Türchen 12: Paul Verhaegh
Hinter dem wenig herausstechenden Eindruck von Augsburgs niederländischem Kapitän Paul Verhaegh verbirgt sich ein – gerade für einen Außenverteidiger – enorm spielstarker und unterschätzter Liebling von Spielverlagerung.
Kaum jemand kennt den Kapitän des FCA in seiner gesamten Fähigkeitenpalette, denn eigentlich wird er allein als ein solider, zuverlässiger, aber nicht allzu besonderer Defensivmann wahrgenommen und möglicherweise auch wegen seines Alters unterschätzt. Als Louis van Gaal ihn im Sommer 2013 zum ersten Mal ins Aufgebot der niederländischen Nationalmannschaft berief, schwankten die Reaktionen zwischen ungläubiger, unbeteiligter Überraschung und skeptischem Unverständnis – was bitte sollte Oranje mit „diesem Paul von Augsburg“, fragten einige. Wenngleich leider gar nicht so viele Einsätze für Verhaegh im Dress der Elftal erfolgen sollten, erwies sich seine Einladung doch als ein geschickter Zug des damaligen Bondscoachs und man könnte insgesamt sogar so weit gehen zu sagen, dass das DFB-Team einen Spieler wie Verhaegh derzeit durchaus gut gebrauchen könnte.
Aufbaustarker Stabilisator
Mittlerweile ist dieser öffentlich nun etwas bekannter geworden, allerdings eher durch seine Konstanz, seine „Führungsrolle“ bei Augsburg, seine Elfmetertore oder gelegentliche Vorarbeiten im flügellastigen Offensivspiel der Fuggerstädter. Die wichtigste Qualität des Niederländers liegt allerdings in tieferen Bereichen und stellt damit auch den entscheidensten Beitrag des Kapitäns für das System der Weinzierl-Elf dar: Verhaegh ist vor allem ein sehr moderner Aufbauspieler, von denen es in dieser Form auf dem Außenverteidiger-Position tatsächlich nur wenige gibt. Während die dominante linke Seite der Augsburger Ausrichtung vom herausragenden und gerne herauskippenden Daniel Baier sowie dem spielstarken Ragnar Klavan getragen wird, ist es auf der anderen Außenbahn Verhaegh, der die entscheidende Rolle im Aufbau einnimmt und alleine das Gegenstück zu diesen beiden starken Teamkollegen bildet.
So spult er nicht nur das Programm in der Ballzirkulation ab, bietet eine Anspielstation und lässt das Leder dann weiter durch die Formation laufen, sondern sein Mehrwert besteht darin, dass er aufgrund der genannten Aspekte die Augsburger Bemühungen entscheidend voranbringt oder – wenn die Situation es gerade nicht zulässt – zumindest den Ballbesitz sichert. Auch hinsichtlich des Rhythmus wirkt der Kapitän damit förderlich, beruhigend und stabilisierend auf die Mannschaft – eine bestimmte Form von Führungsspieler-Ausstrahlung, wenngleich eine kaum beachtete. Allerdings beschränken sich die spielerischen Qualitäten des Kapitäns nicht allein auf die Aufbauarbeit, sondern seine Beiträge sind auch in den vorderen Offensivzonen entsprechend stark, durchschlagend und effektiv – methodisch auf ähnliche Weise, da er die meisten Eigenschaften und Stärken aus den ersten Angriffsphasen etwas abgewandelt auch weiter vorne einbringen kann.
Spielstarker und rationaler Berserker in der Offensive
So zeigt er sich im letzten Drittel nicht nur als Durchbruchsspieler, der mit Tempo zur Grundlinie geschickt wird, sondern bringt seine belebenden, die Spielzüge verbessernden Aktionen auch hier ein. Immer wieder zieht er diagonal in den Halbraum und wirkt dabei mit seinen Zuspielen und Bewegungen antreibend, was eine entscheidende Stärke des Niederländers darstellt. Gelegentlich gibt es auch kaum beachtete Szenen, in denen er mit seiner rational balancierten Wirkung misslungene Ansätze der Augsburger Spiels noch rettet oder sie in eine andere, bessere Richtung umlenkt und sie damit gewissermaßen am Leben erhält. Bei den Aktionen über die Flügel gibt er dann teilweise auch mal Hereingaben oder die aus taktischer, ästhetischer und statistischer Sicht nicht unbedingt empfehlenswerten Flanken, doch in der Quantität liegt ihre Anzahl bei Verhaegh doch verhältnismäßig tief.
