezifisch, aber wenn man dazunimmt, daß er auch sehr deutlich (wenngleich auch unspezifisch) gesagt hat, daß er rückblickend eigene Fehler in der Bayern-Zeit sieht, die er nicht wiederholen will, stimmt es mich eigentlich recht optimistisch.

Und ja, ein früher Fingerzeig wird zweifellos sein, ob er einen positionsgetreuen Sechser mit Startelf-Potential nominiert (der nicht Can heißt). Groß hat die Aufgabe zuletzt ja überwiegend sehr ordentlich gemacht, aber Weigl wäre nochmal viel klarer das benötigte Profil, und das könnte dann dem großen Haufen an Achtern/Zehnern in der Tat viele Möglichkeiten eröffnen, in meinen Augen auch unabhängig von der Grundordnung.

Taktik-Ignorant 27. September 2023 um 00:08

Nagelsmann hatte bei seinen bisherigen Stationen als Vereinstrainer natürlich viel mehr Möglichkeiten, mehrere „Systeme“ und taktisch variables Spiel einzuüben. In der Nationalmannschaft findet er eine ganz andere Situation vor: eine Ansammlung von Spielern („Mannschaft“ wäre nach den letzten Spielen zu hoch gegriffen), die er in 3 oder 4 Einheiten von je 10 Tagen in unterschiedlicher Zusammensetzung sieht und die zuletzt in einem desolaten Zustand war. Daraus soll er in den Monaten bis zur EM eine schlagkräftige Truppe formen, die die Vorrunde übersteht (bei dem Modus machbar) und möglichst noch mindestens 2 weitere Spiele erfolgreich bestreitet, und dabei (über Engagement, Biss und Leidenschaft) wieder Bindung zum Publikum findet.
Das ist eher eine Projektarbeit als langfristiges „Entwickeln“ einer Mannschaft. Hier hat der DfB zumindest gelernt: Löw (nach 2018) und Flick sollten eine Mannschaft „entwickeln“, die ab 2024 wieder auf Weltklasseniveau konkurrenzfähig ist.
Dazu müsste er sich quasi neu erfinden, von dem ihn auszeichnenden, teilweise verbissen verfolgten Perfektionismus abrücken und psychologisch, bei der Spielerauswahl und im taktischen Bereich die (wenigen) richtigen Stellschrauben finden, deren Drehen den erhofften kurzfristigen Erfolg bringt.
Hoffentlich haben seine letzten Monate als Bayern-Trainer nicht das Verhältnis zu einem wichtigen Teil der Nationalspieler beschädigt – es ist ja bis heute nicht heraus, was im Innenverhältnis im Bayern-Kader so vorgefallen ist, dass Nagelsmann trotz sportlich alles andere als aussichtsloser Lage entlassen wurde und Tuchel (anders als in Chelsea) seine liebe und bis heute anhaltende Müh und Not hatte, den Kader wieder in die Spur zu bringen.

Persönlich hätte ich Louis van Gaal ganz gerne als BT gesehen (was kein Plädoyer gegen Nagelsmann sein soll), weil er genau diese Fähigkeiten bei seinen letzten, ebenfalls sehr befristeten Tätigkeiten für die Elftal (WM 2014 und WM 2022) unter Beweis gestellt hat; Oranje hat bei beiden Turnieren mit einer eher geringen Zahl international hochkarätiger Spieler „überperformt“. Mit seiner Erfahrung wäre es ihm zuzutrauen gewesen, der Mannschaft eine einfache und klare Ordnung zu geben.

Bei Nagelsmann wird sich jetzt zeigen, ob ihm das gelingt. Er selbst geht dabei ein hohes Risiko ein, denn bei einem Misserfolg wäre er auch erst einmal „verbrannt“ und seine Karriere entschleunigt. Was für ihn spricht: er ist ein wirklich guter Trainer. Und sein Mut, sich unter Inkaufnahme erheblicher finanzieller Einbußen (soweit die Vertragslage bekannt ist) in dieses Abenteuer zu stürzen, verdient Respekt.

Und vielleicht gelingt es ihm ja, nicht nur der Mannschaft wieder Leben, Selbstbewusstsein, Teamgeist und Leidenschaft einzuhauchen, sondern auch einen Weg zu finden, diese komische Gemengelage aus personellen Notständen auf bestimmten Positionen bei einem Überangebot an Klassespielern (Mittelfeld mit Gündogan, Kimmich, Musiala, Wiertz, inzwischen auch wieder Goretzka, Halbstürmer mit Havertz, Gnabry, Sané, Müller, Adeyemi (wenn er mal gesund ist)) in ein stimmiges und schlagkräftiges Mannschaftsgefüge zu überführen.


Daniel 14. November 2022 um 10:24

Wird es wieder eine WM-Vorschau geben?

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Taktik-Ignorant 14. November 2022 um 15:04

Wenn man den diversen Einlässen in den Leserforen deutscher Online-Medien Glauben schenken darf, wird sich ja niemand die WM ansehen (was dann bei mir immer die Frage aufwirft, weshalb so viele Leute, die ein Spiel angeblich nicht gesehen haben, es hinterher so engagiert kommentieren). Eine Vorschau erfordert viel Vorarbeit, mal sehen, ob etwas kommt. Zudem ist wenig Vorlaufzeit, die Aufgebote stehen erst jetzt, nachdem die letzten Spieltage im Vereinsfußball vorbei sind und man endgültig weiß, wer nicht verletzt ist. Und dann rollt in 10 Tagen schon der Ball. Ist halt eben alles anders als bei einem normalen Turnier. Vielleicht wird erst etwas gebracht, wenn wirklich die ersten WM-Spiele gelaufen sind.

