Türchen 11: Hauke Wahl

Tim Walter revolutioniert bei Holstein Kiel gerade die Rolle des Innenverteidigers. Und Hauke Wahl setzt das auf dem Platz so um, als stünde es tatsächlich in irgendeinem Lehrbuch.


Hauke Wahl in Aktion beim Pokalspiel gegen den SC Freiburg

Vor dieser Saison wäre der Name Hauke Wahl nicht unbedingt gefallen, wenn es um herausragende Spielerleistungen ging. Das liegt keineswegs daran, dass der heute 24-jährige ein besonders schlechter Spieler war. Aber er reihte sich bei Ingolstadt eben in eine mittelmäßige Mannschaft ein, sodass man einige seiner Fähigkeiten gar nicht erst sah und er möglicherweise noch selbst gar nicht von ihnen wusste.

Dann kam der Wechsel zurück nach Kiel, wo er einst den Durchbruch von der U19 zu den Profis schaffte. Dorthin war gerade, ebenfalls aus Bayern, Tim Walter gewechselt – ein Trainer, der bereits im Jugendbereich mit ungewöhnlichen Ideen auffiel. Unter ihm stand Hauke Wahl bis jetzt in jedem einzelnen Spiel über die volle Distanz auf dem Platz. Daniel Roßbach von „Eiserne Ketten“ nannte ihn „Manchmal eine Mischung aus Hummels und Busquets“.

Der Holstein Kiel-Stil

Das auffälligste Merkmal der Kieler Spielweise ist das Verhalten der Viererkette bei eigenem Ballbesitz, insbesondere der beiden Innenverteidiger. Die grundlegende Idee sieht vor, dass der Sechserraum nahezu geräumt wird. Das heißt: Sechser und Achter schieben weit vor, während die Viererkette zunächst insgesamt tief bleibt. Der Clou: Jeweils einer oder mehrere dieser Spieler füllen nun den offenen Raum im Zentrum auf.

Zu Beginn der Saison, so auch beim beeindruckenden 3:0 über den HSV, geschah dies aus einer Formation im 4-2-3-1 heraus. Nach einzelnen Versuchen im 4-3-3, wurde im Laufe der Spielzeit jedoch ein 4-Raute-2 zum Standard. In dieser Ausrichtung gibt es stets zusätzlich zur Viererkette einen tiefen Sechser, in der Regel Jonas Meffert, was noch mal für mehr Flexibilität bei der Raumbesetzung gibt und zudem etwas mehr Absicherung verspricht.

Kinsombi und Mühling füllen demgegenüber die Achterrollen vor ihm auf unterschiedliche Art und Weise umtriebig aus. Kinsombi ist ein physisch und spielerisch dominanter Typ, der gerne auch mal aus tieferen Zonen ankurbelt und im Prinzip fließend zwischen Sechser, Achter und Flügelspieler wechselt. Mühling besetzt zumindest zu Beginn der Angriffe erst mal eher die letzte Linie und balanciert dort die Bewegungen anderer Spieler, um dann immer wieder auch selbst in den (ballfernen) Halbraum zurückzufallen.

Der koreanische Nationalspieler Lee wird davor als Zehner aufgeboten. Er ist ein pressingresistenter Verbindungsspieler, der mindestens mal durchschnittliches Erstliga-Niveau aufweist. Die beiden Stürmer Serra und Schindler weichen beide ebenfalls gerne einmal zum Flügel aus. Schindler ist eigentlich auch eher auf dieser Position zu Hause, während Serra im Grunde ein klassischer Zielspieler ist, der seine Stärken insbesondere mit Rücken zum Tor hat. Entsprechend ergibt sich auch hier eine etwas unterschiedliche Rollenverteilung.

Was aus diesen Ausführungen deutlich werden sollte: Kiel wechselt sehr gerne die Positionen. Die gesamte Spielanlage gestaltet sich höchst flexibel, aber eben gar nicht mal so wild, sondern anhand klarer Vorgaben, welche Räume zu besetzen sind. Im Grunde stellt Kiel somit eine Positionsspiel-Mannschaft im Sinne des klassischen „Totaalvoetbal“ dar. Das lässt sich auch schon ganz gut beim Aufwärmen beobachten:

Die Mannschaft von Tim Walter kehrt eine Normalität des Fußballs um. Die allermeisten Mannschaften greifen häufig effektiv in Unterzahl an, da die restlichen Spieler zur Absicherung weiter hinten verbleiben. Auch Pep Guardiola ist beispielsweise sehr auf diesen Aspekt bedacht. Im Zweifel ist er ihm sogar am wichtigsten. Im Zuge dieser Denkweise entstand etwa auch die Idee, seine Außenverteidiger einrücken zu lassen – Konterabsicherung als oberste Priorität.

