Türchen 24: Julian Brandt

Wie außergewöhnlich Julian Brandt ist, haben wir bereits vor zwei Jahren an gleicher Stelle besprochen. Doch seine Versetzung ins zentrale und defensive Mittelfeld haben wir damals nicht vorausgesehen.

Als Peter Bosz nach Leverkusen kam führte er sofort sein bekanntes 4-3-3 ein und als eine der ersten Amtshandlungen versetzte er Julian Brandt aus der Offensive auf die linke Achterposition dieses Systems. Nach einer knappen Niederlage im ersten Spiel, folgte ein 0:3-Sieg in Wolfsburg und ein 3:1 über die Bayern.

Brandts Rolle im ersten Spiel als Achter.

In Boszs 4-3-3 waren die Achter meist ohnehin sehr hoch agierende Spieler, die eher wie breite Zehner spielten, meistens zwischen den Linien positioniert, nur vereinzelt im tieferen Spielaufbau involviert. Für diese Quasi-Zehner-Position war Brandt keine überraschende Wahl. Allerdings wurde seine Rolle im Laufe der vergangenen Saison vielfältiger und aktuell spielt er sogar als Teil einer Doppelsechs im Dortmunder 3-4-3.

Hoher Achter, tiefer Achter, breiter Achter

Naturgemäß war seine Rolle auch als hoher Achter vielfältiger als die eines Zehners. Schon wegen der direkten Passwege vom Innen- und Außenverteidiger war er vermehrt im Spielaufbau eingebunden und musste sich auch in tieferen Zonen einschalten. Im dritten Spiel gegen Bayern verteidigte er phasenweise als Zehner, doch bewegte sich dann im Spielaufbau immer wieder auf die Acht zurück, um dort das Aufbauspiel in der ersten Phase zu stärken.

Aufbauspieler beim 6:1 gegen Frankfurt

Im Saisonverlauf agierte er sogar zunehmend als erster Aufbauspieler, indem er auf die Linksverteidigerposition herauskippte. Generell entwickelte er sich mehr zu einem Raumsucher auf dem ganzen Feld, was auch seiner aktuellen Sechserrolle bei Dortmund entspricht. Er kann sich auf beiden Seiten in alle Offensivräume einschalten, kann wie gegen Leipzig auch im Strafraum auftauchen, ist jedoch auch im Aufbau sehr involviert.

In Boszs 4-3-3 war er außerdem teilweise Breitengeber bzw. vielmehr Überladungsspieler für die Breite, indem er sich zwischen Außenverteidiger und Außenstürmer bewegte; diese Bewegung ist für bestimmte Pressingstrukturen sehr schwer zu verfolgen, insbesondere wenn der breitgehende Spieler extrem gut darin ist, sich über Drehungen und Dribblings aus Druck zu befreien.

Gegner rausnehmen in der Übergangszone

Aber was ist eigentlich der Punkt daran, Brandt derartig einzusetzen, anstatt in einer offensiveren Rolle, wo er sich mehr „auf die Offensive konzentrieren“ kann?

Zunächst ist da ein quantitatives Argument: Wenn ein Spieler überragende Fähigkeiten im Angriffsvortrag hat, macht es Sinn, ihn so häufig wie möglich einzubinden. Auf der Acht kriegt man öfter den Ball als auf der Zehn oder am Flügel. Mehr Brandt heißt womöglich besserer Brandt.

Andererseits ist Brandt dadurch etwas weniger häufig in höheren Zonen eingebunden, wo das Überspielen von Gegnern schwerer und wertvoller ist. Durch die Art und Weise, wie er das Spiel vorantreibt, ist es allerdings möglich, dass er den anderen Spielern dies vereinfacht, weil er in seinen Aktionen sehr oft Gegenspieler aus dem Defensivverbund herausnimmt und damit zusätzlichen Raum und Überzahlen für die Angriffsspieler schafft.

Beim 3:1 gegen Bayern, die Einleitung des Freistoßes zum 1:1: Brandt spielt einen Doppelpass mit dem Sechser und leitet dann auf Volland zwischen die Linien weiter. Er zieht dabei beide Sechser raus, Leverkusen hat quasi einen 3-gegen-3-Angriff und Volland wird sofort gefoult.

Vereinfachtes Beispiel, um das Argument klarzumachen: Wenn mein Torwart drei Stürmer ausdribbelt und dann abspielt, dann spielt die restliche Mannschaft einen 10-gegen-7-Angriff statt 10-gegen-10. In der Praxis kann dieser Effekt besonders groß werden, wenn es gelingt Gleich- oder sogar Überzahl in der letzten Linie herzustellen, weil die Verteidiger in Entscheidungsprobleme gezwungen werden.