Antworten

Koom 14. November 2022 um 15:12

Auf Twitter wurde sich schon geäussert (von Tobi Escher und anderen): Nein, weil sie schlichtweg keine Zeit dazu haben und es zu viel Umfang hätte.

Antworten

Daniel 16. November 2022 um 14:10

Ok, Twitter nutz ich nicht, danke für die Info. Hab es schon befürchtet, nachdem hier ja leider schon seit Jahren nur noch wenig veröffentlicht wird und da ja immer viel Arbeit drinsteckte

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MaHo27 7. Juni 2022 um 23:16

Mal eine Frage an die Community hier, weil mir das zuvor nie so aufgefallen ist. Habe aber zum Beispiel auch das Spiel gegen Italien nicht gesehen. Hatte heute das gesamte Spiel über das Gefühl, dass Kimmich sich frei bewegt hat und Gündogan die meiste Zeit damit beschäftigt war, dessen Bewegungen auszubalancieren bzw. die Struktur aufrechtzuerhalten. Ist mir besonders in der ersten Halbzeit im eigenen Ballbesitz aufgefallen, wo Kimmich immer wieder sehr nah an Gündogan heran gelaufen ist, wenn der Ball auf dem Weg auf die linke Seite gewesen ist. Dadurch wurde der Raum dort sehr eng, während der Weg für eine mögliche Seitenverlagerung innerhalb der englischen Formation sehr weit war. Hatte sonst eigentlich immer das Gefühl, dass Kimmich zumindest im Ballbesitz eigentlich ein ganz gutes Raumgefühl hat. Habe ich mich da getäuscht oder war das heute eher eine Ausnahme? Ist schade gewesen, weil Gündogan so seine eigentlichen Stärken im Ballbesitz nicht zu hundert Prozent ins Spiel einbringen konnte, womit man den Engländern noch gefährlicher hätte werden können.

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WVQ 13. Juni 2022 um 16:11

Ich habe es ähnlich gesehen. Grundsätzlich – und man verzeihe mir, daß das relativ polemisch klingt – scheint mir das Problem schlichtweg zu sein, daß Gündogan nicht Goretzka ist und die Nationalmannschaft nicht Bayern. Konkret: Bei Bayern spielt Kimmich die Sechs mehr oder weniger alleine, unterstützt von sehr engen HV, während Goretzka (oder alternativ bspw. auch Musiala) im Ballbesitz stark aufrückt bzw. „schlimmstenfalls“ zwischen Sechs und Zehn pendelt. D.h. Kimmich ist es gewohnt, sowohl horizontal als auch vertikal seinen Raum frei wählen zu können, ohne daß er sich dadurch enorm weit von seinen Nebenspielern entfernt und ohne daß ihm einer im Weg steht. In der Nationalmannschaft spielen die HV breit, wodurch Kimmich viel öfter tiefere Räume besetzen muß (→ Abkippen) und der zweite Sechser wiederum wirklich im Sechserraum gebraucht wird. Das geht in der N11 sowohl mit Goretzka als auch Gündogan noch ganz gut, Goretzka fällt dann eher aus höherer Grundposition zurück, Gündogan ist mehr oder weniger schon da. (Allerdings gehen da regelmäßig Verbindungen in Zehner- und Halbräume verloren, sofern die denn überhaupt sinnvoll besetzt sind.) Das große Problem mit Gündogan entsteht, wenn Kimmich nicht abkippt bzw. wieder vorrückt und folglich beide im Sechserraum sind. Gündogan ist stark strukturschließend veranlagt, d.h. er bewegt sich ohne Ball ständig sehr umsichtig, um Verbindungen herzustellen. Kimmich ist hingegen ist sehr aktionszentriert, d.h. fordert den Ball und drängt dann auf vertikale Aktionen. Das beißt sich fürchterlich, wenn der eine Raum besetzt und der andere dann in genau diesen Raum will. De facto stehen sie sich dadurch schlichtweg immer wieder auf den Füßen und statt Synergien entsteht die (von Dir beschriebene) Notwendigkeit für Gündogan, wieder aus dem Weg zu gehen bzw. aus der Situation irgendwie wieder eine brauchbare Struktur herzustellen (die aber eh kaum genutzt wird, weil Flick zentral vertikale Lösungen will und ansonsten Bespielen der Flügel).

Finde es selbst sehr schade, daß ein dermaßen hochveranlagter Spieler wie Gündogan vom Typ her im Grunde einfach nicht in die Nationalmannschaft paßt, aber genau so ist es. Flick will keinen kontrollierten, stabilen Spielaufbau (wofür Gündogan perfekt wäre), er will den Gegner mit Tempo zerspielen (was paradoxerweise oft für Tempolosigkeit sorgt, weil man dann ja doch nicht ständig einfach drauflosrennen kann und für diesen Fall keinen Alternativplan außer – auch sehr anfälligem – Ballsichern hat, aber es hilft natürlich nichts, wenn bloß ein einziger Spieler überhaupt versucht, auf ein strukturierteres Vorrücken und das Nutzen von Zwischenräumen hinzuwirken, während die anderen im wesentlichen darauf aus sind, diese Zwischenräumen zu überspielen).

