Türchen 6: Fredy Guarín

Die Spielweise von Fredy Guarín, dem dynamischen und laufstarken Antreiber aus Kolumbien, ist in vielerlei Hinsicht ambivalent.

Läuferisch war Fredy Guarín eigentlich immer eine Bank. Der kolumbianische Mittelfeldallrounder macht nun im gehobenen Fußballeralter zumindest noch viele Meter, in seinen besten Zeiten spulte er ein enormes Pensum ab. Auf der allgemeinsten Betrachtungsebene kann man sagen: Wer sehr viel läuft, macht seine Mannschaft so zunächst einmal stabiler. Für Ausdauer gilt das ohnehin, für den Bewegungsdrang im Bewegungsspiel prinzipiell auch. Einzelne Ausnahmen sind möglich: Ein Spieler kann theoretisch in dem Moment „zu viel“ laufen, sobald übermäßiges (Herum-)Laufen auf Kosten der Struktur geht.

Foto: Marco Luzzani/Getty Images

Bei weiträumigen Allroundern, zu denen grundsätzlich auch Guarín gerechnet werden kann, stellt sich eine solche Gefahr schneller als bei anderen Spielertypen. In ihren Grundzügen spielt sie im Falle des Kolumbianers auch eine gewisse Rolle. Sie ist allerdings weit davon entfernt, sein individuelles Profil maßgeblich zu dominieren, gehört Guarín doch unter laufstarken Allroundern zu den speziellsten Vertretern der „Zunft“ mit einer besonders vielschichtigen Stilistik. Sein Spiel trägt viele und oft komplexe Ambivalenzen. Den großen, weiten Bereich des Bewegungsspiels betrifft das genauso wie kleinste Details.

Der erste Kontakt und der Folgemoment – bei Guarín ambivalent

Oftmals sind es gerade die Feinheiten, in denen sich Ambivalenz wie in einem Brennglas besonders markant bündelt. Bei Guarín wird dies exemplarisch bei der unmittelbaren Ballverarbeitung: Sein erster Kontakt ist gerade in einer Ballannahme oft äußerst unsauber, auch wenn er sich im Laufe der letzten Jahre in diesem Bereich verbessert hat. Bei Ballmitnahmen in die Dynamik hingegen gestaltet sich diese Problematik weniger scharf. Wirklich entschärft wird sie allerdings erst dann, wenn Guarín vergleichsweise viel Zeit für diese Mitnahme hat – etwa unter geringem Druck. Seine One-Touch-Pässe schließlich sind sogar sehr gut und bilden einen Kontrast zu den normalen Ballannahmen.

Übergreifend verbindet diese verschiedenen Konstellationen eine Gemeinsamkeit: In den ersten Momenten einer Ballaktion ist häufig zu sehen, dass Guarín koordinativ in Schwierigkeiten gerät. Bei den One-Touch-Pässen etwa fällt dies weniger ins Gewicht, da der Ball sich bereits wieder auf einem anderen Weg befindet, bevor dies passieren könnte. Gerade die zweite Bewegung – in der Folge dieser Schwierigkeiten – gelingt Guarín aber oftmals sehr präzise und wirkungsvoll. Beispielsweise verfügt er über starke Abstopp- und anschließende Übergangsbewegungen. Koordinativ scheint er zum Start von Aktionen also eine kurze Gewöhnungszeit zu brauchen.

Dank solcher Bewegungen im zweiten Moment kann Guarín zwischenzeitlich sehr dynamisch verzögern und den Ball schnell und überraschend schon kurz darauf in die nächste eigentliche Aktion mitziehen. Handelt es sich dabei um einen Pass, wird dieser somit schwieriger zu antizipieren. Am Ball macht Guarín daher einen wilden Eindruck – wenn er koordinativ unbeholfen anfängt, schnell improvisieren muss und nach kürzester Zeit dann doch sehr präzise agiert, viele Situationen damit sogar zu einem effektiven Ende führt. Nicht immer lässt sich ein unsauberer Auftaktmoment jedoch wieder ausbügeln: Diese Spannung ist eine erste Facette von Risiko bei Guarín. Am ersten Kontakt trennt sich bei ihm noch schneller die Spreu vom Weizen als bei anderen.

Gute Positionsfindung, wechselhafte Anschlussläufe

Guaríns am Ball mitunter wilde Momente sind ein sehr spezielles Phänomen, nicht das Resultat einer allgemein wilden Spielweise. Seine Positionsfindung gestaltet sich grundsätzlich sauber – und dies konstant. Punktuell findet er zudem einfallsreiche Momente, um sich in unmittelbarer Ballnähe neu anzubieten. Das kann ein interessanter Bogenlauf sein oder einfach eine besonders präzise Positionsaktualisierung in einen situativ günstigen Zwischenraum. Im zweiten Drittel beim Aufbau- und Übergangsspiel bindet sich Guarín zunächst einmal gut ein.