Im zentralen Mittelfeld kann grob zwischen zwei Ansätzen unterscheiden: Durchspielen oder Herumspielen. Wenn man um den Gegner herum spielt, kreiert man mehr Raum für Aktionen und drückt den Gegner zurück, der Defensivverbund bleibt aber kompakt und die finalisierenden Aktionen müssen mehrere Gegenspieler auf einmal überspielen (etwa mit einer Flanke auf den zweiten Pfosten, um Manchester City zu zitieren). Wenn man aus Mittelfeldpositionen direkt durchspielt, kann man Gegenspieler früher „aus dem Block entfernen“ und muss daher in den finalen Aktionen weniger Gegenspieler ausspielen; je nach Spielerfähigkeiten kann das insgesamt effizienter sein oder nicht.

Generell ist es eine offensivere Spielweise, zum einen, weil man den Gegner bei Ballverlusten in einer etwas aufgerückteren Stellung hat, ihn weniger zurückdrängt. Zum anderen ist zumeist, wenigstens theoretisch, die Chance auf einen Ballverlust in tieferen Zonen größer.

Gerade letzteres ist aber nicht unbedingt mehr gegeben, wenn es ein Spieler wie Brandt ist, der die ersten Gegner überspielt, da er das eben sensationell konstant beherrscht, in sehr vielen unterschiedlichen Situationen, mit sehr vielen unterschiedlichen, stabilen Lösungen. Insofern kann man mit Brandt in dieser Rolle generell offensiver agieren und wird dafür weniger bestraft als „normal“.

Pressingknacker mit und ohne Ball

Beispielhafte Szene gegen Frankfurt, wo er sich im richtigen Moment in den freien Raum absetzt und den Ball direkt Richtung Tor verarbeiten kann.

Zudem ist Brandt herausragend, wenn es darum geht, Angriffspressing zu überspielen, da er sehr früh erkennt, wie sich Angriffe entwickeln, wo und wann freie Spieler entstehen. Zudem ist er schwer 1-gegen-1 zu verteidigen, was im Angriffspressing oft versucht wird. Seine herausragende Orientierung Richtung Tor tut das übrige: Mustergültig beispielsweise bei seiner Vorlage im Heimspiel gegen Slavia Prag, als er erkannte, dass Reus in der Spitze etwas Raum hat und mit einem Kontakt die gesamte gegnerische Defensive überspielte.

Diese Fähigkeiten helfen ihn auch in der Kommunikation und Positionierung. Er kann seine tiefe Grundposition recht gut „kompensieren“, da er oft und früh erkennt, wann er effektiv in eine höhere Position nachrücken kann; das tut er zwar immer noch ein kleines bisschen riskanter als „normale“ Mittelfeldspieler, aber bei weitem nicht so risikoreich, wie das für Offensivspieler in Defensivpositionen zuweilen typisch ist.

In der Kommunikation kann man immer wieder beobachten, wie er die Verteidiger in Passentscheidungen bzw. Orientierung coacht, wenn er erkennt, dass die anvisierte Spielrichtung die falsche ist. Er versteht sehr gut, wann er die beste Anspielstation ist und wann es bessere gibt. Wenn es bessere gibt, versucht er meist, Gegenspieler in der Mitte zu binden und die Ballzirkulation auf die anderen Mitspieler zu leiten.

Was Brandt zum Sechser fehlt

Trotz allem ist Brandt eher ein „Offensivspieler, der Sechser/Achter spielt“ als dass er im typischen Sinne ein Sechser oder Achter ist. Dafür gibt es zur Zeit noch zwei Hauptgründe:

Zum einen ist sein Defensivspiel nicht auf dem Niveau gelernter Sechser. Athletisch und individualtaktisch bringt er zwar die Anlagen mit, um auch ein sehr guter Abräumer zu sein, doch seine Gewohnheiten und eventuell auch seine Fitness entsprechen noch nicht ganz dieser Position. Seine Beteiligung ist ordentlich aber nicht herausragend und seine Entscheidungsfindung ist risikobehaftet: In einigen Situationen spekuliert er auf unsichere Balleroberungen, wo andere Mittelfeldspieler einfach die gegnerische Progression verhindern würden. Als Offensivspieler hat er da den typischen Bias, den positiven Ausgang einer Aktion höher zu gewichten als den negativen.

Zum anderen ist er im „Herumspielen“ nicht auf dem gleichen Level wie in seinen Defensivaktionen. Zuweilen erkennt er nicht die Notwendigkeit, dass er zunächst den Ball sichern muss, weil er keine Optionen hat, sondern versucht dann wenig aussichtsreiche direkte Lösungen; ein Risiko, dass man in der Offensive hier und da eingehen kann oder muss, aber im Spielaufbau vermeiden sollte. Außerdem macht er auch hier und da Fehler, wenn es darum geht, den Ball zu sichern, siehe beispielsweise sein übler Fehlpass gegen Leipzig, der zum Gegentor führte. Solche Fehler lassen sich leicht damit erklären, dass ihm einfach die Erfahrung in solchen Szenen fehlt.