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Taktik-Ignorant 14. Juni 2022 um 18:56

Strukturiertes Vorrücken ist schwierig, wenn dafür auf den Verteidigerpositionen die passenden Spieler zum (mit-)aufrücken fehlen; wenn man gegnerisches Pressing umspielen will, muss man paßsichere Spieler haben, die auch den Blick für ihre Position und die der Mitspieler haben. Flicks Idee war ja dann doch eine andere, nämlich das sehr schnelle, steile vertikale Zuspiel. Aber dafür sind die meisten deutschen Spieler der hinteren Reihe zu langsam (im Kopf). Bis die sehen, dass sich weiter vorne jemand vielversprechend löst, steht der Betreffende entweder im Abseits (oft Werner, auf den dann die Kritik einhagelt) oder wurde vom gegnerischen Mittelfeld „zugestellt“. Die Alternative wäre das langsame, geordnete Vorrücken in die Nähe des gegnerischen Strafraums und dann die plötzliche Beschleunigung, um Lücken in die dichte Abwehrmauer des Gegners zu bringen. Dafür ist Gündogan im Prinzip sehr geeignet.
Aber das Bewegungsspiel der deutschen Offensive in solchen Momenten, von denen es in den letzten Spielen einige gab, lässt schon länger zu wünschen übrig. Sieht allerdings bei anderen Nationen nicht viel besser aus (Frankreich, Spanien).

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MaHo27 15. Juni 2022 um 14:01

Vielen Dank für die ausführlichen Antworten. Vermutlich passt dann ein vertikal-orientierter Spielertyp wie Goretzka eher zu den Bewegungsmustern von Kimmich. Was wirklich schade ist, weil Gündogan in meinen Augen individuell der Beste, weil der sauberste und spielintelligenteste der ganzen 8er im deutschen Kader ist, auch wenn Gündogan seinen Peak vielleicht schon überschritten hat. Vielleicht bekommt die Nationalelf es ja aber bis zur WM und insbesondere in der direkten Vorbereitung darauf hin, ein Konstrukt zusammen mit Kimmich und Gündogan aufzubauen. Gegen Italien hat dies ja auch schon besser funktioniert, auch wenn Italien wirklich nicht gut war.

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Taktik-Ignorant 15. Juni 2022 um 21:57

Gündogan dürfte sogar im Moment vor Goretzka in der Hierarchie stehen, weil Goretzka wie einige Bayern-Spieler in der zweiten Saisonhälfte mit einem Formtief zu kämpfen hatte, das immer noch nicht überwunden scheint. Er ist jung genug, um der Nationalmannschaft bis zur Heim-EM 2024 erhalten zu bleiben. Eine irgendwie geartete „Unvereinbarkeit“ mit Kimmich ließ sich gestern gegen Italien jedenfalls nicht feststellen.
Mich wundert immer wieder, wie sehr nach dem Italien-Spiel Sané kritisiert wurde. Bei ihm war die Spielintensität deutlich höher als in den Spielen zuvor, er wirkte frischer, explosiver, und zeigte einige gute Ideen, auch wenn nicht alle Pässe gelangen und alle Entscheidungen (wann abspielen und an wen) überzeugten. Aber er war deutlich auffälliger als die Spiele zuvor. Schade nur, dass ihm die zentrale Rolle inzwischen wirklich besser zu liegen scheint als der Flügel, denn zentral spielen eigentlich schon genug andere.

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Taktik-Ignorant 6. April 2022 um 19:30

Ich sehe Werner auch bei Chelsea nicht so schlecht, dort spielt er m.E. eine sehr gute Rolle, auch im Spiel gegen den Ball, selbst wenn er nicht als „hauptamtlicher“ Torjäger fungiert (in der vergangenen Saison hat Chelsea im Sturm ja sehr variabel gespielt, personell und positionell sehr flexibel und dabei sehr erfolgreich, was natürlich bei der extremen Terminbelastung gerade im englischen Fußball optimal ist; in dieser Saison war als 9er Lukaku anfänglich gesetzt, und Werner kam häufiger neben ihm zum Einsatz, allerdings scheint Lukaku mit Tuchel zu fremdeln und kommt jetzt kaum noch auf Einsatzzeiten). Ich sehe ihn also nicht wirklich schlecht, auch in der Besetzung als 9er, aber leider hängt er in der NM immer etwas in der Luft, weil auf seine Laufwege nicht oder nicht schnell genug eingegangen wird.

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Taktik-Ignorant 7. April 2022 um 15:39

Sorry, war unten als Antwort auf AG gedacht….

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tobit 7. April 2022 um 18:36

Werner braucht jemanden, der für ihn mit dem Rücken zum Tor spielt. Dann ist er super, weil er das Spiel tief machen kann und für IV sehr unangenehm zu spielen ist. Was mir an ihm besonders gefällt ist, dass er nicht so Ballkontaktsüchtig ist wie andere Halbstürmer. Er tut sein Ding da wo du ihn hinstellst, füllt ab und zu mal die Flügel oder zwischen den Linien auf und vertraut ansonsten darauf, dass das Team den Ball schon zu ihm bringen wird, wenn es drauf ankommt. Ist finde ich einfach ein angenehm zu beobachtender Spielertyp.