Ein ganz wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass der Niederländer nicht einfach in standardmäßigen Umständen Flanken sucht – wie so viele andere seiner Kollegen, die gerade aus offenen Szenen einfach eine solche in den Strafraum schlagen, weil sie wohl glauben, es werde von einem Außenverteidiger in einer derartigen Situation erwartet. Stattdessen achtet Verhaegh deutlich bewusster auf den Zeitpunkt und die Umstände, begrenzt den Einsatz dieses Mittels also nur auf die wirklich „passenden“ und erfolgsversprechenden Momente. Entsprechend ist er auf diesem Wege dann auch effektiver als andere, zumal seine Technik bei Flanken und Hereingaben in Sachen Schnitt und Druck meistens in besonderem Maße zu überzeugen weiß.
Seine Effektivität und seine durch die Klarheit bedingte, taktisch statt physisch getragene Durchschlagskraft brachten ihm redaktionsintern bereits den halb-ernstgemeinten Spitznamen „Berserker-Paule“ ein. Auffällig ist bei Verhaeghs insgesamt sehr systematischer und logischer Spielweise, dass er bei eigenem Ballbesitz sich vor allem auf die Aktionen selbst – ob nun einleitender, weiterspielender, anpassender oder „bereinigender“ Natur – konzentriert, aber in möglichen Anschlussaktionen eher passiv agiert. Zu Teilen ist dies natürlich aufgrund von Absicherungsgedanken, gerade wegen seiner unscheinbaren, systematisch veranlagten Spielweise bedingt, weshalb er aus seiner funktionalen Rolle als Außenverteidiger nur selten ausbricht. Manchmal wirkt es dennoch so, als würde er sich hierbei selbst auf eine Rolle als in die richtige Richtung lenkender Pol beschränken – vielleicht etwas zu sehr im Glauben daran, dass die Mitspieler aus diesen Vorarbeiten den Angriff schon vernünftig weiter- und zu Ende führen würden. Gelegentlich gäbe es bezüglich dieser Aktivität noch Steigerungspotential bei Verhaegh, der seine gesamte Kombinationsstärke bisher noch kaum vollständig genutzt hat. Allerdings sei hier noch einmal die Absicherungspflicht ebenso anzumerken, wie die Tatsache, dass das kombinative Ausbrechen in längere Interaktionen bei ihm dennoch schon deutlich ausgeprägter ist als bei vielen anderen Fußballern auf seiner Position.
Es folgt nun ein Beispiel für Verhaeghs Aufbaustärke und Pressingresistenz anhand seiner quasi ersten Aktion im niederländischen Nationaldress in der 2. Minute seines Debütmatches im vergangenen Sommer gegen Portugal:
Geschickte Defensivstärke trotz individueller Probleme
Defensiv zeigt der Augsburger ein sehr bewusstes, aktives und vor allem durch stetig kleine anpassende Bewegungen verändertes Stellungsspiel. Dadurch sichert er taktisch sehr geschickt nicht nur seine Mitspieler, sondern teilweise auch Synergien und größere Dynamiken ab. Dies wiederum erlaubt ihm immer wieder geschickt klärende Aktionen zu zeigen und auf diese Weise einen effektiven Beitrag für das Defensivspiel zu leisten. Auch hierbei nutzt er sein systematisches Geschick, seine Antizipationsfähigkeit und seine logische Denkweise, um in den richtigen Situationen – die Vorteile von vorausschauendem Verhalten ausschöpfend – einzugreifen. Teilweise agiert und bewegt er sich defensiv so, dass er sich selbst passende Situationen herstellt oder sich in solche bringt, um dann im richtigen Moment die verteidigende Aktion zu machen. In sehr dynamischen und weniger von ihm kontrollierbaren Szenarien ist dies nicht immer so gut möglich, doch meistens versucht Verhaegh sich auch dort ähnlich zu verhalten. Insgesamt zeigt sich an diesem Punkt erneut seine systematische und konzentrierte Art, durch die er in einzelnen Szenen sehr prägnant eingreifend eine bissige, kämpferische Haltung einnehmen kann – mit verringertem Risiko.
