Türchen 17: Alexia Putellas

Viel wurde geredet, diskutiert und lamentiert über den diesjährigen Gewinner des Ballon D’or. Lewandowski? Messi? Oder doch lieber Jorginho? Der eine schoss Tore am laufenden Band, der andere (ver-) zauberte eine ganze Nation zur Copa America und der dritte im Bunde gewann Champions League und Europameisterschaft. Es gab aber auch eine offensichtliche Wahl, die im Trouble von Paris ein wenig untergegangenen ist: Alexia Putellas. Dabei verdienen die Leistungen der Starspielerin aus Barcelona eine besondere Beachtung.

Nach einer vierjährigen Durststrecke ohne La Liga Titel startete das Team von Trainer Jonatan Giráldez in der vergangenen Saison richtig durch. Die Liga gewann man mit 33 Siegen aus 34 Spielen und einem Torverhältnis von 167:15. Als erste spanische Mannschaft gewann man die Champions League, mit einem standesgemäßen 4:0 im Finale gegen Chelsea, nachdem man bereits in der 20. Minute 3:0 führte. Alexia’s Beitrag zur Triple Saison? 55 Scorer in 56 Pflichtspielen.

Diese Saison verläuft bisher recht ähnlich. Nach 13 Ligaspielen grüßt man mit 13 Siegen und einem Torverhältnis von 75:4 von Platz 1 und in der Champions League ist man mit sechs Siegen aus den sechs Gruppenspielen und 24:1 Toren auf dem besten Weg in Richtung Titelverteidigung. Nach 24 Pflichtspielen hat Alexia dabei bereits 26 Torbeteiligungen vorzuweisen und ist somit auf dem besten Weg ihre Vorjahresleistung nicht nur zu bestätigen, sondern sogar zu übertrumpfen.

Die Katalaninnen bilden eine mannschafts- und gruppentaktisch nahezu optimal agierendes Team. Vereinzelte Muster sind leicht erkennbar und sorgen in fast jedem Spiel im Minutentakt für Torchancen. Diese Eingespieltheit erlaubt es Giráldez viel zu rotieren ohne große Qualitätsverluste in Kauf nehmen zu müssen. Man könnte also behaupten, dieses “System” bewege sich nach der Perfektion. Wie kann es dann sein, dass es gerade in dieser Mannschaft eine Spielerin gibt, die den Namen Systemträgerin verdient hat? 

Zwischen gruppentaktischen Meisterleistungen und magischen Einzelaktionen

Die grundsätzliche Struktur der Katalaninnen im Ballbesitz variiert – je nach Spielsituation und Staffelung der gegnerischen Mannschaft – zwischen 3-2-5 und 1-3-6. Hierbei unterscheidet sich nur die flexible Raumbesetzung der Zentrumsspielerinnen.

Grundformation von Barcelona Femini bei Ballbesitz (hier im Championsleague Rückspiel gegen die TSG Hoffenheim). Permanente Besetzung aller fünf vertikalen Zonen. Dazwischen: intelligente Positionsfindung, ständiges Pendeln, flexible Positions- und Raumbesetzung und Verbindung von Dynamiken & Gegendynamiken. 

Durch Barcelonas drückende Dominanz findet ein Großteil ihrer Spiele im letzten Drittel beziehungsweise in der gegnerischen Hälfte statt. Das Team von Giráldez räumt meist die Halbräume zwischen den zwei hinteren Verteidigungsketten. Diese werden dann, nach erfolgreicher Überladung einer Angriffsseite dynamisch bespielt. Ballnah ergibt sich meist das gleiche Bild. (Weiträumige) Freilaufbewegungen, die fast immer gegen die Dynamik der Kette gehen und so automatisch zu Zuordnungsproblemen führen.

Die Katalaninnen bewegen sich gruppentaktisch sehr sauber und abgestimmt. Es gelingt ihnen meistens eine freie Spielerin zu finden, die dann auf die letzte Kette dribbeln kann. Zudem erreichen sie durch ihre enorme numerische Präsenz eine hohen Aktionsquanität. Alexia ist an fast jeder dieser Aktionen beteiligt und wird von ihren Mitspielerinnen auch aktiv gesucht. Dabei ist es egal ob sie diagonal auf die Verteidigung dribbelt oder mit einer Gegenspielerin im Rücken den Ball abschirmen muss, sie trifft nahezu immer die richtige Entscheidung und zwingt ihre Gegenspielerinnen in nachteilige Verteidigungssituationen. Ihre saubere Ballführung und exzellente Vororienterung helfen ihr in diesen Situationen.

Erlahmt der Positionsangriff ist dies meist kein Problem. Alexia schafft es mit plötzlichen, punktuellen Dribblings gegen die Dynamik der Abwehr ganze Ketten zu überspielen, was nicht selten in guten Abschlusspositionen für sie oder ihre Mitspieler endet. Durch ihr hervorragendes Spielverständnis sind die Spanierinnen fast durchweg in einer sehr guten Staffelung, um nicht nur omnipräsent Torgefahr ausstrahlen zu können, sondern auch nach Ballverlusten sofort in gewinnbringende Gegenpressingsitutionen zu gelangen. Dies wird unterstützt durch ein extrem diszipliniertes Nachrückverhalten der hinteren Reihen. Ihre unglaubliche Athletik erlaubt es Alexia sowohl aktiv den Zweikampf in Pressingsituationen zu suchen, als auch das Pressing in der vordersten Linie zu initiieren und dabei weite Wege zurückzulegen.