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Daniel 4. April 2022 um 17:33

Danke für den Artikel, ich freu mich immer, wenn hier mal wieder was veröffentlicht wird 🙂 Bei momentan aber grad mal ca zwei Beiträgen pro Monat ist es aber schon schade, wenn ein Artikel für ein so witzloses Testspiel vergeudet wird wie dieses. Acht Monate vor der WM in den wichtigsten Wochen des Vereinsfußballs hatten die Spieler beider Mannschaften exakt eine Aufgabe: unverletzt zu ihren Vereinen zurückzukehren. Daraus irgendwelche Schlüsse für die WM abzuleiten ist ungefähr so sinnvoll wie aus dem Franz-Beckenbauer-Pokal der Saisonvorbereitung die Endtabelle der Bundesliga herauslesen zu wollen.

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Taktik-Ignorant 4. April 2022 um 23:29

Natürlich ist es zu früh, Rückschlüsse für die WM abzuleiten. Auf der anderen Seite ist es aber verständlich, wenn nicht nur der Vereinsfußball beleuchtet wird, sondern der wichtigste Fußball- (und wenn es nach den für Senderechte gezahlten Summen geht, Sport-)wettbewerb der Welt, der jetzt schon seine Schatten vorauswirft, in den Mittelpunkt rückt. Überhaupt halte ich den Nationalmannschaftsfußball für unterschätzt; langfristige Trends und Neuerungen lassen sich an ihm viel besser ablesen als an Vereinsspielen, die im kollektiven Fußballgedächtnis selbst der Vereinsfans eher kurzlebig bleiben. Ich habe mich gerade darüber gefreut, dass es einen Artikel zur Nationalmannschaft gab und Flicks Suche nach der richtigen Spielweise und Formation somit auch fachlich-analytisch kompetent begleitet wird.

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Koom 5. April 2022 um 09:44

Nationalmannschaften sind für mich aus 2 Gründen interessant: Es gibt einen Überblick über die „fußballerisch Ausbildung“ im Lande. Und sehr reizvoll: Es geht sehr viel weniger um Geld, sondern tatsächlich nur um den Sieg und den Titel. Sicherlich gibts auch gute Siegprämien, aber generell spielt das weniger eine Rolle.

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Daniel 6. April 2022 um 16:57

Ich halte nicht Nationalmannschaftsfußball für uninteressant, ich halte Freundschaftsspiele für uninteressant. Sich ausgerechnet das Testspiel zur Analyse auszusuchen finde ich halt sehr erstaunlich in einer Zeit, in der es jede Woche mehrere Spiele um Aufstiege, Abstiege, Meisterschaft und Weiterkommen in K.O-Runden gibt. Freundschaftsspiele sind auf Nationalmannschaftsebene auch nicht spannender oder aussagekräftiger als auf Vereinsebene. Wer sich ein Urteil über Weigls Eignung für die N11 bilden will wird wohl oder übel portugiesische Liga schauen müssen (oder bis zur WM warten), da hilft auch kein Scherzspiel gegen Holland.

@Taktik-Ignorant
Im ersten Satz sagst du, die WM sei der wichtigste Sportwettbewerb der Welt. Direkt danach meinst du aber, der Nationalmannschaftsfußball werde unterschätzt. Die beiden Aussagen krieg ich irgendwie nicht zusammen…

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AG 6. April 2022 um 18:38

Tatsächlich konnte man auch gestern Weigl in der Champions League gegen Liverpool beobachten (und zum Rückspiel)! Hat auch ein ordentliches Spiel gemacht, soweit ich auf ihn geachtet habe – sicher aber kein einfacher Gegner.

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Taktik-Ignorant 6. April 2022 um 19:23

Kurz zu meinem scheinbaren Selbstwiderspruch: Der Begriff „unterschätzt“ bezog sich auf die Kritik, die manchmal (auch in diesem Forum) an der Qualität des NM-Fußballs im Verhältnis zum Vereinsfußball geäußert wird. Demgegenüber meinte ich mit „wichtigstem“ Wettbewerb, dass einer WM (weltweit) wesentlich mehr Publikumsinteresse und Medieninteresse entgegenschlägt als Vereinswettbewerben (und zwar auch dort, wo beide im frei empfangbaren Fernsehen übertragen werden). Ablesbar auch an der Zahl der Buchpublikationen und Sonderhefte zu den verschiedenen Ereignissen. Insofern sehe ich da keinen Widerspruch. Danke für die Gelegenheit zur Klarstellung.

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Daniel 6. April 2022 um 20:32

Für mich persönlich wird der Nationalmannschaftsfußball in den letzten Jahren zunehmend interessanter bei proportional abnehmendem Interesse am Vereinsfußball, der zunehmend mehr einer endlosen Partie Monopoly gleicht. Auf Nationalmannschaftsebene ergibt es noch Sinn, sich über die vermeintlichen oder tatsächlichen Schwachstellen einer Mannschaft zu unterhalten, während die reichsten Vereine eben alles in Geld ersäufen und sich kaderplanerische und taktische Fragen kaum noch stellen.

