Türchen 5: Harry Kane

Englands Kapitän ist ein Stürmer für Ballsicherheit und gelegentliche Kreativmomente, wenn man mit wenig Offensivpräsenz angreift.

Bei der EM im vergangenen Sommer war Co-Gastgeber England ein großes Gesprächsthema. Abgesehen von der Frage der Zuschauer im Wembley-Stadion folgte auf die vielen skeptischen Stimmen nach einem unspektakulären Turnierstart der euphorische Diskurs rund um das erste „große Finale“ seit 1966. Von Spiel zu Spiel wiederholten sich die Debatten, ob und wie lange Nationaltrainer Gareth Southgate den damaligen Dortmunder Jadon Sancho vielleicht doch spielen lassen würde. Schließlich wurde auch über Torjäger Harry Kane diskutiert. Der Kapitän der Engländer blieb in der Vorrunde torlos, ehe er anschließend fast noch den Titel als bester Schütze des Turniers geholt hätte.

Nicht nur als Vollstrecker trat er ins Scheinwerferlicht, sondern auch als Vorbereiter. Als die Engländer im Halbfinale zum einzigen Mal im Turnierverlauf in Rückstand geraten waren und sich schwertaten, hatte Kane maßgeblichen Anteil daran, dass der wichtige Ausgleichstreffer so schnell fiel: Er zog sich halbrechts dynamisch ins Mittelfeld zurück, steuerte dort in den richtigen Momenten eine entstehende gegnerische Unkompaktheit an und setzte von dort zwei Großchancen innerhalb von zwei Minuten auf die Schienen.

Während der gesamten Europameisterschaft diente Kane mit seinen Zurückfallbewegungen ins zweite Drittel fast als der primäre Übergangsspieler seines Teams. In letzter Zeit ist sein Timing, wann er sich auf diese Art und Weise tiefer im Mittelfeld einschaltet, nochmals deutlich stärker geworden – und bei der EM war es in vielen Phasen schlichtweg hervorragend.

Ballsicher(nd)er Übergangsspieler in unterschiedlichen Konstellationen

Kane verspricht ausgeprägte Ballsicherheit und gelegentliche Kreativmomente, wenn man generell mit wenig Offensivpräsenz angreift, so wie es die Engländer unter Southgate häufig taten. Hat man nur wenige Spieler – selbst solche von hoher individueller Qualität – vorne oder im Übergang, ist es eminent wichtig, dort das Leder nicht zu schnell zu verlieren. Gerade darin besteht eine große Stärke von Kane: Er kann den Ball sehr gut halten, auch in engen Situationen und in kleinen Räumen. Durch seine saubere Ballführung einerseits und geschickte Orientierung andererseits ist er schwierig unter Druck zu setzen.

Das hat wiederum zwei Implikationen: Erstens ermöglicht es eine Konstellation, in der Kane große Teile des Übergangsspiels auf seinen Schultern trägt. Allerdings neigt er dafür dazu, sich auch mal in seitliche, isolierte Bereiche fallen zu lassen, in die das Spiel des Teams deshalb mitunter verstärkt hinläuft. Einige der daraus resultierenden isolierten Szenen kann er selbst wiederum auflösen, so dass die Problematik in Teilen kaschiert wird.

Auch im Verein bei den Spurs wirkte er bereits – ähnlich wie bei der EM – als wichtiger Übergangsspieler. Das galt in sehr unterschiedlichen Konstellationen, sowohl bei Phasen mit geringer wie mit hoher mannschaftlicher Offensivpräsenz. Unabhängig davon wurde und wird Kane bei Tottenham von seinen Mitspielern insgesamt oft selbst in den Achter- und Zehnerräumen gesucht. Mitunter hatte er ausgeprägte Ballkontaktzeiten. In den international besonders erfolgreichen Saisons unter Mauricio Pocchettino ergänzte sich diese Präsenz des Torjägers besonders gut mit der Spielweise Christian Eriksens dahinter, der aus dem Schatten agieren und sich für kurze, ergänzende, unterstützende Aktionen einklinken konnte.

Zweitens macht es ihn zu einem Spieler, der gegnerische Pressingmomente aufzulösen bzw. zu verhindern vermag. Dadurch kommen strukturell schlechte oder nachteilige Situationen seiner eigenen Mannschaft nicht so sehr zum Tragen und vor allem fallen sie weniger ins Gewicht, sofern sie sich häufen. Das kann potentiell tiefere Zonen betreffen genauso wie höhere Zonen. Bei der englischen Nationalmannschaft drohte allein geringe Offensivpräsenz in den vorderen Bereichen zu suboptimalen Staffelungen oder schwacher Unterstützung zu führen – und damit dazu, dass das Team wiederum dort unter Druck geriet, aber von Kanes Qualitäten in der Ballsicherung profitierte.