Im individualtaktischen Bereich ist Verhaegh gegen den Ball eigentlich nicht besonders stark und besitzt hier seine vielleicht größte Schwäche. Problematisch sind vor allem die geringe körperliche Beweglichkeit und auch die nicht optimale Grundschnelligkeit im Defensivzweikampf, die ihn in offeneren Situationen in Schwierigkeiten bringt. Bei der WM musste er im Kontext des niederländischen Mannorientierungsfokus in der Partie gegen Mexiko aufgrund eher geringer ballnaher Unterstützung einige Dribblings mit anschließenden Distanzschüssen zulassen. Deren Gefahr konnte er durch teils geschickte Reaktion zwar noch etwas mindern, allerdings attackierten diese eben dennoch schnell und auffällig das Tor. Generell ist es normalerweise eine Qualität Verhaeghs, durch geschicktes und intelligentes Verhalten sowie Anpassung an gegnerische Aktionen die eigenen individuellen Schwächen ein Stück weit zu kaschieren bzw. der Möglichkeit auszuweichen, dass sie aufgedeckt werden können. Dafür bedient er sich unter solchen Umständen einer etwas zurückhaltenden Spielweise und weiß sich darauf zu konzentrieren, die Versuche des Gegners zu verzögern. Bei komplexeren, weniger offenen Situationen kann sich Verhaegh ohnehin besser in direkte Duelle verwickeln und ist dann auch individuell durchaus zweikampfstark.
Wenn seine direkten Gegenspieler einrücken oder aus der vordersten Linie nach hinten fallen, geht er meist ein Stück verfolgend – nur angedeutet und lose – mit, wagt sich aber kaum mal weiter aus der Kette heraus, sondern lässt den Gegner dann ab einem bestimmten Zeitpunkt ziehen und ordnet sich wieder in die hintere Reihe ein. Manchmal scheint dies etwas abrupt, nicht optimal getimt oder gar leicht willkürlich, doch folgt er durchaus einem gewissen, von Situationseinschätzungen geleiteten Muster. Meistens beendet er sein Herausrücken, wenn der Gegenspieler entweder den Ballbesitz durch einen raumwechselnden Pass wieder abgibt oder keine direkt gefährlichen Optionen hat. Manchmal öffnet Verhaegh dabei sogar bewusst den Halbraum vor sich ein wenig, lässt den Gegner dort aufdrehen, positioniert sich leicht nach außen lenkend und versucht dann die provozierte, entstehende Situation am Flügel zu zerstören anstatt das 1gegen1 durchziehen zu müssen. Insgesamt schafft er es damit häufig recht balanciert, dass beim Abbrechen herausrückender Bewegungen keine akuten Probleme auftreten, der Gegner nicht direkt zu klaren Lücken oder Überzahlen kommt und man sich – falls noch nötig – mannschaftlich anpassen kann.
Abschließend noch einmal: Unfassbar unterschätzter Spieler und ein sehr besonderer Außenverteidiger.
4 Kommentare Alle anzeigen
rotundblau 12. Dezember 2014 um 21:16
und morgen Verratti, oder?
Simon 12. Dezember 2014 um 22:43
Hoffentlich, Thiago Motta wäre auch noch eine Möglichkeit
Izi 12. Dezember 2014 um 19:49
Cooler Artikel, vielleicht sogar mein Favorit bisher! 🙂 Verhaegh scheint wirklich ein Spieler zu sein, den leider zu wenige auf dem Schirm haben… Außenverteidiger diesen Schlags sollte es noch mehr geben!
king_cesc 12. Dezember 2014 um 14:39
War Verhaegh eigentlich schon immer so? Gibts hier einen Kenner aus der Eredivisie? Seine 20 U20-Einsätze, bei denen er 5 Tore geschossen hat deuten ja darauf hin, dass er auch in jungen Jahren schon sein Talent zeigte…