Rollenverteilung und Rückpasswege entscheiden Intensitätsgipfel
Polens 5-4-1/3-4-3 und Kolumbiens 4-3-3 liefern sich eine Tempo- und Umschaltschlacht, in der Ersteres aber letztlich nicht mithalten kann. Pekermans Truppe setzt ein Achtungszeichen.
Zwei mit hohen Ambitionen in diese Gruppe gestartete Teams standen nach ihren Auftaktniederlagen im direkten Duell schon unter Druck. Auch unter dieser Ausgangslage entwickelte sich das Spiel, das man vor Beginn des Turniers sich hatte ausmalen können: enorm hohes Tempo, zahlreiche Umschaltszenen und reichlich Intensität in beide Richtungen sorgten für ein ansehnliches Match. Gerade in der Anfangsphase fand dieses Bild seine stärksten Ausprägungen und ging einher mit einem direkten, vertikalen Stil der Teams, die den schnellen Weg nach vorne suchten. Die Kolumbianer spielten einige lange Bälle auf Falcao in Ausweichzonen, um so das Aufrücken zu gestalten, die Polen versuchten anfangs mit manchen riskanten Pässen Linksaußen Kownacki in die Tiefe zu schicken.
Kolumbien überlädt auf rechts
Schon bald wurde aber deutlich, welche Mannschaft in dieser intensiven Begegnung letztlich überlegen war: Kolumbien konnte den eigenen Zugriff immer mehr erhöhen. Ein entscheidender Knackpunkt, der für die Südamerikaner sprach, lag in der besseren Rollenverteilung, die ihnen klare Vorteile bescherte, während sie auf polnischer Seite mit Problemen behaftet war. Die große Mehrzahl der kolumbianischen Offensivaktionen lief über die fokussierte rechte Seite. Im Aufbau agierten sie flexibel: Teilweise holte sich Cuadrado mit seinen Dribblings tief den Ball ab, während Arias schon höher aufrückte oder vorderlaufend durch den Halbraum agierte. Vor der Verletzung von Aguilar gab es noch häufiger auch Eröffnungen über dessen höheres Herauskippen vor der polnischen Mittelfeldreihe, wofür James explosiv einrückte.
Später zog es den Bayernstar noch weiter horizontal über das Feld und häufig bis in die Rechtsüberladungen hinein. Diese wurde anfangs sehr präsent über die beiden Achter unterstützt, später beteiligte sich also James neben Quintero stärker. Häufig begannen die Szenen über Cuadrados Andribbeln, ein bis zwei Mittelfeldspieler und/oder der flexibel ergänzende Arias besetzten die vorderen Halbräume, der Rest sicherte ebenfalls ballseitig kompakt dahinter ab. Durch diesen enormen Rechtsfokus sorgte Kolumbien zunächst einmal für viel Defensivstärke bei eigenem Ballbesitz und reduzierte das Risiko möglicher Kontersituationen. Konstant innerhalb der gegnerischen Formation bzw. konstant klar vor dem Ball war tatsächlich häufig sogar nur Falcao, in eindeutiger Unterzahl gegen Polens Fünferkette.
Der Wert der Rückpasswege
Das störte die Kolumbianer aber nicht unbedingt: Sie brauchten gar nicht so viele Aktionen, konnten aus ihrer stabilen Absicherung heraus die Polen etwas locken und dann sehr explosiv zu mutigen, oft riskanten Spielzügen ansetzen, von denen gelegentlich mal einer durchkam. Dies passte genau zu ihren Spielertypen, die zudem einfach individuell herausragenden Einfluss ausübten: Cuadrados Dribblings gelangen in dieser Partie sehr gut, James verhielt sich mit viel Geschick und starkem Timing in diesen Szenen, die brillante Kreativität in Quinteros Passentscheidungen erlaubte ein starkes Ausspielen auch von Situationen mit wenig Präsenz und quantitativ wenigen Optionen. Gelegentlich schob Falcao als zunächst ballhaltende Anspielstation mit in diese Ballungen.
