Türchen 16: Edwin van der Sar

Edwin van der Sar gilt als einer der Begründer des modernen Torwartspiels. Im Viertelfinalhinspiel der Champions League Saison 2009/2010 stellte er gegen Bayern München unter Beweis, durch welche Eigenschaften er sich von den anderen Toptorhütern seiner Generation abhob.

Mit Einführung der Rückpassregel 1992 schlug die Stunde von Edwin van der Sar, denn von nun an konnte der technisch saubere Niederländer seine fußballerischen Vorteile im Spiel mit Ball ausnutzen. Dabei prägte van der Sar das moderne Torwartspiel nicht nur im Hinblick auf das Spiel mit Ball sondern auch bzgl. der Raumverteidigung.

Die Partie zwischen Bayern München und Manchester United im Hinspiel des Champions League Viertelfinals der Saison 2009/2010, die die Münchner 2:1 für sich entscheiden konnten, war bezüglich der Aktionen im Rahmen der Zielverteidigung, die van der Sar zu lösen hatte, gar nicht so spektakulär. Bis auf eine extrem starke Ballabwehr kurz vor Schluss der Partie gegen Gomez hatte es der Niederländer eher mit vielen, teilweise schwierigen Abschlüssen aus weiter Distanz oder aus spitzem Winkel zu tun. Zu überwinden war er in dieser Partie ausschließlich durch einen abgefälschten Freistoß von Ribery und einen Schuss von Ivica Olic aus wenigen Metern. Deutlich mehr Aktionen hatte van der Sar stattdessen im Rahmen der Spieleröffnung, in der er phasenweise fast schon so etwas wie der zentrale Akteur war.

Technische Sauberkeit als Basis für die Spieleröffnung

In der Karriere von Edwin van der Sar zeigte sich: Perfekt ausgebildete Basistechniken am Fuß sind die Grundlage für ein herausragendes Torwartspiel in Bezug auf die Spieleröffnung. Gegen Bayerns Anlaufen aus einer 4-4-2-Grundordnung heraus hatte United so immer eine sichere Rückfalloption in der Ballzirkulation und einen zusätzlichen Aufbauspieler, der mit den beiden Innenverteidigern eine Überzahl gegen Bayerns Stürmer schaffen konnte.

Edwin van der Sar im Trikot von Manchester United

Van der Sar verfügte dabei nicht nur über eine saubere Ballan- und –mitnahme mit der entsprechenden Variantenvielfalt sondern auch über entsprechend saubere Stoßtechniken. Flache Aufbaubälle zu einem tiefen, zentralen Mittelfeldspieler oder zu einem der beiden Innenverteidiger verfügen dabei im Optimalfall sofort über Vorwärtsrotation, wenn sie den Fuß verlassen. Das führt dazu, dass die Zuspiele schnell und mit Druck laufen, der Passempfänger den Druck aber einfach aus dem Ball nehmen kann und dieser bei der Ballannahme nicht so weit wegspringt. Flugbälle können je nach Situation typisch englisch – also mit flacher Flugkurve, ohne Rotation und mit Zug – oder mit Rückwärtsrotation und steil abfallender Flugkurve am Ende gespielt werden. Zuspiele englischer Art sind dabei gut geeignet, um schnell viel Raum zu überspielen und offensive Angriffsbälle einzustreuen, die einen durchbruchsorientierten Charakter haben. Zuspiele mit Rückwärtsdrall eignen sich eher, um zu vermeiden, dass der Gegner Bälle weiträumig per Kopf klären kann und sind deshalb ein probates Mittel für das Spiel auf zweite Bälle. Sie sind aber aufgrund der Rotation auch einfacher zu verarbeiten, weil der Ball bei der Annahme eher am Körper bleibt.

Die situationsgerechte und passende Anwendung dieser Techniken gepaart mit einer hohen Erfolgsstabilität zeichnete das Spiel van der Sar mit Ball im Allgemeinen und in der Partie gegen die Bayern im Besonderen aus.