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Taktik-Ignorant 7. April 2022 um 15:38

Ich denke, das trifft vor allem auf die Vereine in der Premier League zu. Und auf PSG. Real Madrid ist bereits auf diverse Staatshilfen angewiesen, und der FC Barcelona konnte sich zu Saisonbeginn noch nicht einmal die Weiterbeschäftigung Messis zum halben Gehalt leisten (frage mich allerdings, woher das Kleingeld für die Winterverstärkungen kam). Und bei Bayern gehen inzwischen wieder viele Spieler, weil sie anderswo das Gehalt bekommen, das ihnen der FC Bayern nicht zu zahlen gewillt ist. Dort gibt es schon Anlass, über Schwachstellen im Kader zu diskutieren. Aber grundsätzlich stimmt es schon, Vereine können auf dem Markt nach Anforderungsprofil einkaufen, Nationalmannschaften können nur aus dem Reservoir schöpfen, das den richtigen Pass hat, und müssen darauf hoffen, dass Anforderungsprofil und Qualität passen.

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tobit 7. April 2022 um 16:26

Das Geschäft hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Big3 haben kein Abo aufs CL-Halbfinale mehr und bekommen entsprechend von den Spielern auch keinen „Rabatt“ mehr. Man hat halt auch als absoluter Topverdiener eines der anderen Top10-Vereine dieselbe Chance auf einen CL-Titel wie wenn man für ne ganze Ecke weniger bei Bayern spielt.

Barca hat im Winter nochmal neue Kredite aufgenommen und die Namensrechte am Stadion verkauft. Gesund ist das sicherlich nicht, was sie da veranstalten, aber ist halt wie mit den großen Konzernen in anderen Branchen: too big to fail
Auba ist zwar teuer, war aber immerhin ablösefrei und liefert erstmal, Adama ist geliehen und Ferran wird nicht weniger wert werden (da war ich von der „geringen“ Ablöse sehr überrascht). Wenn sie sich damit sportlich konsolidieren können, wonach es ja durchaus aussieht, stört sie dann der zu lange Auba-Vertrag auch nicht mehr.

Daniel 14. April 2022 um 12:27

Das trifft schon auch auf die Bundesliga zu. Mit Ausnahme von Florian Wirtz spielen die besten 30 Spieler der Bundesliga doch ausnahmslos in München, Dortmund oder Leipzig. Leipzig ist sehr schwach in die Saison gekommen, Bayern und Dortmund spielen prinzipiell eine unterdurchschnittliche Runde und dennoch werden diese drei Vereine ihre jeweiligen Ziele in der Bundesliga problemlos und mehrere Wochen im Voraus erreichen. Es ist eben auf den ersten drei bis vier Plätzen einfach kein echter Wettbewerb mehr. In der PL ist das Gefälle durch unterschiedlich reiche Eigentürmer sicherlich nochmal extremer, aber grundsätzlich ist es überall das Gleiche.

@tobit
Einen nennenswerten „Rabatt“ wird Bayern nur in ganz wenigen Situationen bekommen haben. Aber durch sehr hohe Einnahmen im Merchandise und Kartenverkauf konnte Bayern die Gehälter in manchen Fällen noch mitgehen. Dieses Geschäftsmodell ist aber für zwei Jahre durch Corona komplett eliminiert worden, weswegen das jetzt nicht mehr möglich ist.


Taktik-Ignorant 31. März 2022 um 17:10

Vielen Dank für die ausführliche Analyse.
Mich hätte interessiert, wie die Taktik der Niederländer in der ersten Halbzeit, das Spiel auf Kehrer zu lenken (Raum wurde weniger Raum gelassen, er galt offensichtlich als der gefährlichere Außenverteidiger), besser hätte bespielt werden können. Kehrer kam mir oft ziemlich ratlos vor, da die Niederländer deutsche Freilaufbewegungen recht gut durch ihre eigene Staffelung verpuffen lassen konnten. Für den Rechtsfuß Kehrer war es schwer, die geeignete Anspielstation zu finden, und oftmals musste wieder hinten herum zurück gespielt und neu aufgebaut werden.
In der zweiten Halbzeit, wo sich die deutsche Mannschaft zu Beginn noch einmal steigern konnte und einige Male vielversprechend vor das niederländische Tor kam, war der Bruch nach ca. 10 Minuten, als die Niederländer den Druck beim Anlaufen nochmals intensivierten und die Abspiele der Deutschen hektischer und ungenauer wurden. War das vielleicht auch eine Folge der Müdigkeit nach dem intensiven Pressing in Halbzeit 1, bei dem die deutschen Mittelfeldspieler und Stürmer lange Wege laufen mussten?

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tobit 31. März 2022 um 19:38

Ich weiß nicht ob der offene Kehrer wirklich das Ziel war oder eher ein Nebenprodukt der Spielertypen auf seiner Seite. Blind vs. de Ligt, Malacia vs. Dumfries, Frenkie vs. Berghuis, Memphis vs. Malen sind jeweils sehr verschieden und wirken entsprechend auch unabhängig von den Mannorientierungen anders zusammen.
Eine Lösung wäre natürlich ein präsenter, pressingresistener Sechser gewesen. Die beste Annäherung daran mit der realen Besetzung wäre ein Seitentausch von Gündogan und Musiala gewesen um Kehrer eine konstantere Anspielmöglichkeit zu geben. Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, Müller und Havertz klarer halbrechts starten zu lassen und mit ihnen entweder Raum für Kehrer freizublocken den dieser dann anläuft oder mit Gegenbewegungen doch mal einen Passweg zu öffnen. Generell fand ich Havertz Positionen gegen (zentral/halblinks) und mit dem Ball (rechts breit) zu weit voneinander entfernt. In den Positionen kommt er zwar eigentlich in sehr gute Situationen für sein Spiel, aber er kam oft zu spät in die Positionen, weil die Umschaltmomente zu schnell und zu häufig waren.