Die Zukunft des Offensivachters

Insofern wird es interessant sein, ob Brandt sich bald wieder mehr in die Offensiv entwickelt, oder ob er sich als Achter festspielen wird. Falls er im defensiven Mittelfeld bleibt, wird es auch spannend, ob er ein „defensiv spielender Offensivspieler“ bleibt oder ob er ein richtig kompletter Sechser wird. Schließlich ist er auch in seiner Offensivspieler-Spielweise unterm Strich so gut, dass er herausragende Leistungen abliefern kann, sodass er diese vielleicht schlicht beibehalten würde; so wie Hummels etwa, der sein Leben lang ein Stück weit „zu offensiv“ für seine Position spielte, aber eben trotzdem überragend.

Generell wird es spannend, wie populär die Rolle des Offensivspielers in der Übergangszone noch wird. Thomas Tuchel setzte etwa Ousmane Dembele beim BVB so ähnlich ein. Messi spielt in manchen Phasen so und Martin Ödegaard mischt die spanische Liga in einer vergleichbaren Rolle gewaltig auf. Naby Keita könnte die Rolle zu Liverpool bringen.

Es sind viele Faktoren, die darüber entscheiden, ob es ein lohnenswerter Trade-off ist. Spieler mit den entsprechenden Fähigkeiten werden womöglich höher auf dem Feld benötigt oder die strategische Anlage des Teams spricht eher für eine weniger offensive Interpretation der Rolle. Der mögliche offensive Output könnte sich aber auf Dauer auch als so wertvoll erweisen, dass Topteams zunehmend nach solchen Spielern suchen.

tobit 22. November 2020 um 14:10

Gibt’s dieses Jahr eigentlich wieder einen Adventskalender oder muss ich auf Schokolade umsteigen?

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CE 22. November 2020 um 16:36

Wir befinden uns gerade in der Planungsphase. Bitte jegliche Bestellungen bei Milka zurückhalten.

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tobit 22. November 2020 um 22:44

🙂

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Daniel 28. Dezember 2019 um 10:52

Kann Naby Keita tatsächlich ein Beispiel für einen Offensivspieler in Übergangszonen sein? Klar ist Keita ein Spieler mit großer Offensivqualität und Pressingresistenz, aber Keita war doch eigentlich nie ein echter Offensivspieler, schon bei Leipzig hatte er eine Achter-Rolle/offensiver Teil einer Doppelsechs. Sicher hat er auch aushilfsweise mal offensiver gespielt, aber dann wären bspw Kroos und Thiago ja auch Beispiele für die Rolle.

Großartiges 24. Türchen und ein würdiger Abschluss dieses Adventskalenders, vielen Dank dafür. Freut mich, dass mittlerweile hier wieder deutlich mehr los ist. Ich wünsch allen hier einen guten Rutsch und ein frohes und erfolgreiches 2020!

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tobit 28. Dezember 2019 um 11:55

Kroos könnte man tatsächlich als Offensivspieler ansehen, weil er defensiv nicht wirklich besser ist. Was ihn auf seine Position in der Tiefe gebracht hat, sind eben seine offensiven Qualitäten am Ball, seine mangelnde Geschwindigkeit und seine eher ausweichende Lösung von 1vs1-Duellen. Was ihn da hält ist seine „Passivität“ gegen den Ball, die ihn von anderen Offensivspielern unterscheidet. Wo ein Brandt als Sechser die riskante Balleroberung versucht, bleibt Kroos eher weg und sichert dadurch ab.

Keita und Thiago sind in ihrem Offesivspielertum fundamental anders gelagert. Sie sind defensiv stark – viel stärker als Kroos oder Sahin (dessen Werdegang dem von Kroos durchaus ähnelt) – verhalten sich in Zugriffssituationen aber offensiver, mehr wie Brandt. Dazu kommt ihr Verhalten in Ballbesitz, das ebenso diese Direktheit und Risikobereitschaft hat, die man sonst nur von Offensivspielern in diesen Positionen sieht.
Wenn sie defensiv nicht so krass wären, würden sie als reine Offensivspieler immer noch internationale Klasse verkörpern.

Das Gegenbeispiel zu den tiefer spielenden Offensivspielern wäre Arturo Vidal. Ursprünglich ein Defensivspieler – aber offensiv so effektiv, dass man ihn Stück für Stück näher ans gegnerische Tor geschoben hat.
Diese eigentlich unpassenden Fähigkeitsverteilungen für die Position, die sie spielen, machen dann besondere Spieler aus ihnen. Manchmal schwierig einzubinden, oft missverstanden (*hust Alex Pozuelo *hust) aber immer interessant zu beobachten.

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tobit 25. Dezember 2019 um 18:35

Mit Brandt hatte ich irgendwie so gar nicht gerechnet, obwohl der ein absolut passender Pick ist. Ein sehr gelungener Artikel noch dazu. Gibt mir auch ein bisschen Kontext, warum Favre vielleicht so zögerlich war, Brandt (oder den für mich in manchen Punkten ähnlich veranlagten Guerreiro) zentral zu bringen.

Vielen Dank für den ganzen Kalender und die tollen Diskussionen und ein frohes Rest-Weihnachten an alle Autoren und Leser.

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