Enge Ballführung für unerwartete Durchschlagskraft

Bei Tottenham gab und gibt es vergleichbare Konstellation, wenngleich meistens weniger ausgeprägt. Im Verein war Kane über die letzten Jahre hinweg ein wichtiger Schlüsselspieler für die Offensive, etwas anders gewendet als bei den „Three Lions“. Typischerweise lag nicht ganz so viel Verantwortung als Übergangsspieler oder als hoher und manchmal tiefer Pressingauflöser auf ihm und dafür etwas mehr Verantwortung für Durchschlagskraft.

Kanes zentrale Qualitäten, die ihn zu einem idealen Spieler für die Ballsicherung machen, können genauso in den engen Bereichen des gegnerischen Sechzehners zum Tragen kommen. Der englische Angreifer braucht nur wenig Raum und auch wenig Tiefe, um sich trotzdem in vielversprechende Abschlusspositionen bringen zu können. Kane ist gut darin, sich kleinräumig den Gegenspielern zu entziehen, mit minimalen Schnittstellen und Lücken zu arbeiten.

In den gefährlichen Zonen sucht er oft die kurzen Bewegungen, die dort schon genügen, und kombiniert das mit seiner Technik, um so Abschlüsse vorzubereiten. Häufig wird er – individuell gesehen – aus der Drehung und – kollektiv gesehen – auch aus flachen Staffelungen und verlangsamten Dynamiken gefährlich. Über Ball- und Schusstechnik sowie Orientierung strahlt Kane also auch dort vergleichsweise hohe Gefahr aus, wo der Angriff seines Teams als solcher, in den er sich einschaltet, gar nicht so viel herzugeben scheint.

Tottenham war in den letzten Jahren – unter Pocchettino, aber nicht nur unter ihm – für gewöhnlich eine komplette, formativ flexible Mannschaft mit einer guten Grundbasis, speziell mit Qualitäten in den Pressingabläufen, im offensiven Umschalten und im Attackieren der Tiefe diagonal aus den Flügelzonen. Insgesamt war aber das Angriffsverhalten im vordersten Drittel – trotz jenes letzten Elements – vergleichsweise einfach gestrickt. Es fiel den Spurs schwer, aus der Ballzirkulation anderweitig Dynamik in den Strafraum hinein zu entwickeln.

Gerade die zentralen Achter- und Zehnerräume wurden zumeist eher individuell bespielt und von den Qualitäten der Einzelspieler gefüllt. Im Falle Kanes funktionierte dies dadurch, dass er auch eigentlich mittelprächtigen Spielzügen eine zusätzliche Gefahr einhauchen konnte, weil er als Sturmspitze aus mittelmäßigen Positionen, die jene Spielzüge produzierten, überdurchschnittlich gut abschließen oder den unmittelbaren Abschluss auflegen konnte. Kanes punktuelle, plötzliche Durchschlagskraft machte sich für die Spurs zudem gerade in denjenigen Szenen bezahlt, in denen sie mannschaftlich ein zurückhaltendes Auf- bzw. Nachrückverhalten hatten.

Fazit

Nicht alle Unterzahlsituationen sind aber eine Paradedisziplin des Engländers. Bei sehr schnellen, dynamischen Umgebungen mit Raum passt Kanes Entscheidungsfindung nicht immer so gut: In Szenen mit geringer Unterstützung versucht er einen Angriff manchmal äußerst offensiv und vorwärtsgerichtet weiter zu spielen.

Umgekehrt nimmt sich Kane zwischendurch eigene Pausen in seinem individuellen Nachrückverhalten, wenn er sich weiträumiger nach hinten zurückfallen lassen hat und es anschließend zu einem Schnellangriff kommt. Er hat zwar ein gutes Gefühl für Abpraller in die „zweite Welle“ und kann aus dem Rückraum dank Abschlussqualitäten und Kreativmomente sehr gefährlich werden, wenn er sich zunächst etwas nach hinten zurückgezogen hat. Aber sofern der Anschluss zum Ball durch passives Nachrücken zu sehr fehlt, kommt es nicht mehr dazu.

In letzter Zeit scheinen diese kleinen Schwächen insgesamt seltener zu werden. Langsam nähert sich Kane dem sogenannten „besten“ Fußballeralter und scheint seine Qualitäten und sein Potential, gerade als einleitender Akteur für den Übergang, gezielter und rationaler einbinden zu können – und damit prinzipiell auch konstanter. Er lässt sich weniger von den äußeren (Situations-)Dynamiken beeinflussen. Setzt sich diese Tendenz fort, könnte Kane demnächst nochmals eine neue, höhere Stufe als Fußballer erreichen.

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