Man kann das zugrundeliegende Prinzip überspitzt folgendermaßen auf den Punkt bringen: Besetzen Mannschaften den Strafraum massiv, fehlen ihnen zentral Verbindungen. Stellen sie zentral Verbindungen her, so fehlt es an offensiver Präsenz. Diese Mängel werden dann entweder durch individuelle Fähigkeiten in bestimmten Bereichen oder über das Fokussieren ganz bestimmter Strukturen/Abläufe behoben.

Kiel hingegen besetzt die letzte Linie in der Regel mit enorm vielen Spielern und hält zudem ausreichend Personal im Raum dahinter. Dadurch wird der Gegner schon einmal zurückgedrängt und zugleich der Sechserraum geöffnet. Dieser kann nun für Verbindungen von den weiter hinten befindlichen Spielern zugelaufen werden. Kiels Außenverteidiger rücken nicht wie bei Guardiola vor allem zur Absicherung ein, sondern für den Angriffsvortrag.

Statt irgendwo weiter vorne konsequent in Unterzahl zu sein oder große Lücken aufzuweisen, schafft Kiel vor der eigenen Abwehr Raum, der dann auch noch genutzt wird. Auf mehr Fläche ist das Kombinationsspiel mit wenigen Spielern schlichtweg einfacher und mit jenen dynamischen Abläufen lässt sich der Gegner gut manipulieren.

So wird dann entweder oft ein konstruktives Aufbauspiel möglich, das nach einem ersten Durchbruch Angriffe häufig wie Konter aussehen lässt, oder man hat alternativ stets eine gute Präsenz für direktes Spiel nach vorne sowie anschließende zweite Bälle. Aus solch einer Staffelung lässt sich dann auch der Strafraum schnell vielzählig besetzen.

Insbesondere wenn Kiel noch ein Tor schießen muss, sind sie nur schwer zu verteidigen. Einzig gegen Union Berlin und Jahn Regensburg blieb man in dieser Saison ohne eigenen Treffer. In 8 Saisonspielen (inklusive Pokal) konnte ein Rückstand bislang mindestens noch zu einem Unentschieden gedreht werden.

Ein wahnsinniges Spiel

In der beschriebenen Ausrichtung gab es beim 4:0-Auswärtserfolg in Duisburg jüngst die vielleicht beste Saisonleistung der Störche zu bestaunen. Die spektakulärste Begegnung stellt allerdings das 4:4 beim SC Paderborn dar. Ausgerechnet gegen jenen Verein, der Hauke Wahl 2015 für 500.000€ von Holstein Kiel verpflichtete. Das vielleicht ansehnlichste und wohl wahnwitzigste Fußballspiel, das es diese Saison im professionellen Fußball so zu sehen gab. Eine ausführliche Analyse dazu findet sich hier.

Die Kurzform: Kiel ging nach weniger als 10 Sekunden durch einen Fehler im Aufbau in Rückstand, ließ sich aber überhaupt nicht vom üblichen Spielstil abbringen, drehte einen 3:1-Rückstand zwischen der 71. und 80. Minute zu einer 4:3-Führung. Paderborn zog aber ebenfalls sein gewohnt offensives, intensives Spiel durch und glich ganz am Ende noch aus.

Dass ein Innenverteidiger bei einem 4:4 seiner Mannschaft herausragend gewesen sein soll, würde ich erst mal nicht für möglich halten. Aber in diesem Fall war es anders. Hier sind die Gründe, die sich eigentlich nur mithilfe vieler Grafiken darstellen lassen.

Risiko-Verteidigung mit Anschlussaktionen

Wie zuvor bereits angedeutet, gestaltet sich Kiels Restverteidigung (von Absicherung im klassischen Sinne kann man nicht sprechen) zunächst einmal numerisch gesehen höchst riskant. Man kann des Öfteren Situationen wie diese beobachten, in denen einer der Innenverteidiger im 1 gegen 1 an der Mittellinie verteidigt. Manchmal befinden sich zunächst einmal auch beide Innenverteidiger gegen drei Angreifer in Unterzahl.