Von Über- und Unterladungen: Oder was es heißt ein Gespür für den Raum zu haben

Ihr Spielstil ist permanent dazu geneigt die Möglichkeiten zum Vorwärtsspiel zu suchen (und diese auch mit ihren Mitspielerinnen zu kommunizieren). Hierzu ist sie entweder als Passoption direkt anspielbar oder bindet mit ihrer ungeheuren Präsenz gleich mehrere Gegenspielerinnen. Des Weiteren spielt sie auch gerne Seitenwechsel, wenn sich dort die Chance zum 2-gegen-1 oder gar 1-gegen-1 bietet. Das ist nämlich die Krux beim Verteidigen gegen Barcelona Femini: Eigentlich braucht man ballnah Überzahl um Alexia stoppen zu können. Versucht man dies, so ermöglicht man Giráldez‘ Team eine ihrer anderen Stärken (1-gegen-1 Isolation am Flügel).

Vergleichbare Szene: Bonmati verdribbelt sich im Zweikampf mit Feldkamp fast und muss abbrechen. Der Angriff gerät ins Stocken, bis Bonmati schließlich unter Druck auf Alexia spielt. Diese hat bereits vor der Ballannahme Druck von hinten (Brand) und zwei Gegenspielerinnen direkt vor sich (Feldkamp und Dongus). Die Dynamik des Spiels scheint sich gerade weg von Alexia zu bewegen. Da sowohl Rolfo (im Deckungsschatten von Feldkamp) als auch Bonmati (noch nicht wieder freigelaufen) nicht anspielbar sind, erwartet man einen Rückpass zu Mapi mit anschließender ballferner Verlagerung. Alexia setzt sich aber kurz vor dem Pass geschickt zwischen Brand und Dongus ab und verschafft sich so genügend Raum. Anschließend geht sie ins 1-gegen-2 Dribbling und spielt nach dem Durchbruch den Schnittstellenpass zwischen Wienroither und Linder auf Oshoala, die sich frei vor dem Tor wiederfindet. So wird aus einer aussichtslosen Offensivaktion im 4-gegen-7 ein freier Torabschluss – Alexia Style. 

Alexia nimmt jederzeit Einfluss auf ihr Umfeld, bestimmt mit ihrer Passstärke und Passauswahl den Rhythmus jedes Angriffs und mit ihrer Lautstärke die Positionierungen ihrer Mitspielerinnen. Dabei hilft ihr ein überragendes Umfeldblickverhalten und eine sehr gute Sichtfeldnutzung. So kann sie umliegende Dynamiken produktiv wahrnehmen und kontrollieren. Als Folge gelingt es ihr sich immer im richtigen Moment abzusetzen, um die entscheidenden ein bis zwei Meter Freiraum zu bekommen, die für die erfolgreiche Spielfortsetzung elementar sind. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sie ein sehr gutes intrinsisches Verständnis für Raum, Rhythmus, Umfeld und Dynamik besitzt. Es gibt viele SpielerInnen die einzelne dieser Aspekte in unterschiedlichen Rahmen beeinflussen können. Es ist aber eine unterschätzte Kunst so mit dem Tempo spielen zu können, wie es Alexia tut. In der oben dargestellten Spielsituation nimmt sie beispielsweise das Tempo für einen kurzen Moment heraus, nur um dann mit hoher Intensität den gleichen Raum erneut zu attackieren.

Das Pressingdilemma: 3-Drittel und 4-Phasen Spielgestalterin

Auch aus dem Aufbauspiel heraus sind die Katalaninnen sehr gut organisiert, um (teils) hoch pressende Gegner konstruktiv zu bespielen. Durch unterschiedliche Staffelungen und Aufbaumechanismen (aus dem 4-3-3 werden dann meist 2-3-3-2 oder 2-1-4-1-2 Staffelungen, bei der sich konsequent 4 Spielerinnen im Mittelfeld positionieren) können sie entweder viel Breite gegen zentrumsorientiertes Pressing erzeugen oder entgegen der Dynamik des Pressings große Räume entstehen lassen, die dann dynamisch bespielt werden können.

Egal ob Mapi, Paredes oder Rolfo: Die 1. Aufbaulinie besteht aus extrem athletischen und dribbelstarken Spielerinnen, wodurch Gleichzahlsituationen (beziehungsweise +1 mit der Torspielerin) durch erfolgreiche Dribblings in Überzahlsituationen verwandelt werden können (oder man findet eine freie Spielerin mit genügend Raum und Zeit um aufdrehen zu können). Die Positionierung der Verteidigerinnen, die hohe individuelle Qualität und Einbindung der Torspielerin Panos – all das lässt viele Pressingversuche schon im Keim ersticken.

