Mittelgroße Fußballrevolution beim VfB
Stuttgarts 5-2-2-1 wird zum 3-Raute-3 und das verspricht einiges.
Mit einer Umstellung auf ein 5-2-2-1-System ist Hannes Wolf mit dem aufgestiegenen VfB Stuttgart ein guter Saisonstart gelungen. Gegen Wolfsburg wurde das defensivstarke System noch etwas weiterentwickelt: Bei Ballbesitz entstand durch die Rollenverteilung häufig eine Art 3-1-2-1-3 – eine alte Lieblingsformation von Spielverlagerung und zum Beispiel auch Johann Cruyff. In der Defensive half die massive Pressingfalle auf die gegnerische Außenverteidiger-Zone.
Das 5-2-2-1 ist das offensivere 5-3-2
Bereits gegen Mainz gewann der VfB dank des neuen 5-2-2-1-Systems. Gegen die Elf von Sandro Schwarz war es noch primär die defensive Stärke dieser Formation, die Stuttgart weiterhalf. In diesem Kontext stellt das 5-2-2-1 eine offensivere Ausrichtung des zur Zeit sehr beliebten 5-3-2 dar: ein Spieler weniger vor der Abwehr, einer mehr in den hohen Pressingzonen. Vergangene Saison nutzte vor allem der FC Ingolstadt dieses System in Verbindung mit sehr hohem Pressing.
Die Grundstruktur des Systems: Die fünf vorderen Spieler können sehr gut das Zentrum versperren. Wenn der Ball auf den Flügel geht, verschieben sie als Block. Der Außenverteidiger löst sich aus der Abwehr und macht von vorne Druck auf den Ball; dahinter bleibt eine Viererkette zur Absicherung.
Im Vergleich zum 5-3-2 ist der offene Raum auf der Seite noch größer. Dafür können drei Spieler (Stürmer, Zehner, Sechser) die Wege ins Zentrum (und nach hinten) versperren, statt nur zwei. Der Gegner hat mehr Zeit, aber tendentiell weniger Optionen. Ähnliches erlauben beispielsweise das 4-3-2-1 oder das 4-1-2-2-1. Mit Fünferkette kann sich der Außenverteidiger noch eher nach vorne lösen und dahinter hat man einen Spieler mehr als Absicherung.
Ein Dreieck gegen alle Sechserbewegungen
Im Gegensatz zu Ingolstadt spielte Stuttgart das System nicht mannorientiert, sondern eher positionell. Besonders interessant war das im Spiel gegen Mainz, da die Mainzer viel mit (Abkipp)Bewegungen ihrer Doppelsechs arbeiten. Die Doppelzehn und die Stürmer bildeten daher ein Dreieck um die Sechser; dadurch konnten sie auf Bewegungen in alle Richtungen reagieren. Beziehungsweise war es sogar kaum möglich für die Sechser, sinnvolle Bewegungen zu starten, weil eben genau die möglichen Ausweichräume – zentral hinten, links, rechts – bereits vom Gegner besetzt waren.
So konnte Stuttgart meist das Zentrum verschließen. Nach Pässen auf die Seite wurde dann angelaufen; die Sechser konnte man in der vorderen Dreiecksstruktur gut im Deckungsschatten behalten. Mainz kam im Aufbauspiel fast nie ins Zentrum. Nach Pässen auf die Außenverteidiger hatten sie dann keine Optionen mehr. Im Angriffspressing konnte Stuttgart so das Spiel meist in der gegnerischen Hälfte halten.
Weiterentwicklung zum 3-Raute-3
Bei eigenem Spielaufbau hatten die Mannschaft in Mainz noch nicht so viel zu bieten. Die beiden Halbzehner im Rücken der gegnerischen Doppelsechs konnten aber punktuell auftrumpfen. Nun gegen Wolfsburg wurde das System weiterentwickelt. Bei eigenem Ballbesitz wurden die Rollen so angepasst, dass eine Art 3-Raute-3 entstand. (Wir haben SV-intern die Bezeichnung „3-Raute-3“ bzw. „4-Raute-2“ angefangen zu nutzen, weil eine 4 eine Viererreihe suggeriert, „1-2-1“ umständlich ist und ein 3-3-1-3 normalerweise das System mit einem Sechser und Flügelläufern bezeichnet.)
- Aogo rückte häufig zentral ein. Der Defensivallrounder kann ja auch Sechser.