Kiels „Absicherung“ beim Spiel in Duisburg

Nach Lehrbuch gibt es in solchen Situationen für die Verteidiger häufig nur eine Wahl: Sich zurückfallen lassen und auf Unterstützung warten. Es birgt allerdings durchaus Risiken, wenn man alleine oder zu zweit kurzzeitig eine Hälfte des Feldes verteidigen muss. Der Gegner kann freie Räume mit Ball anlaufen, was sich nur schwerlich aufhalten lässt und somit ein Nachrücken der eigenen Mitspieler erschwert.

Kiels Lösung ist es hier auch und gerade in der Konterabsicherung aggressiv in direkten Duellen zu verteidigen, sofern dies möglich ist. Aufgrund des aggressiven Gegenpressings können Gegner tiefe Bälle nur unter Druck spielen. Ihre Zuspiele in den freien Raum sind meist ungenau oder sie spielen ihre Vorwärtspässe zu einem Spieler, der sich mit dem Rücken zum Tor befindet.

Dieser wird dann eng verfolgt, sodass ein Aufdrehen nicht möglich ist. Aufgrund des kurzen Abstands zum Rest der Mannschaft können die Kieler Mittelfeldspieler sich deutlich schneller hinter den Ball zurückfallen lassen oder doppeln. Wenn man sich im Anschluss dennoch zurückfallen lassen muss, tut man dies deutlich effektiver, da hierfür mehr Spieler zur Verfügung stehen, die einen Schnellangriff tatsächlich auch abbremsen könnten.

Der klare Nachteil: Bei falschem Timing oder grundlegend schlechter Situationseinschätzung bricht der Gegner direkt durch und kann nicht einmal mehr halbwegs aus dem Tempo gebracht werden, während er aufs Tor zuläuft.

Aber dafür gibt es eben einen Hauke Wahl. Im Spiel gegen Paderborn zeigte sich ein ums andere Mal seine Qualität und Erfolgsstabilität beim Vorwärtsverteidigen. In folgender Szene rückt er nicht nur im richtigen Moment aggressiv auf seinen Gegenspieler heraus. Er positioniert seinen Körper auch so, dass ein Zuspiel zu den beiden Paderbornern, die links von ihm gefährlich werden könnten, nicht mehr möglich ist.

Da der ballführende Spieler so keine Optionen mehr hat, gelingt es Wahl, ihn einfach zurückzudrängen – mitten hinein in eine Traube von Kieler Spielern. Zwei von ihnen sichern unmittelbar ab, ein weiterer übt mit Wahl gemeinsam Druck auf den Ballführenden aus. Ballgewinn.

Und dann die nächste Besonderheit: Wahl lässt sich nicht direkt wieder zurückfallen, nachdem er weit aus seiner angestammten Position herausverteidigt hat. Das wäre auch gar nicht so sinnvoll, weil ja bereits andere Spieler absichern. Er setzt stattdessen seinen Lauf im vorderen rechten Halbraum fort.

Häufig nutzt Wahl auf diese Art und Weise den Fluss des Spiels für seine eigene Aktion. Doch er läuft nicht stur durch, sondern bietet sich auch noch so an, dass Schindler ihn von außen anspielen kann und er im Dreieck zurück zum freien Rechtsverteidiger Dehm spielt. Mit Schindler kombiniert Wahl dann im Anschluss noch an Paderborns Flügelverteidigung vorbei.

Im und über das (Gegen-)Pressing kann Hauke Wahl so zum Spielmacher werden. Den Treffer zum 3:3 leitet er beispielsweise über einen Ballgewinn im 1 gegen 1 nach Ballverlust ein. Kiel kann in den ballfernen Halbraum durchspielen und Mühling kommt zum erfolgreichen Abschluss.

Wahl auf der Ballseite

Hauptsächlich wird Wahl jedoch im tieferen Aufbauspiel zum entscheidenden Kieler Spielmacher. Weiter vorne sind es dann eher Lee und Kinsombi, welche hauptsächlich Akzente setzen.
In Bezug auf Hauke Wahl kann man hier verschiedene Lösungen unterscheiden, je nachdem, wo er sich in Relation zum Ball befindet.