Ein Faktor für den stärkeren Druck der Niederländer nach der Pause war für mich Wijnaldum, der in meiner Wahrnehmung deutlich attackierender gespielt als Koopmeiners und das Mittelfelddreieck ein bisschen „gedreht“ hat. Auch wichtig war, dass Gündogan und Kehrer seltener kurzen Anschluss an die IV hielten und sich eher zu den vier Zehnern bewegten. Dadurch waren die Rückstöße der deutschen Zehner noch leichter zu verfolgen und es konnte öfter mal ein ZM auf den Aufbau rausstoßen und so viel dynamischeren Druck auf Rüdiger erzeugen. Das hat Malen auf seiner Seite auch in der ersten Halbzeit schon öfter mit etwas tieferen Startpositionen geschafft, Memphis aber eher nicht (einer der Gründe für die vielen Anspiele auf Kehrer in eher langsamen Situationen).

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tobit 31. März 2022 um 19:52

http://sharemytactics.com/178583/
Der Zehner kann sich nach vorne orientieren, weil die deutschen sich halblinks zu eng staffeln und so mit weniger Personal abgeschnitten werden können.
Mit Klaassen wirkte die Besetzung der drei Mittelfeldpositionen auch noch etwas flexibler, da kamen auch mal Frenkie oder Wijnaldum in diese Position. Oder Frenkie/Malacia schob auf Kehrer und Memphis erzeugte die Dynamik auf Rüdiger.

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Taktik-Ignorant 31. März 2022 um 20:19

Danke für die Erläuterungen, die sind mir in der Tat schlüssig.
Dass ich den Niederländern Absicht unterstellt hatte, in Bezug auf Kehrer, mag mit der Erinnerung an ein altes Spiel der NM zusammenhängen, das WM-Halbfinale 2010 gegen Spanien. Da haben die Spanier alle früh attackiert, außer wenn Arne Friedrich am Ball war; bei dem haben sie lediglich die Passwege (insbesondere zu Lahm und Schweinsteiger) zugestellt und ihn bis an ihren eigenen Strafraum mit dem Ball am Fuß durchlaufen lassen. Dort haben sie dann den Ball auf die eine oder andere Weise (Fehlschuss, Fehlpass von Friedrich) erobert. Und Kehrer als gelernter IV auf einer AV-Position ist eben auch nicht die optimale Lösung, es gibt halt in der deutschen NM derzeit auch nicht für alle Positionen Top-Besetzungen.

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tobit 31. März 2022 um 21:03

Kehrer ist wenn ich mich richtig erinnere gelernter Sechser. Und er ist ja in seinem ganzen Habitus auch kein gewöhnlicher IV. Von daher finde ich nicht, dass er als AV eine Schwachstelle darstellt. Erst recht nicht im spielerischen Bereich. Dagegen spricht auch, dass Memphis sich in der zweiten (stärkeren niederländischen) Halbzeit eher mal Kehrer passiv zugestellt hat wenn der tief blieb und dann Rüdiger eben erst verzögert attackiert wurde.
Kehrer war ja auch in der ersten Halbzeit eher nicht wegen der starken Verteidigung so verloren, sondern weil er wieder und wieder angespielt wurde während sich sämtliche Spieler vor ihm nach links orientierten. Am ehesten könnte man die Falle der Niederländer finde ich darin sehen, dass sie ihn das ganze Spiel über in eine immer offensivere Positionierung gelockt haben, wo er dann nicht mehr so stark ist wie aus der Tiefe. Mich hat es daher auch etwas gewundert, dass Henrichs erst kurz vor Schluss reindurfte, der in diesen Situationen theoretisch deutlich besser zurecht kommt.

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Taktik-Ignorant 1. April 2022 um 16:29

Zu Kehrer: ich glaube (meine Erinnerung kann mich täuschen), er war bei Schalke IV, bevor er von PSG weggekauft wurde. Insgesamt gefällt er mir als IV auch besser. Für das Spiel gestern, besonders in Halbzeit 1, wäre vielleicht tatsächlich Hofmann die beste Besetzung auf der Position gewesen, da von Haus aus Mittelfeldspieler. Aber ich befürchte, dass seine Defensivqualitäten für das hohe Niveau bei Spielen gegen die Top-10 der Welt dann doch nicht reichen.