Größe als Vorteil bei der Zielverteidigung und als Einflussfaktor auf bestimmte Bewegungsabläufe

Mit 1,97 m Körpergröße gehörte Edwin van der Sar zu den größten Torhütern im Spitzenbereich – und war mit seinen Maßen beispielsweise zwölf Zentimeter größer als der Spanier Iker Casillas. Logisch, dass sich dieser Unterschied auf diverse torwarttechnische Details bei der Zielverteidigung auswirkt, die bei van der Sar im Vergleich zu den heutigen Toptorhütern teilweise etwas unorthodox wirkten.

An dieser Stelle eine kurze Erklärung für alle, die selbst keine Torhüter (bzw. Torwarttrainer) sind oder waren. Bzgl. des Torwartspiels unterteilt man Aktionen der Zielverteidigung unter anderem in Aktionen, die in der sog. Standzone, der sog. Kippzone und der sog. Abdruckzone stattfinden. Die einzelnen Zonen sind mit der grundsätzlichen Bewegungsart (stehen bleiben, abkippen oder sich abdrücken d.h. hechten) assoziiert, die der Torhüter bei der Zielverteidigung anwendet. Geschicktes Stellungsspiel bedeutet in diesem taktischen Konzept sich so zu positionieren, dass der effektiv zu verteidigende Winkel, den der Stürmer für den Torabschluss vorfindet – und damit auch die effektive Trefferfläche des Tores – verkleinert wird. Denn ein extrem spitzer Winkel für den Stürmer bzw. eine extrem kleine, effektiv zu verteidigende Torfläche bedeutet, dass das Agieren in der günstigen Standzone anstelle des Agierens in der Kipp- oder Abdruckzone (selbiges gilt für ein Agieren in der Kippzone anstelle der Abdruckzone) möglich wird.

Torwart in der Standzone

In Bezug auf die Körpergröße eines Torhüters bedeutet das: Ein kleiner Torhüter wird tendenziell häufiger in der Abdruckzone agieren als ein großer Torhüter, weil er ganz einfach Nachteile in der Reichweite hat. Für die Anpassung der Torwarttechnik an die Körpergröße eines Torhüters wie Edwin van der Sar bedeutet das: Kipptechniken nehmen einen größeren Stellenwert ein und können auch zur Verteidigung platzierter Schüsse ins Eck eingesetzt werden.

In Verbindung mit seinem starken Stellungsspiel konnte sich van der Sar aufgrund dieses Umstandes einige unorthodoxe Aspekte (zumindest aus heutiger Sicht) in seinem Torwartspiel leisten (bzw. diese bewusst zulassen). So agierte van der Sar beim Abwehren flacher und hoher Bälle neben den Mann meist parallel zur Torlinie und nicht, wie es heute gängige Ausbildungspraxis ist, diagonal nach vorne, um den effektiven Winkel für den Stürmer weiter zu verkürzen. Entsprechend setzte van der Sar den Abdruck teilweise oder vollständig auf den ballfernen Fuß (d.h. er drückte sich häufig mit dem linken Bein ab, wenn er nach rechts springen wollte). Diese Technik kommt heutzutage in der Regel nur dann zum Einsatz, wenn flache oder halbhohe Bälle aus kurzer Distanz in der Kippzone abgewehrt werden sollen, weil sie Geschwindigkeitsvorteile bietet. Der Abdruck bei Bällen auf die rechte Seite erfolgt ansonsten standardmäßig nur mit dem rechten Bein (und umgekehrt).

Van der Sar beherrschte aber natürlich auch diese Technik. Was für van der Sar durch die Tatsache, dass er beide Techniken sinnvoll bei Bällen in die Torecken einsetzen konnte, von Vorteil war, war der Umstand, dass er beim Anpassen seiner Position im Tor nicht auf Tischtennisschritte (beidfüßiger Bodenkontakt mit kurzen Flugphasen) beschränkt war, sondern ebenso klassische Sidesteps (ein Bein hat immer Bodenkontakt) nutzen konnte. Diese sind vorteilhafter, wenn man sich schnell vom Boden abdrücken will, weil man bereits mit einem Bein Bodenkontakt hat und die entsprechenden Muskelketten auch schon vorgespannt sind.