Bekommt er diesen selbst zugespielt und der Außenverteidiger ist in seiner Nähe anspielbar, so passt er kurz zu ihm, setzt sich aber zunächst nicht nach hinten ab. Ganz im Gegenteil ist es eher der Regelfall, dass der Lauf nach vorne fortgesetzt wird.

In Szenen wie der nächsten ergeben sich dann mehrere Möglichkeiten. Es kann ein direkter Doppelpass zwischen ihm und dem Außenverteidiger gespielt werden, wenn er in den freien Raum durchläuft und der Außenverteidiger so schnell spielt, dass auf keinen der beiden unmittelbar Druck ausgeübt werden kann.

Dauert es länger, da der Außenverteidiger selbst nicht in optimaler Position für eine Spielfortsetzung ist und etwas mehr Zeit benötigt, bleibt Wahl in derselben Position, dreht sich jedoch mindestens leicht mit dem Rücken zum Feld und wird quasi zum Sechser. Dadurch bleibt er weiterhin anspielbar.

In konkretem Beispiel setzt ihn Dehm auch in dieser Position ein. Wahl zieht den Druck eines Paderborners auf sich, spielt zu Dehm zurück und läuft wieder in den neu geöffneten Raum nach vorne, um für ein weiteres Zuspiel bereitzustehen. Dehm entscheidet sich jedoch für ein direkten Ball nach vorne, wo Kiel eine Überladung erzeugt hat und Lee den Raum hinter der Kette attackiert.

Das Durchlaufen kann aber auch, wenn es mannorientiert verfolgt wird, einfach den Raum für einen Rückpass zum Torhüter oder ballfernen Innen-/Außenverteidiger öffnen. Dies trägt dazu bei, die Ballzirkulation bei gleichzeitiger Änderung der Struktur aufrechtzuerhalten. Es wird Raum für den Aufbau in der ersten Linie freigezogen.

Ein weiteres Mittel, das Wahl in diesem Spiel anwendet, ist es zudem, den Lauf lediglich anzutäuschen, wenn Dehm eine anderweitige Option zur Spielfortsetzung hat. So verfolgt der Paderborner ihn kurzzeitig und spiegelt auch das anschließende Stoppen, welches Wahl dafür nutzt, um die Richtung zu ändern und selbst in Position für einen Rückpass zu kommen.

Wahl auf der ballfernen Seite

Hat sich Wahl im Zentrum nach vorne bewegt, bleibt er auch erst einmal dort, sofern der Sechserraum eben nicht von einem oder mehreren Mitspielern adäquat besetzt wird. Seine höhere Position ist dabei oft Resultat eines eigenen Anlockens des Gegners, entweder über eine der zuvor beschriebenen Aktionen oder über ein Dribbling. Beim neuerlichen Aufbauversuch der eigenen Mannschaft setzt Wahl dann seinen Lauf tatsächlich so lange fort, bis er eine freie Position besetzt. Auf diesem Wege kann er etwa als rechter Innenverteidiger im linken Sechserraum enden oder andersherum.

Wie das Ganze aussehen kann, zeigt sich in der folgenden Aktion: Nach einem Dribbling passt Wahl den Ball selbst zum anderen Innenverteidiger Thesker zurück. Meffert hält als Sechser das Zentrum und bindet einen anderen Paderborner Spieler. Linksverteidiger Van den Bergh bietet sich auf seiner Seite breiter für eine unmittelbare Spielfortsetzung an. Neben ihm öffnet sich eine Lücke, die Wahl erkennt und durch ein einfaches Fortsetzen seines Laufes auch nutzen kann.

Für Paderborn entsteht so ein Dilemma. Wird kein Druck auf Van den Bergh ausgeübt, bricht dieser einfach am Flügel durch. Verfolgt zudem niemand den am Flügel ausweichenden Kinsombi, kann Kiel sich dort sogar denkbar einfach durchkombinieren, zumal der Außenverteidiger Paderborns zusätzlich gebunden ist. Da Meffert weiterhin direkt bewacht wird, gibt es im ersten Moment niemanden, der Wahl direkt aufnehmen könnte. Schließlich kommt er auch noch aus der „blind side“

Räume im Rücken des Gegners

Diese macht sich Hauke Wahl ohnehin gerne zunutze. Im Spiel gegen Paderborn lassen sich zwei Beispiele finden, anhand derer unterschiedliche Varianten deutlich werden.