Das Offensivspiel der NM wird sicherlich insgesamt flexibler und unberechenbarer, wenn Sané und Gnabry bei der WM fit und in Topform sein sollten; mit Gnabry und Goretzka (falls er zurückkommt) ist auch nochmal Einiges an Torgefahr mehr vorhanden. Man sieht auch, dass die Personalreserven nicht unbeschränkt sind, die Wechsel in Halbzeit 2 zogen doch einen Qualitätsverlust nach sich.
Abwehr: Ginter scheint in der Hierarchie zurückzufallen. Es ist nicht seine Saison und er war immer zwar solide, auch offensiv hin und wieder torgefährlich, aber letzten Endes doch kein Verteidiger der allerersten Güteklasse. Ich sehe in der IV Rüdiger, Süle und jetzt auch Schlotterbeck vor ihm, ebenso Kehrer, so dass es zwischen ihm und Tah auf ein Zielphoto-Finish für den letzten IV-Kaderplatz hinauslaufen könnte. Aber alles Spekulation, Wetten auf das WM-Aufgebot lohnen sich erst 2 Wochen vor Turnierbeginn, wenn man sieht, wer überhaupt zu dem Zeitpunkt unverletzt ist. Schade, dass der NM wegen des Kalenders nur eine Woche Vorbereitungszeit bleibt.

Es bleiben nämlich noch einige Baustellen im Spielverhalten offen; die Defensive ist nach wie vor zu anfällig (die Niederlande haben einige vielversprechende Situationen nicht sauber genug zu Ende gespielt, sonst hätte es dicke kommen können), und das Offensivspiel muss an Durchschlagskraft zulegen; dazu gehören auch Ballstafetten, die nicht improvisiert aussehen, sondern gekonnt.

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tobit 3. April 2022 um 20:44

Ja, als Profi hat er überwiegend in der Abwehr gespielt. Aber ausgebildet wurde er meine ich als Sechser.
Das ist die Schwierigkeit bei großen Spielen. Wenn man keinen Lahm hat, hat man nicht für jede Situation den perfekten Außenverteidiger. Hofmann hätte in Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte besser gepasst, gegen den Ball und im tiefen Aufbau wäre er nicht besser (eher schlechter) als Kehrer gewesen.

Gnabry als Faktor habe ich vor den aktuellen Länderspielen auch unterschätzt. Er passt einfach perfekt auf RA, weil er so vielseitig spielen kann. Je nachdem was man gerade braucht. Theoretisch würde ich das Havertz auch zutrauen, aber der wird von Flick bisher noch sehr auf seine Spezialsituationen fokussiert eingesetzt. Gnabry ist halt (wenn in Form) dazu auch noch abschlussstark aus allen Lagen, was den anderen Optionen da bisher sehr abgeht. Und klar, Tempodribbler in Topform heben das Offensivspiel immer auf ein neues Level, erst recht wenn sie dann so präsent spielen wie die beiden.

Die Kaderbreite kann definitiv nicht mit den Topnationen mithalten. Man kann halt die Spieler 15-23 nicht so krass nach Formstärke vor dem Turnier aussuchen. Dafür kann man aber mit den klaren Top30 oder so etwas intensiver arbeiten als Spanien oder Frankreich mit ihren 50-60 potentiellen Nationalspielern.
Für die Klarheit der Spielanlage bin ich weiterhin erstmal optimistisch. Flick hat jetzt 4 Lehrgänge in 10 Monaten gehabt und die besser genutzt als Löw die letzten 3 Jahre zusammen. Im Sommer ist man für die Nationsleague auch mal länger zusammen, da dürfte sich auch etwas mehr machen lassen als in den paar Tagen die man normalerweise hat. Allgemein werden aber alle Teams verhältnismäßig unvorbereitet in die WM gehen, weil sie halt mitten in der Saison ist.
Die Defensive wird generell noch länger ein Problem bleiben, weil sie individuell nicht so hochklassig besetzt ist wie bei anderen und bei Flick auch so gar nicht der Fokus ist. Ginter ist da halt genau der falsche Spieler für, auch wenn er nicht wirklich schlechter ist als Rüdiger oder Schlotterbeck. Aber ihm fehlt halt die Dynamik und Durchsetzungsstärke um permanent das halbe Feld zu kontrollieren.

Ein Zuschauer 3. April 2022 um 21:26

Als Schalker möchte ich dazu ergänzen dass Kehrer unter Weinzierl eher als Sechser und vor allem Flügelläufer in der Fünferkette gespielt hat. Unter Tedeso war er Halbverteidiger in der Dreierkette und dabei der fokussierte Spieler im Aufbau. In der Dreierkette sehe ich persönlich ihn ja auch am besten, zweitbeste Position wäre fûr mich defensiver Außenverteidiger in einer Dreierkette – Abidal-style. Ich fand in den Spiel ja auch die Bewegung der Spieler vor Kehrer in den entsprechenden Situationen nicht so gut, aber das hat TR ja auch beschrieben.
Zum Spiel muss ich ja generell sagen, dass ich als jüngerer Zuschauer immer wieder verwirrt bin von Mannorientierungen. Ich habe dann immer so einen wer-spielt-denn-da-auf-welcher-position-und-wieso-sieht-das-alles-so-komisch-aus-Moment bis ich dann checke: ach so, die machen Manndeckung.