- Die Doppelsechs pendelte etwas nach rechts. Gentner ist als Achter ja besser aufgehoben als zentral.
- Donis schob aus der Zehnerposition nach links außen – und zwar ganz links außen.
- Akolo besetzte die Zehn. Das spielte er aber weiterhin etwas rechtsseitig, was nicht hundertprozentig zu der eher linksseitigen Raute passte.
Dadurch bekam Stuttgart die Mittelfeldstruktur etwas breiter und tiefer hin als in einem 3-4-2-1 üblich: Nicht nur die Doppelsechs bildete die erste Linie im Gegenpressing, sondern ein dritter Spieler kam dazu. Dieser musste außerdem nicht ständig den ganzen Weg bis in die Offensivzonen machen, sondern konnte schneller wieder die Abwehr unterstützen.
Generell deckt das 3-Raute-3 das Feld sehr weiträumig und gleichmäßig mit vielen Verbindungen ab, sodass man in alle Richtungen sehr schnell mit vielen Spielern Zugriff bekommt. Gegen Wolfsburgs 5-2-1-2-System ergab der zentralere Fokus zudem Sinn, da sich dort drei zentrale Spieler für Konter positionieren, aber keiner auf dem Flügel. Die drei Umschaltspieler waren so also von sechs Gegenspielern eingekesselt. Das sorgte auch für viel Stabilität.
Die Umformung auf dieser Seite störte außerdem die Zuordnungen der Wolfsburger (Verhaegh: vorne oder hinten? Guilavogui: innen oder außen?) und kreierte einen zusätzlichen Passweg für Pavard. Das wiederum war ein wichtiger Aspekt im Aufbauspiel gegen den zentralen Block der Wölfe.
Zentrales Andribbeln gegen das 2-1-2
Die Gäste formierten sich in ihrem 5-2-1-2-System nämlich in deinem durchaus schwer bespielbaren Mittelfeldpressing. Das 5-2-1-2 hat ähnliche Vorteile wie das 5-2-2-1, nur ist es noch etwas kompakter. Dadurch, dass der fünfte Spieler nicht vor dem Quadrat sondern innerhalb des Quadrats positioniert ist, entstehen noch mehr bzw. kleinere und dichtere Dreiecke. Das Spiel ins Zentrum und innerhalb des Zentrums wird noch schwerer.
Stuttgarts Lösung dabei hatte nur indirekt mit der Veränderung der Positionsstruktur zu tun: Durch die Dreierkette wurden die Wolfsburger Stürmer etwas in die Breite gezogen. Der sehr spielstarke zentrale Verteidiger Pavard dribbelte dann schlichtweg zwischen beiden nach vorne. Damit zog er Didavi heraus und hatte freie Sicht ins Zentrum. Mit dem ausweichenden Gentner und dem einrückenden Akolo entstand für Pavard dann die klassische Rautenstruktur, um die Pässe durch das Mittelfeld zu spielen.
So entstand dann auch das 1:0. Dabei startete Aogo zunächst sogar breit und startete dann auch die Linie entlang, wurde durch die sonstige Struktur aber zuvor aus der Mitte eingebunden und konnte dann mit dem breitstehenden Donis überladen.
Dynamische Asymmetrisierung im Positionsübergang
Ein Nebeneffekt dieses taktischen Kniffs war die dynamische Asymmetrisierung des „Spielschwerpunkts“ der Stuttgarter Formation, oder weniger bescheuert ausgedruckt: Die Mannschaft schob sich dadurch ein bisschen nach rechts. Dieser Effekt ist strategisch nicht zu unterschätzen, wir hatten ähnliches hier schon einmal für das System des BVBs diskutiert. Im Grunde wird die Seite überladen, während der Ball in der Mitte ist; also nicht erst, wenn der Gegner bereits das Verschieben einleitet.
So hat Wolfsburg auf einer Spielfeldseite und dadurch auch in der Flügelzone Überzahl. Das hilft zum einen der Ballzirkulation auf dieser Seite, kann für Durchbruchsmomente genutzt werden oder eben massiv Räume auf der anderen Seite öffnen – wo Donis schon wartet. Die Wolfsburger kommen in dieser Situation überhaupt nicht damit klar, verschieben zu spät und laufen mit improvisierten Mannorientierungen ins Leere.