Sobald er – speziell aus einer wertvollen (Start-)Position heraus – eine Ballaktion ausgeführt und abgeschlossen hat, beginnen im Folgemoment aber Probleme. Die Anschlussbewegungen nach eigenen Pässen, gerade nach kürzeren Pässen, gestalten sich bei Guarín insgesamt zu weiträumig. Zum einen gehen dadurch unnötig frühzeitig Verbindungen verloren – zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit, solange Mitspieler nicht außergewöhnlich antizipativ und balancierend reagieren.

Typische Einbindung von Guarín als Achter (hier bei Wolfsburg – Inter 2015)

Zum anderen sind die Anschlussläufe selbst nicht unbedingt treffend gewählt bzw. genauer gesagt die Zielräume: Guarín bewegt sich zwar oft diagonal. Er neigt bei den Folgebewegungen aber dazu, in nicht bespielbare Räume und insbesondere hinter gegnerische Deckungsschatten zu ziehen. Das passiert vor allem, wenn er sich in der Ausgangssituation „vor“ dem Ball befand, also in einer höheren Position. Demgegenüber sind seine Anschlussläufe aus der Tiefe heraus insgesamt – wenn auch manchmal überdreht – effektiver, da er in diesen Fällen seinem Pass „nachgehen“ kann.

Zusammengenommen kann es kompliziert werden, die richtige taktische Rolle für Guarín zu finden. Zwei unterschiedliche Ansätze liegen nahe: Entweder entscheidet man sich für eine Einbindung, in der er hauptsächlich erst ab dem zweiten Drittel präsenter ins Spiel integriert wird. Zu diesem Zeitpunkt hat man den Gegner in vielen Fällen ein Stück nach hinten gedrängt und kann sich in dieser Position weiträumige Bewegungen eher leisten. Das funktioniert in einer Dreierkettenformation, in der Guarín als Flügelläufer eine hohe Startposition erhielte. Genauso wären unterschiedliche Interpretationsformen der Raute und seine Aufstellung in einer der Halbpositionen möglich.

Frühes Ankurbeln schon aus tiefen Positionen

Alternativ könnte man Guarín bewusst in tieferer Rolle einsetzen, wenn man den taktischen Ansatz genau genug auf ihn zuschneidet: Insgesamt agiert der kolumbianische Mittelfeldallrounder sehr vertikal und versucht mit fast jeder Aktion, das Spiel zügig nach vorne zu tragen. Er ist also ein Antreiber. Je früher er sich im Aufbau beteiligt, desto mehr direkte Übergänge und direkte Einleitungen werden die Folge sein.

Diese Spielweise ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits geht sie mit einer hohen Aktionsdichte einher. Guarín sucht sofort das einleitende Dribbling und/oder den Kontakt zum Mitspieler. Mindestens erzeugt er so Dynamik, meistens auch – solange die Ausführung halbwegs ordentlich vonstatten geht – Raumgewinn und schließlich knüpft oder festigt er so eine Verbindung. Zudem geht Guarín seinen Pässen aus dem Aufbau stets nach, so dass sich direkt wieder jemand zum Zusammenspiel für den Folgemoment einschaltet. In diesem antreibenden Kontext bringt er sich wesentlich besser für Anschlussaktionen ein als in anderen.

Der kolumbianische Mittelfeldmann zeichnet sich in seinen Bewegungen durch eine außergewöhnliche Dynamik in der Ausführung aus. Diese körperliche Charakteristik passt also prinzipiell zu den bevorzugten Verhaltensweisen. Mit seinen dynamischen Läufen macht er einfache Doppelpässe mitunter sehr effektiv und kann Räume für einen Spielzug erschließen, von denen man dies wenige Sekunden zuvor kaum für möglich gehalten hatte.

Der Risikofaktor bei frühen vertikalen Übergängen

Wenn – überspitzt gerechnet – jede Aktion ohnehin vertikal gespielt wird, kann es erst einmal nicht passieren, dass man den richtigen Moment für die Beschleunigung des Spiels verpasst. Andererseits heißt das aber: Man gesteht sich selbst seltener eine ruhige Ausgangslage zu, auf deren Basis Möglichkeiten zur Beschleunigung sich überhaupt erst scharf abzeichnen würden. Guarín agiert im Aufbau hauptsächlich ankurbelnd, lässt demgegenüber nur selten den Ball laufen. Manchmal forciert er die vertikale Aktion nach vorne auch dann, wenn die Zirkulation des Leders besser wäre.

Beispielhaft wird dies in Bezug auf die Staffelungen: Guarín spielt häufiger einen bestimmten Kollegen in einem bestimmten Raum an, den man bei längerer Vorbereitung zehn oder zwanzig Sekunden später genau dort (noch) besser hätte einbinden können. Je nach Situation bleibt die Chance, dass der Gegner durch den direkten Übergang überrascht wird – individuell im Sinne der Wahrnehmung und Orientierung einzelner Gegner oder gruppentaktisch im Sinne der Absprache und Kommunikation.