Die horizontale Variante sieht man durchaus auch bei anderen Spielern und Mannschaften. Wenn der Ball sich auf der gegenüberliegenden Seite befindet und der Passweg zur Mitte oder in den gegenüberliegenden Halbraum freisteht, schiebt der dortige Innenverteidiger hoch. Da der Stürmer in seiner Nähe in der Regel auf den Ball schaut, ist dieser Lauf schwer zu verfolgen. Falls das doch geschieht, hat ein anderer Spieler normalerweise ausreichend Zeit, sich entsprechend in Position zu bringen.

Was im konkreten Beispiel im Vergleich zu anderen Mannschaften auffällt: Wahl bewegt sich zwar sinnvoll aber quasi ohne Absicherung. Sonst würde noch mindestens mal der andere Innenverteidiger mit absichern oder der ballferne Außenverteidiger stünde näher zu ihm.

Weiterhin sucht Wahl dann das Zuspiel in die Spielertraube auf halblinks, mit der Kiel ganz bewusst einen bestimmten Bereich überlädt. Der Pass erfolgt etwas spät, sodass Paderborn sich ein wenig zusammenziehen kann. Lee hatte bereits Sekunden früher ein entsprechendes Angebot gegeben. Dennoch entsteht Gefahr und Kiel kontrolliert zumindest den anschließenden Abpraller.

Die zweite, vertikale Variante gestaltet sich demgegenüber noch etwas extremer und unkonventioneller. Einer der Paderborner Stürmer läuft Kronholm an. Der Weg für ein seitliches Angebot ist zu weit für Wahl, weshalb er sich nach kurzem Lauf gegen diese Option entscheidet und sich stattdessen hinter dem pressenden Spieler in eine Lücke bewegt.

Dort erhält er den Ball auch, allerdings nur in halboffener Stellung zum Feld. Doch von der anderen Seite kommend, hatte er den Spieler, der am ehesten Druck ausüben kann, bereits im Blick und kann sich von ihm wegdrehen. Im Anschluss hat er das Feld dann komplett im Blick und kann den nächsten anlaufenden Gegner wiederum mit einem Pass auf den von ihm zuvor gedeckten Meffert aus dem Spiel nehmen. Kiel kann anschließend den freien Raum auf links mittels einer Überladung nutzen.

Insbesondere anhand dieses Beispiels fällt auf, wie die Störche oftmals taktisch in Bezug auf den genutzten Raum schon sinnvolle, also gar nicht, wie man meinen möchte, absolut wahnsinnige Varianten wählen. Die Entscheidungen sind häufig vielmehr riskant, was ihre Ausführung betrifft.

Andere Teams würden einen weniger wertvollen und offenen Raum bespielen, der eine leichtere Ausführung ermöglicht. In diesem Fall wäre dann praktisch nur der direkte lange Schlag möglich. Ein falsches Aufdrehen von Wahl und Paderborn hätte nach Ballgewinn im Prinzip das leere Tor vor sich. Aber gerade im Lösen solcher Situationen liegt die Wichtigkeit des 24-jährigen.

In Relation zu Mitspielern

Dabei ist es nicht unbedingt immer er selbst, der freie Räume nutzt und auffüllt. Er kann etwa auch als eine Art „Magnet“ dienen. Insbesondere bei Abstößen bietet er sich kurz für den ersten Pass an, auch wenn ein Gegenspieler sich direkt auf ihn orientiert.

In konkreter Szene spielt er den Ball anschließend einfach direkt auf Kronholm zurück und weicht etwas seitlich aus, um so seinen Gegenspieler mit sich zu ziehen. Ein weiterer Paderborner presst auf den Torhüter durch. Aus beiden Faktoren zusammen ergibt sich ein Passfenster für Thesker, das dieser durch kurzes Vorrücken nutzt. Der Pass von Kronholm kommt etwas zu weit, aber der Kieler Innenverteidiger kann dennoch nur per Foul gestoppt werden.

Wahl hilft nicht nur beim Öffnen von Räumen. Er passt sich auch in der eigenen Raumbesetzung an die Mitspieler an. Im nächsten Beispiel hat Thesker bereits den Sechserraum besetzt, wird jedoch unmittelbar verfolgt, sodass es aus seiner Sicht Sinn ergibt, den entsprechenden Lauf fortzusetzen. Wahl hat in Ballbesitz aber entsprechend auch keine andere Option, als zu Kronholm zurückzuspielen.