Interessanter weiterer Aspekt: Wie in der Grafik weiter oben bereits angedeutet, kann diese Positionsverschiebung auch zu einer Überladung der anderen, der linken Seite führen. Die Verschiebung besteht ja aus Bewegungen nach rechts (Aogo, Ascacibar, Gentner) und nach links (Donis, Akolo). Wenn nur die Linksbewegung gemacht wird, hat man fast die gleiche asymmetrisierte Systematik, die aber auf dem Feld weiter auf der anderen Seite platziert ist. Das macht das ganze System recht intuitiv und flüssig und noch schwerer für den Gegner zu kontern.
Ein Nebeneffekt davon war auch, dass Beck seine Rolle noch offensiver interpretieren konnte als ohnehin: Er rückte nicht nur weit auf, um Breite zu geben, sondern spielte quasi als vollwertiger Flügelstürmer. Er rückte offensiv in den Halbraum ein und zeigte viele diagonale Aktionen in die Spitze; siehe etwa auf der Grafik vor dem 1:0, wo er den von Akolo geöffneten Raum in der Wolfsburger Kette attackierte. Das konnte er tun, weil eben Gentner hinter ihm zum einen den Raum im Gegenpressing sichern konnte, aber auch die Breite besetzen konnte.
Individuelle Eignung?
Letzteres hätte wiederum gut zu Gentners Flankenstärke gepasst. Grundsätzlich hatte Gentner in dieser Rolle viele Freiheiten und nicht so viel strategische Verantwortung wie ein normaler Sechser; konnte gleichzeitig aber auch eine absichernde Position beibehalten. Eine gute Mischung, die hervorragend auf das etwas eigenartige Fähigkeitsprofil des Stuttgarter Urgesteins passt. An dieser Stelle wünschen wir auch gute Besserung!
Ansonsten stehen aber schon ein paar Fragezeichen hinter der individuellen Besetzung dieses Systems und vor allem dahinter, wie gut der VfB diese Strukturen dann auch für sich zu nutzen vermag. Wolfsburg wurde nicht am laufenden Band damit ausgespielt; auch wenn das möglich gewesen wäre und die Wölfe recht schwach verteidigten.
Die Spielstärke der Verteidiger ist dabei wohl der größte Pluspunkt. In der aktuellen Besetzung kann der VfB von allen Positionen gut nach vorne kommen. Lediglich die Alternativen sind dünn gesäht. Ähnlich sieht das mit der Rolle von Aogo aus: für Aogo top, für mögliche Backups eher schwierig. Wobei Burnic so etwas wohl spielen könnte, gleiches gilt für die Gentner-Rolle.
Die Offensivpositionen waren in dieser Konstellation alle – für gehobenes Bundesliga-Niveau – nicht top besetzt. Vereinzelt konnten alle drei Glanzpunkte setzen, aber um einen starken Gegner zu dominieren, fehlt es allen an taktischer oder technischer Qualität. Mal sehen, was die diversen Alternativen dieser Spielweise noch hinzufügen können.
Fazit: Potentielle Revolution?
Ich würde mich hier schon aus dem Fenster lehnen: In Ansätzen war das von Stuttgart eines der interessantesten taktischen Systeme, die ich je gesehen hab. Ich glaube, dass diese Grundsystematik auch für Topteams sehr geeignet wäre und grundsätzlich ein sehr hohes Potential hat. Barcelona versuchte ja schon ähnliches. Besonders gegen Fünferkettensysteme scheint diese Art der Verschiebung sehr wirkungsvoll zu sein. Ich vermute, gegen Viererketten müsste es etwas angepasst werden.
Was der VfB daraus macht, lässt sich schwerer abschätzen – zu diesem Zeitpunkt schon deshalb, weil unklar ist, ob das ein neues Standardsystem sein sollen, oder es nur eine Gegneranpassung war oder ähnliches. Positiv ist ohne Frage, dass Hannes Wolf seine Mannschaft offenbar mit klaren Ideen weiterentwickelt. Das lässt hoffen, dass hier eine richtig spannende Elf entsteht.
PS: Sorry für die reißerische Überschrift, aber sonst liest den Mist wieder keiner!
9 Kommentare Alle anzeigen
Izi 20. September 2017 um 06:29
Als VfB-Fan würde ich den Artikel mit jeder Überschrift lesen ????, bin aber froh, dass der Artikel insgesamt sehr positiv ausfällt.