Ein Muster das dabei häufiger zu sehen ist: Alexia lässt sich fallen und zieht ihre Gegenspielerin mit sich. Durch ihre optimale Vororientierung und offene Körperhaltung ist sie trotz Gegnerdruck anspielbar. Sie lässt auf eine freie Spielerin klatschen. Durch diese Freilaufbewegung öffnet sie den Raum für ihre Mitspielerin.

Auch hier kommt Alexia eine Schlüsselrolle zu. Sie positioniert sich meist recht frei zwischen den Linien und sorgt so bereits für Entscheidungsprobleme bei ihren Gegenspielerinnen. Egal ob kleinteilige Kombinationen bei numerischer Überzahl, linienbrechende Dribblings oder durch ihre bloße, gegnerbindendende Präsenz, die Raum und Zeit für ihre Mitspielerinnen ermöglicht: Es scheint unmöglich Barcelona hoch zu pressen.

Diese enorme Qualität stellt den Gegner vor viele taktisch-psychologische Herausforderungen: Pressen? Auf die freie Spielerin herausrücken? Passiv bleiben und abwarten? Hat man sich dann für eine Variante entschieden, so ist es meist schon zu spät und (mindestens) die erste Pressinglinie ist überspielt.

Von Systemspielern, Systemträgern und Systempotenzierern

Jedes System hat seine TrägerInnen. In den verschiedenen Artikeln dieses Adventskalenders hatten wir schon verschiedene Spielertypen, die auf ihre Art und Weise ein System tragen. Joshua Kimmich beispielsweise, dessen Aktionsquanität und Fähigkeiten als Balancegeber die dominante Spielweise der Bayern erst ermöglichen. Oder Raphael Varane, dessen unwirkliche Athletik und individualdefensiven Fähigkeiten teilweise das Gefühl entstehen lassen, er könne den Strafraum alleine verteidigen. Die meisten Systemträger sind vor allem eines: das entscheidende Puzzlestück zum Erfolg einer Mannschaft. Ihre Spielweisen erzeugen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Charakteristika ihrer Mannschaft und ermöglichen mannschaftstaktische Konstellationen, die ohne sie nicht oder nur in abgeschwächter Version möglich wären. 

Alexia ist in dieser Hinsicht mehr als eine Systemträgerin.  Sie ermöglicht dieses – taktisch herausragende – Team von Giráldez nicht nur mit ihrer Rolle und ihren Qualitäten, sie potenziert mit ihren sporadischen, atypischen Magieausbrüchen gerade dieses in seiner Anlage hochinteressante System. Die vereinzelten Ausbrüche zwingen ihrer Gegenspielerinnen entweder zu erhöhter Aufmerksamkeit und Präsenz in ihrer Nähe, was dem “externen System”, also ihren Mitspielerinnen (von denen zwei Weitere unter den Top 5 im Ballon D’or zu finden waren) mehr Raum und Möglichkeiten öffnen oder sorgen direkt für gefährliche Abschlussaktionen. Ist sie aktiv an einem Muster oder einer eingeübten Passstafette beteiligt, so ist diese durch ihre enorme Qualität automatisch besser. Ist sie nicht beteiligt, so entsteht durch ihre gegnerbindende Präsenz genügend Raum, damit diese Muster zur Vollendung kommen können. Und zwischendurch sorgt sie mit Einzelaktionen für Highlights.

Es ist genau diese positive Systemsymbiose die Barcelona Femini zum Überteam der Stunde macht. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts wurde unter Fußballexperten die Gretchenfrage zwischen Cruyff und Van Gaal The best eleven or the elven best ausführlich diskutiert. Anhand der katalanischen Brillanz ist man geneigt zu fragen: Why not both?

Sie ist nicht nur die verdiente Ballon D’or Gewinnerin des vergangenen Jahres, sondern auch Hoffnungsträgerin des Frauenfußballs, Systemträgerin für (jetzt schon) eines der besten Fußballteams aller Zeiten, Vorbild für viele junge Spielerinnen und Spieler und die Antwort auf alle Probleme und Anforderungen des (post-)modernen Fußballs. Ihr Spiel gleicht einer Vollkommenheit, wie es die Geschichte des Fußballs bisher nur selten gesehen hat. Es ist nicht leicht aus einer hervorragenden Mannschaft so sehr herauszustechen. Das gelingt nur wenigen AusnahmespielerInnen. Den Messi’s, Di Stefano’s, Pele’s und Maradona’s dieser Welt. Und einer Spielerin aus dem Herzen Kataloniens, deren Qualitäten nicht nur Barcelona Femini zur Mannschaft der Stunde machen, sondern das Potential besitzen Systemträgerin für eine ganze Generation an Nachwuchsspielerinnen zu sein. Ihr Name: Alexia Putellas.

tobit 18. Dezember 2021 um 18:25

An di Stefano musste ich bei der Beschreibung auch sehr schnell denken.
Kleine Kritik: Ich fand es etwas schwierig dem Artikel zu folgen, weil ich den Frauenfussball so garnicht auf dem Radar habe. Hätte mir da vllt ein bisschen mehr Kontext als nur die absurd anmutenden Tor- und Siegstatistiken gewünscht.

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