Taktik-Ignorant 4. April 2022 um 13:17

@Zuschauer: ich frage mich, wie Sie sich als Zuschauer fühlen würden, wenn Sie sich mal eine Konserve (z.B. ein Spiel aus den 79er Jahren) ansähen, wo die Manndecker ihre Gegner bis auf die Toilette verfolgten…
Ansonsten sehe ich die deutsche Mannschaft realistischerweise da, wo sie auch die Weltrangliste einordnet. Die Mittelfeldpositionen sind sehr gut besetzt (abgesehen von der 6er-Position), gute Tempodribbler haben wir auch, bei den IV ist die Luft etwas dünn, aber so schlecht sind Rüdiger und Süle als (vermutliche) Erstbesetzung nicht, beide schon CL-Sieger auf ihrer Position), nur die zentrale Stürmerposition und die AV sowie die Kaderbreite lassen zu wünschen übrig. Es bleibt abzuwarten, wer dann im Herbst wirklich unverletzt ist. Wie schnell es gehen kann, haben wir an Florian Wirtz gesehen.

AG 5. April 2022 um 14:10

Die AV sehen doch eigentlich gar nicht schlecht aus: links gibt es mit Gosens und Raum gleich zwei richtig gute offensive AV, und für rechts gibt es verschiedene defensivere Varianten (Kehrer, Süle, oder natürlich auf höchstem Niveau Kimmich). Die IV finde ich sogar sehr gut, im Sturm sieht es auch gar nicht so schlecht aus, wenn Havertz dort auch eingesetzt wird wie immer mal wieder bei Chelsea (und natürlich Werner).

Das, was dringend fehlt (und vermutlich die meisten hier auch so sehen) ist ein defensives Mittelfeld. Wir alle träumen von einem Sechser auf dem höchsten Niveau, aber ein Zerstörer wäre erstmal auch okay (und vielleicht noch ein defensiver Ballverteiler wie Weigl). Die sehr offensive Spielweise macht es der IV sehr schwierig, und ein oder zwei sich zurückhaltende und ausbalancierende Sechser könnten da eine Menge abschirmen. Kimmich und Goretzka bilden ein geiles Duo, das mit der Klasse fast alles wegregelt, aber die können auch nicht immer durchspielen.

Taktik-Ignorant 6. April 2022 um 13:36

Die Sicht kommt mir etwas zu optimistisch vor. Auch die Kombi Kimmich/Goretzka in der zentrale lässt nach hinten viele Löcher, wie sowohl bei den Bayern als auch bei der NM zu beobachten war. Und wenn Kimmich auf der 6 spielt, kann er nicht auch noch den RAV machen. Links sehe ich auch Raum oder Gosens, wobei ich auch bei beiden defensive Defizite sehe, und Gosens ist wirklich vor allem ein linker Läufer vor einer 3er-Kette; in einer 4er-Kette würde ich eher Raum sehen. Rechts ist mir Hofmann immer noch zu sehr eine Verlegenheitslösung als auf AV umgeschulter Mittelfelder, der sich gegen internationale Hochkaräter in der Rolle noch nicht bewährt hat. Süle ist für mich Innenverteidiger, der nur hin und wieder bei Bayern als RAV ausgeholfen hat. Auch Kehrer sehe ich allenfalls als rechtes Glied einer 3er-Kette oder als IV in einer 4er-Kette, aber nicht wirklich ganz auf dem Flügel. Er hat diese Position zwar auch schon bei PSG öfter bekleidet, aber so richtig prickelnd fand ich ihn da nicht.
Mittelstürmerposition: Havertz ist ein sehr vielseitiger Spieler, und Werner hat seine Trümpfe, aber richtige Torjäger (also ein Typ wie Silva bei Eintracht/RB, Lewa bei Bayern, Haaland beim BVB oder Schick bei Bayer oder auf internationaler Ebene Benzéma oder Kane) fehlen halt unter den Spielern mit deutschem Pass.
6er-Position: Für mich derzeit Kimmich, mangels Alternative. Und er hat ja auch jede Menge gute Seiten.

AG 6. April 2022 um 18:51

Ist sicher etwas optimistisch, aber sonst gibt es ja nichts zu diskutieren 🙂 Kimmich / Goretzka hinterlassen sicher Löcher, die könnten aber auch zurückhaltender spielen (und das gut!), wenn der Trainer das will. Oder die AV könnten tiefer agieren – letztendlich die Frage, wie Offensive und Defensive ausbalanciert sind.

Deshalb finde ich auch, dass ein offensiver und ein tieferer AV gut passen, solange die Sechser sich nicht wie z.B. bei Liverpool stark zurückhalten. Deshalb auch die genannten RV, die da sicher nicht zu Hause sind; mit etwas Recherche fallen bestimmt auch noch andere Namen ein. Kimmich hatte ich nur genannt, falls beide AV offensiv bestimmen sollen und das Mittelfeld die Absicherung gibt, sonst ist der für mich auch klarer Sechser.

Und ja, ein Weltklassestürmer wäre toll. Werners letzte Saison bei RB sah sehr nach Elite aus (2/3 xG pro Spiel plus 1/5 xA ist verdammt gut), leider ist er bei Chelsea nie so 100% angekommen (ohne schlecht zu sein). Gibt nur bei der Nationalmannschaft nicht so viele Situationen, in denen er seine Geschwindigkeit optimal ausspielen kann. Havertz muss seine Position noch finden, aber seine xG-Werte entwickeln sich sehr gut, er wäre prinzipiell als Stürmer ganz anderer Art gut geeignet. Die Torquoten von Lewa, Haaland, Benzema oder Kane wird er leider vermutlich nie erreichen (wäre nicht traurig, wenn diese Vorhersage nicht eintrifft ;)).

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