Jetzt nach Gentners Verletzung muss man schauen, ob jemand die Rolle ausfüllen kann. Gestern hat’s gegen Gladbach ja eher nicht so geklappt…
Der Artikel legt schön die Vorteile des 3-Raute-3 dar, die SV (und ich ☺️) immer wieder propagiert. Warum spielen nicht mehr Teams damit?
Bernd 19. September 2017 um 09:57
Endlich mal ein Artikel über „meinen“ VfB *freu*. War aber natürlich in den letzten Jahren nicht gerade ein Team, das sich für interessante Analysen anbot. Aber jetzt zum eigentlichen Feedback. Gut gefällt mir am Ende des Artikels die Verquickung von System und Personal. Eine Ebene in der Analyse, die auf Spielverlagerung nicht so oft beleuchtet wird. Die technischen Schwächen in der Offensive sind wirklich nicht zu übersehen. Ginczek sollte da möglicherweise eine gute Alternative sein. Weniger problematisch sehe ich die Situation hinten links. Da ist mit Insua noch ein Spieler im Kader, der in einigen Wochen, nach überstandener Verletzung, durchaus Druck auf Aogo machen kann. Genau in einer ähnlich verkappten Rolle als zusätzlicher MF-Spieler hatte er letztes Jahr schon sehr starke Spiele. Bitter ist besonders, dass Genter jetzt ausfällt, da er endlich eine Rolle hat, die wirklich zu ihm passt da er nicht mehr ständig eine Gefahr für beide Tore darstellt.
tobit 19. September 2017 um 10:03
Was würdest du von Insua als Hal Verteidiger halten? Seine Bulligkeit und Dynamik würden da (gerade mit dem einrückenden Wingback davor, wo er auch Mal am Flügel etwas vorstoßen könnte) gut zur Geltung kommen.
Daniel 21. September 2017 um 20:28
Warum Halbverteidiger? Insuas Spielerprofil als einrückender, spielstarker Außenverteidiger passt für mich eher auf die Aogo-Rolle. Als linker Halbverteidiger wird sich wohl Badstuber festspielen.
tobit 21. September 2017 um 22:46
Warum? Weil Badstuber erstmal fit bleiben muss und ich ihn mir auch gut als zentralen Mann vorstellen könnte (da kann ich Pavard aber nicht gut genug einschätzen, wie konstant der liefern wird). Ich hätte Insua da eben wegen seiner Spielstärke in Kombination mit der bulligen Statur ziemlich stark eingeschätzt. Er hat das früher bei Rayo (jaja – Hipstermannschaft und oft instabil, aber der VfB ist insgesamt und individuell deutlich stärker als Rayo damals) auch schon ziemlich cool gemacht.
HK 21. September 2017 um 23:43
Insua würde ich nach seinem Potential am ehesten als Flügelverteidiger in Ergänzung einer Drelerkette sehen.
Seine primären Qualitäten sind für mich seine offensive Dynamik plus seine Flankenqualitäten. In der Verteidigung verliert er mir schlicht zu viele Zweikämpfe bzw. foult sehr oft ungeschickt, oder streut einen simplen Fehler ein. Es hat schon seinen Grund, dass er, trotz aller Bemühungen, nach dem Abstieg keinen höherklassigen Verein gefunden hat.
Sebastian 19. September 2017 um 09:06
Eine tolle Analyse. Einiges konnte ich im Stadion so beobachten, aber vieles ist mir entgangen. Wobei man als VfB-Fan natürlich den Namen Ascacibar vermisst, der mit seiner Passsicherheit und den zahlreichen Ballgewinnen das Stuttgarter Spiel merklich beflügelt hat.
Und kleine Korrektur: Verhaegh kam erst zu zweiten Halbzeit. Er was also zum Zeitpunkt des Treffers nicht auf dem Feld.
AP 18. September 2017 um 22:26
Doch. MR. Ich lese es immer. Wieder stark dein Beitrag. Fussballdeutschland diskutiert aber auch gerade lieber über den VSA.
tobit 18. September 2017 um 23:17
Lesen ja (das mach ich auch bei jedem Artikel), aber kommentieren würde ich wohl nicht, da ich das Spiel nicht gesehen habe.
Würdet ihr Burnic auch die Ascacibar-Rolle als „zentraler“ Sechser zutrauen, oder passt das nicht zu ihm? Den Aogo müsste er in dieser Formation auf jeden Fall spielen können, da man da seine auf LV (bei 4er-Kette) auftauchenden Schwächen gut kaschieren könnte.