Kolumbien bot kein dauerhaftes Spektakel, sie hatten zwischendurch die eine oder andere Szene, aber eine gewisse Anzahl davon gelang eben sehr definiert und präzise. Überhaupt erleichterten die Ausrichtung und die Bewegungsmuster auf rechts die Abstimmung im Allgemeinen: als Orientierungsmuster für andere Situationen, wie es sich etwa beim Schnellangriff zum vorentscheidenden 0:2 später in der zweiten Halbzeit bezahlt machen sollte. Schließlich funktionierten diese Rechtsüberladungen strategisch deshalb so gut, weil sie ausreichend stabil angebunden und genug Rückwärtswege da waren. Zwar nutzte Kolumbien das recht selten für eine straffe Zirkulation nach links und wieder zurück, aber die geballte Absicherung ermöglichte ihnen viel Ruhe für die Entscheidungswahl und nahm dem polnischen Defensiv-5-4-1 quasi jede Zugriffsmöglichkeit zum Druckaufbau.
Entspannte Absicherung und dynamische Pressingübergänge
Unter diesen Umständen konnte Kolumbien den Ball in ungefährlichen Ballungszonen herumspielen und versuchen, sich den Gegner zurechtzulegen oder etwas zu locken, um irgendwann einfach einen dynamischen Überladungsangriff zu versuchen – ohne dass ein Scheitern allzu gefährlich oder dramatisch gewesen wäre. Genau diese Möglichkeit fehlte den Polen über weite Strecken der Partie und so machte dies einen wichtigen Unterschied aus. Zunächst nutzte das Team von Adam Nawalka die neue Aufbaudreierkette hauptsächlich für einfache Pässe zum Flügel oder zum tiefen Einsetzen der zurückfallenden Sechser. Auch mit einem defensiveren Mann neben Krychowiak waren die Rollen und Bewegungsmuster aber nicht wirkungsvoller, sondern blieben weitgehend bieder.
Als die Kolumbianer im Laufe der ersten Halbzeit ihr Pressing anpassten und Cuadrado dauerhaft nach hinten in eine fünferkettenartige Anordnung schoben, bekamen die Polen wirklich Schwierigkeiten im Aufbau. Die Mannschaft von José Pekerman fand ein gutes Timing, um aus dem Mittelfeldpressing langsam den Übergang nach vorne vorzubereiten und diesen dann sehr konsequent mit geschlossenem Aufrücken umzusetzen. Wenn die drei Verteidiger und die Sechser aus dem asymmetrischen 5-4-1/5-3-2-Kolumbiens auf diese Weise in losen, dynamischen Mannorientierungen zugestellt wurden, sahen sich die Polen schließlich zum langen Ball gezwungen.
Polens gewonnene Abpraller bringen wenig ein
Diese weiten Zuspiele bildeten ohnehin einen wichtigen Bestandteil ihres Vorgehens, diesmal auch gezielter als im ersten Spiel gegen die Senegalesen. Hauptsächlich schlugen die Polen die weiten Bälle auf die halbrechte Seite mit dem einrückenden Zielinski und dem höher agierenden Flügelläufer Berezynski. Auch Lewandowski ließ sich vorrangig in diese Zonen fallen und forderte Bälle. Für die langen Zuspiele waren entweder er selbst oder der Flügelläufer der Zielspieler, in seinem Fall häufiger auch eher zwischen den Linien als ganz in vorderster Front. Zunächst einmal trug dieser Plan Früchte: Lewandowski konnte einige Bälle weiterleiten, ehe sie aus den Offensivzonen wieder zu ihm zurücksprangen, oder er sammelte zusammen mit Zielinski und den situativ nachrückenden Defensivspielern die Abpraller um Bereznyski ein.
Das wiederkehrende Problem lag jedoch darin, wie man die so entstehenden Situationen wirksam nutzen konnte: Normalerweise gewann das polnische Team die Abpraller zwischen den Linien, mitten im Dunstkreis der gegnerischen Intensität und aus einer dynamischen Situation heraus, also ohne diese stabilen Rückwärtswege, wie sie Kolumbien aus dem seitlichen Überladungsaufbau hinaus aufziehen konnte und wie sie jenen somit Ruhe verschafften. Demgegenüber mussten die Polen ihre Szenen mit weniger Kontrolle ausspielen. Hinzu kam andererseits, dass in ihren Bemühungen auch die Rollenverteilung als solche nicht so gut passte: Lewandowski fand sich sehr stark in einer spielmachenden Einbindung und musste viele entscheidende Pässe versuchen, mit nur zwei stabilen Vorwärtsoptionen, vielen hektischen Bewegungen und ohne Scharnier nach halblinks zu möglichen Läufen funktionierte das aber nicht.