Im Anschluss bleibt er jedoch nicht auf seiner Seite und lässt Thesker wieder zurücktraben, sondern geht seinerseits auf dessen Position, zu der er sich von allen Spielern am nächsten befindet. Thesker geht entsprechend auf Wahls ursprünglichen Platz, während Dehm daneben für eine zusätzliche Anspieloption sorgt, die Wahl teilweise durch seine Bewegung freizieht. Der zentrale Bereich von der Abwehr könnte nun von einem vierten Spieler (etwa Van den Bergh) aufgefüllt werden.

Das Spiel gegen die Dynamik

Ähnliche Situation, andere Lösung: Wahl positioniert seinen Körper so, dass ein Rückpass auf Kronholm als wahrscheinlichste Option erscheint. Deshalb orientiert sich der Paderborner Spieler eher an diesem Passweg, anstatt den vorgerückten Thesker unmittelbar zu decken.

Doch Hauke Wahl wartet, bis ein weiterer Gegenspieler genau auf ihn aufläuft und den Ball aggressiv erobern will. Als er wie erwartet einen längeren Ausfallschritt macht, wird er kurzerhand getunnelt. Thesker bekommt den Ball und kann ohne Gegenwehr loslaufen.

Bereits zu Beginn erwähnte ich, dass Hauke Wahl häufig mit der Dynamik der jeweiligen Situation spielt. Kann er seinen Lauf in einen freien Raum fortsetzen, tut er das auch einfach. Aber dass er das nicht wahllos (haha!) macht, zeigt sich wiederum spektakulär an solchen Aktionen. Denn mit der Dynamik zu spielen, heißt, dass man sie zuvor lesen muss – um dann Situationen zu finden, wo man doch besser bewusst gegen sie spielt.

Ein eindrucksvolles Beispiel hierzu: Wahl bekommt den Ball von Kronholm und wartet, bis er angelaufen wird. Dann passt er zurück und sprintet in Richtung Zentrum. Der Gegenspieler verfolgt ihn dabei. Van den Bergh ist seinerseits gedeckt und kann kaum so zurückfallen, dass eine Spielfortsetzung möglich ist.

Wahl bleibt also unter leichtem Armeinsatz im Rücken des Gegenspielers und stoppt seinen Lauf anschließend für einen Richtungswechsel, ist kurz frei, bekommt den Ball und passt auf Kronholm zurück, der das Zentrum frei vor sich hat. Dorthin startet wiederum im Rücken des Gegenspielers – Hauke Wahl. Und als dieser ihn verfolgt, wechselt er seine Richtung einfach noch mal ein bisschen weiter vorne. Das klassische Katz- und Mausspiel.

Dynamiken lassen sich aber natürlich nicht nur für das Freilaufen nutzen, sondern auch wenn man selbst den Ball am Fuß hat und einfach mal losdribbelt. Wahl wird dabei noch seitlich unter Druck gesetzt. Dann geht er bewusst in den Raum zwischen zwei Gegenspielern, sodass diese versuchen ihn zu doppeln. Das sieht Wahl und lässt diese beiden sowie den vorherigen Verfolger quasi ineinanderlaufen, während er per Außenrist ins Zentrum weiterdribbelt.

Hier kommt der nächste Spieler von weiter vorne und stellt sich ihm in den Weg. Wahl nutzt diese Rückwärtsbewegung und legt den Ball genau dorthin, wo der Gegner herkam, sodass ein erneuter Richtungswechsel beim Verteidigen kaum möglich ist. Das macht er übrigens, während er mit dem rechten Fuß eine Art Croqueta ausführt. Dann ist endlich der Weg frei, um einen diagonalen Flachpass in die (ballferne) Mitte anzubringen. Eine irrsinige Lösung, vor allem wenn man bedenkt, dass die Szene passiert, kurz nachdem Kiel das 4:4 kassiert hatte.

Fazit

Bei all dem Lob und all den interessanten Aspekten sollte man natürlich nicht denken, dass Hauke Wahl ein Weltklassespieler ist und dass Holstein Kiel in den nächsten Monaten die zweite Bundesliga nach Belieben dominieren wird.