Van der Sar muss sich nicht abdrücken, sondern kippt lediglich ab, erzielt aber trotzdem eine große Reichweite, die Bewegung geht nicht schräg nach vorne, sondern parallel zur Torlinie

Wer sich das noch weiter verbildlichen möchte, dem seien die Highlights zur Partie ans Herz gelegt, denn bei der abgewehrten Torchance von Gomez kurz vor Schluss erkennt man die gerade angesprochenen Aspekte relativ gut.

Besonderheiten in der Raum- und Strafraumverteidigung

Von der Zielverteidigung zur Raumverteidigung: Van der Sar wählte seine Positionierung im Spiel gegen den Ball in der Partie gegen Bayern relativ hoch, um bei Anspielen hinter die eigene Viererkette zur Stelle zu sein und dem Gegner wenig freien und bespielbaren Raum zu geben. Dies unterschied sich aber nicht von seiner Spielweise in anderen Spielen und ist in diesem und im allgemeinen Sinne auch keine Besonderheit der Raumverteidigung.

Van der Sar antizipiert die Hereingabe und richtet sein Stellungsspiel danach aus ohne die Torverteidigung aus den Augen zu verlieren

Besonders ist aber sicher das Augenmerk, dass van der Sar bereits zu dieser Zeit auf die Verteidigung von Querpässen und Flanken legte. Hier positionierte er sich bei gegnerischem Ballbesitz am Flügel in der Regel selten am kurzen Pfosten, sondern möglichst weit in der Mitte des Tores und mit spieloffener Körperstellung, um bei flachen oder halbhohen Hereingaben auf den ersten Pfosten und hohen Hereingaben auf den zweiten Pfosten bereit zu stehen und diese attackieren zu können.

Seine Fähigkeit die Flugbahn von Flanken sauber einzuschätzen, und seine Körpergröße kamen ihm dabei wiederum in besonderem Maße zu Gute. Ein relativ interessantes Detail: Beim Abfangen von Flanken in Oberkopfhöhe nutzte van der Sar selten den Einsatz eines Schwungbeins (auch gern als „Zieh-das-Knie-an-damit-der-Stürmer-daran-abprallt-und-du-dich-schützt“-Bein bezeichnet) wird. In Verbindung mit seiner sauberen Schritttechnik hatte das zwar den Verlust an maximaler Höhe aus dem Absprung zur Folge, bewirkte aber, dass van der Sar extrem stabil in der Luft und zum Ball stand.

Fazit

Van der Sar zeigte in der Partie gegen die Bayern eine extrem souveräne Leistung mit einzelnen Glanzpunkten. Seine taktische Rolle im Spiel mit dem Ball und seine antizipative Spielweise in der Raumverteidigung machen daraus aber dennoch eine herausragende, weil das heutige Torwartspiel prägende Leistung.

Gelsen 21. Dezember 2018 um 10:10

Bislang das beste Türchen! Als nicht Torwart(-trainer) so einiges gelernt und dazu einen Einblick bekommen, warum van der Saar als Begründer des modernen Torwartspiels gilt. Weiter so!

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tobit 17. Dezember 2018 um 14:32

Großartiger Artikel!
Habe so einiges über Torwartspiel gelernt, was mir vorher nie so klar war. Auch gut in die Spielerbeschreibung eingebunden mit den Gegenüberstellungen der klassischen Torwarttechnik und van der Sar’s Interpretation.

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DreamsTonite 16. Dezember 2018 um 15:17

Kleine Korrektur: War das Viertelfinale

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RT 16. Dezember 2018 um 19:36

Stimmt. Danke für den Hinweis.

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