Komplett chancenlos waren die Polen sicherlich nicht, aber am Ende fehlten ihnen einfach stets die stabile Präsenz in den Übergangsräumen und das gestaltende Potential vorne. So kamen sie kaum zuverlässig zur Vorbereitung von strafraumnahen Angriffsszenen, so engagiert und unnachgiebig sie auch versuchten, das Spiel mit weiträumigen Verlagerungen in der 3-4-3-Struktur und Konsequenz im Aufrückverhalten durchzuziehen. Ihre breite Anlage bot letztlich nicht genügend Verbindungen und lud, als sie im Verlauf der zweiten Halbzeit schließlich mehr Risiko gehen mussten, die Kolumbianer – in Verbindung noch mit einigen unglücklichen 50-50-Szenen und manchen individuellen Unzulänglichkeiten – schließlich somit zu Kontern ein, von denen einer kurz nach dem 0:2 auch zum 0:3 führte und die Begegnung somit endgültig entschied.
Fazit
Das Aus schon nach dem zweiten Gruppenspiel, und das verdient: Polen gehört zu den großen Enttäuschungen dieses Turniers. Zwar deutete die Mannschaft ihre Qualitäten im Umschalten und die Vorteile ihrer weiträumigen Charakteristik an. Aber letztlich war – über die beiden bisherigen Begegnungen gesehen – der Spielaufbau insgesamt zu schwach und uninspiriert, zumal die ungleichmäßige Besetzung des an manchen Stellen individuell eher schwächeren Kaders ungünstig zum Tragen kam.
Demgegenüber meldete sich Kolumbien mit einer starken Leistung eindrucksvoll zurück: sie fanden zu ihrer Intensität aus besten Tagen, verteidigten mit gutem Körpereinsatz und der nötigen Flexibilität, hatten in ihren Rechtsüberladungen einen klaren Plan mit passenden Rollen. Daraus kamen sie auch zu spielerisch guten Szenen – in genau ausreichendem Maße, ohne dass sie die Polen komplett an die Wand gespielt hätten. Das, was sie offensiv machten, sah insgesamt gut aus und wurde vor allem konsequent umgesetzt, zumal aus einer sehr stabilen Anlage heraus. So dürfte Kolumbien am letzten Gruppenspieltag ein weiterer Erfolg und der Sprung ins (potentiell enorm interessante) Achtelfinale absolut zuzutrauen sein.
2 Kommentare Alle anzeigen
Aliou Bob Marley Cisse 28. Juni 2018 um 12:21
Könnte ihr mir dennoch irgendwie Mut machen, wie der Senegal es schaffen könnte gegen diese reife Truppe zu punkten? Mein Bauchgefühl ist nicht gut, aber ich habe die Hoffnung, dass Pekerman zu viel Vorsicht walten lässt.
So überzeugend Kolumbien von Beginn an agierte, so sehr hat man doch das Gefühl, dass Pekerman gerne im Laufe der zweiten Halbzeit zurückschaltet, wenn er der Meinung ist, dass der Gegner an diesem Tag nicht mehr die Möglichkeiten hat die Partie zu drehen. Ganz unbegründet ist es in meinen Augen nicht, sich an Argentinien-Deutschland 2006 zu erinnern.
Ich habe nicht nur bei Polen das Gefühl, dass europäische Teams, die nicht ständig auf höchstem Niveau spielen, im WM-Duell mit außereuropäischen Mannschaften nicht immer Herr der Kontrolle über das Spiel sind und, dass gerade Polen und Island auch deshalb nicht an die EM anschließen konnten.
JSA 27. Juni 2018 um 11:23
Ich liebe ja James… allein dieser Pass zum 3:0…