Er zeigt durchaus Schwächen im klassischen Verteidigen, in der Abstimmung mit der Kette und ist eigentlich auch gar nicht so kopfballstark, wie man bei seiner Statur vermuten würden. Auch sein weiträumigeres Passspiel ist nicht auf konstant hohem Niveau. Auf rechts neigt er unabhängig von der Situation etwa stets dazu, den Pass zum Außenverteidiger zu suchen.

Andererseits ist es auch ganz schön schwer Hauke Wahl zu bewerten, da einfach kein anderer Fußballer (auf der Welt?) momentan in einer vergleichbaren Rolle eingesetzt wird (wenn ihr einen kennt, zeigt ihn mir). Das hängt dann wiederum mit Tim Walter zusammen.

Nur wenige Trainer sind kreativ und mutig genug, um überhaupt auf solche Ideen zu kommen. Daraus ergeben sich aufgrund des hohen Risikos bei der Ausführung gerne mal verrückte Spiele wie eben dieses 4:4. Ein Lichtblick in der 2. Bundesliga. Eine wahrhaft unkonventionell herausragende Leistung, die ohne Hauke Wahl nicht möglich gewesen wäre.

Dom 14. Dezember 2018 um 20:29

Sehr interessante Analyse! Es macht manchmal fast den Eindruck die beiden Innenverteidiger zusammen mit dem Sechser tauschen im Kreis ihre Positionen. RIV -> 6er, LIV -> RIV, 6er -> LIV.
Ich meine, Hertha hat in einer der ersten Dardai Saisons etwas ähnliches mit den drei zentralen Mittelfeldspielern gemacht. Eine recht simple Methode die Mannorientierungen des Gegners ins Laufen zu bekommen, die den Spielern nach dem ersten initiierenden Lauf auch klare Signale für die Folgeaktionen gibt. Nur um auf die Kieler Variante der Rotation mit den eigentlich absichernden Spielern zu kommen, braucht es schon einiges an Kreativität und Mut. Respekt dafür, solche Ideen machen den Fußball meiner Meinung nach aus!

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August Bebel 12. Dezember 2018 um 14:02

Super Text! Im Freilaufverhalten von Innenverteidigern und in ihrem Spiel mit dem Ball liegt noch viel Potential brach, glaube ich, und das wird hier eindrucksvoll aufgezeigt. Aus Gründen der Risikovermeidung halten Innenverteidiger normalerweise relativ statisch ihre Position: wann sieht man schon mal so was eigentlich einfaches wie einen Positionstausch oder auch nur einen kurzen Antritt nach vorne, um sich in einer Lücke anzubieten? Ich habe allerdings den Eindruck und die Hoffnung, dass sich das zunehmend ändern wird, nicht zuletzt auch durch die verstärkte spielerische Einbindung der (technisch verbesserten) Torhüter.

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Daniel 12. Dezember 2018 um 11:25

Danke für diesen sehr starken Artikel. Mein Liebling bisher im Adventskalender: zum einen, weil es die längste und detaillierteste Analyse ist, zum anderen aber auch, weil die beschriebene Spielerrolle die ungewöhnlichste und kreativste ist. Die meisten anderen Türchen waren ja sehr starke Leistungen in einer taktisch relativ „normalen“ Einbindung, was dann in Textform nicht immer rüberzubringen ist. Gerne mehr.

Als Bayernfan verfolge ich Walter schon länger, ein überragender Trainer und versuche seit er da ist auch Kiel etwas zu verfolgen. Dass er dort Erfolg hat wundert mich nicht. Hoffentlich sieht man ihn bald in der Bundesliga, für kommenden Sommer suchende Bundesligisten ist er die in meinen Augen beste Wahl (offensichtliche Namenswitze bezüglich Hauke Wahl spar ich mir jetzt mal 😉 ).

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kalleleo 11. Dezember 2018 um 19:43

Sehr ausfuehrliche Analyse, prima! Hauke Wahl in einer Reihe mit Haller und Loddar hatte ich jetzt auch nicht so erwartet. Immer schoen hier was ueber die 2.Liga zu lesen.

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Mananski 11. Dezember 2018 um 15:44

Sehr, sehr geil. John Stones hat früher auch mal bei ManCity nach Pass auf den AV auf die 6 durchgeschoben. Werde mir mal Kiel ansehen in nächster Zeit!

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