In diesem Kontext bedeuten Guaríns antreibende Aktionen also ein Risiko: Er wählt früh und damit quantitativ häufig Pässe über Linien hinweg. Tendenziell spielt er diese Bälle also vermehrt in Situationen, in denen sich ihre Erfolgsquote nicht so sicher abschätzen lässt und in denen die Entscheidung dafür nicht auf einer ausführlichen Vorbereitung beruht. Für die mannschaftliche Ausrichtung bedeutet eine dominante Einbindung Guaríns im Aufbau: Erstens müssten aggressive, vertikale Übergänge, für die man von ihm profitieren könnte, ein Kern auch des mannschaftlichen Ansatzes sein. Zweitens würde man ihm ein oder zwei Passspieler, die vom Naturell auf Ballsicherheit orientiert sind, an die Seite stellen.

Offensive Vorstöße und Ordnung – das Beispiel Khedira im Vergleich

Bei Guarín spielt schließlich ein – eingangs kurz angedeutetes – Thema eine Rolle, das für einige weiträumige Allroundertypen im defensiven Mittelfeldbereich, insbesondere wenn sie als Teil einer Doppel-Sechs agieren, relevant ist: Es geht um Schwierigkeiten, in besonderen Einzelsituationen einfach die Position im Zentrum zu halten, in denen man dies (ausnahmsweise) zwingend tun muss. Für den Normalbetrieb wird weiträumigen Sechser/Achtern oft ein absichernder Kollege zur Seite gestellt, der ihnen weiträumige Vorstöße ermöglichen soll.

Ein klassisches Beispiel war vor einigen Jahren die deutsche Nationalmannschaft: Sami Khedira brachte seine raumgreifenden Bewegungen ein und profitierte vom strategischen Raumgefühl Bastian Schweinsteigers. Wenn die Absicherung jedoch einmal umgekehrt erfolgen musste, funktionierten diese Ausnahmen nicht immer störungsfrei. Später war Khedira nie der ideale Nebenmann zu Toni Kroos, da seine Spielweise sich nicht mit dessen Herauskippen in den linken Halbraum vertrug.

In diesem zweiten Fall ging es nicht um situative Abstimmung, sondern um die generelle Struktur. Theoretisch hörte sich die mögliche Lösung, dass Khedira in dieser Konstellation zurückhaltender agieren müsse, leicht an. Aber letztlich gelang eine solche Anpassung der Spielweise in der Nationalmannschaft weder individuell noch mannschaftlich – mit der WM 2018 als tristem Schlusspunkt. Es gab zu viele Situationen, in denen Kroos herauskippte, Khedira dennoch nach vorne tendierte und sich im Zentrum eine Lücke ergab.

Einerseits stellten Khediras Vorstöße häufiger die Präsenz in der Feldmitte infrage. Andererseits blieb Khedira vorne natürlich nicht untätig, sondern seine Aktionen und Läufe sorgen fast immer für Gefahr. Vom Profil her finden sich bei ihm wesentliche Parallelen zu Guarín: Beide verbinden enorme Laufstärke und Physis mit einer grundsätzlich kombinativen Art. Auf diese Weise können beide im Angriffsdrittel sehr wertvoll für ein Team sein. Auch dann, wenn potentiell gute Offensivaktionen die Verbindungen und/oder die defensive Absicherung zu schwächen drohen, bleiben sie weiterhin potentiell gute Offensivaktionen.

Im Falle Guaríns kommt es gelegentlich vor, dass er sich nach vorne einschaltet, obwohl die Situation es nur bedingt zulässt, er dies aber übersieht. Wie er sich beteiligt, verbessert oft die Wahrscheinlichkeit, dass ein – laufender oder anstehender – Angriffszug gut ausgespielt werden kann. Ebenso sinkt aber gegebenenfalls die Wahrscheinlichkeit, den Angriff überhaupt in Gang bringen zu können, und zumindest steigt jene, dass sich im gegenteiligen Fall das Spiel zu Ungunsten seines Teams entwickelt.

Schlussworte

Das muss nicht zwingend in Form von gegnerischen Kontern geschehen. Es kann sich auch in einem Verbindungsverlust äußern, durch den etwa das Aufrücken schwieriger wird als zuvor. Insgesamt, um dies nochmals zu betonen, gibt es für diese Problematik extremere Beispiele als Guarín. Er findet sich vor allem deshalb in diesem Kalender, weil man ihn auf gleich zwei Ebenen als Risikospieler einordnen kann: Zum einen repräsentiert er im Grundsatz jene Zwiespältigkeit vieler weiträumig aufrückender Box-to-Box-Sechser. Zum anderen – und das ist der primäre und noch interessantere Punkt – spielt ambivalentes Risiko in seinem besonderen, eigenen Profil entscheidend mit.

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