Türchen 19: Philipp Lahm

Oliver Fritsch schrieb in seiner Retrospektive auf die Karriere von Philipp Lahm: „Philipp Lahms bestes Spiel war eine Niederlage. Und was für eine.“ Die Rede ist vom Champions-League-Finale 2012, dem „Finale dahoam“, dem eigentlich perfekten Moment für die Rückkehr von Bayern München auf den Thron Europas. Ein Moment, der Lahm und seinen Mitspielern mehrmals im Verlauf von 135 Minuten aus den Händen glitt. Ein Spiel, in dem allenfalls einer glänzte und bewies, was ihn wirklich auszeichnete.

Grundformationen beider Mannschaften

Das Finale von 2012 war von einer merkwürdigen Stimmung geprägt. Der FC Bayern musste gewinnen; der Chelsea FC war nicht mehr als ein Außenseiter. Beide Mannschaften mussten auf einige Stammkräfte wie etwa David Alaba, Holger Badstuber, John Terry und Branislav Ivanović verzichten, sodass Anatoliy Tymoshchuk, Diego Contento und Ryan Bertrand zu Spielbeginn auf dem Rasen standen – nur um diesen historischen Umstand noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Der Balancegeber

Für Lahm bedeuteten die personellen Veränderungen eine noch größere Verantwortung. Nicht etwa nur als Kapitän der Bayern, sondern auch hinsichtlich seiner taktischen Verhaltensweise. Im 4-2-3-1 des deutschen Rekordmeisters spielte er direkt neben Tymoshchuk, der sich in der ungewohnten Rolle des rechten Innenverteidigers wiederfand. Tymoshchuk unternahm von Spielbeginn an viele, teils wilde Vorstöße, die natürlich, wenn auch nur auf ein paar Meter begrenzt, die Statik der bayerischen Mannschaft beeinflussten.

Lahm balancierte in diversen Kontexten den Aufbau seiner Mannschaft, indem er tief positioniert blieb und nicht direkt auf die Formation der Engländer zulief und dadurch nur mit tadellosen Pässen erreichbar gewesen wäre. Stattdessen stellte er Gegenspieler Bertrand vor die Entscheidung, ob dieser nun den Kontakt zur eigenen Doppelsechs aufgeben sollte oder aber Lahm mehr Freiheiten gab, die dieser immer wieder zu nutzen wusste.

Das Pressing von Chelsea war erkennbar darauf ausgerichtet, Jérôme Boateng wenig Raum für seine Vertikalpässe zu geben, wodurch die erste Linie der Engländer jedoch Lahm ein wenig aus den Augen verlor. Didier Drogba schob von innen ständig auf Boateng und versuchte noch mit unsauberer Nutzung seines Deckungsschattens Tymoshchuk zu neutralisieren. Eventuell erkannte Chelsea einerseits die Gefahr, die von Boateng im Spielaufbau ausging, und andererseits den größten Schwachpunkt des FC Bayern – namentlich Diego Contento.

Dadurch aber war Lahm nicht im Fokus und geriet ob seiner individuellen Überlegenheit gegenüber seines direkten Mitspielers nur sehr selten unter Druck. Und wenn, dann zumeist im letzten Spielfelddrittel, wenn er leicht verzögert nachschob, um Arjen Robben zu unterstützen.

Der Antreiber

Hatte Lahm also die Balancegebung des bayerischen Spielaufbaus im Griff, ging es nun vor allem darum, die Mannschaft in die richtigen Bahnen zu lenken. Im Mittelfeld der Bayern herrschte eine klare und gleichzeitig auch unklare Rollenverteilung. Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger kippten beide jeweils mit großer Regelmäßigkeit nach außen. Kroos tat dies vor allem halbrechts, wodurch die Anspiele auf Lahm aufgrund der Nähe zwischen beiden nie mit großem Tempo gespielt waren. Im weiteren Spielverlauf überließ allerdings Kroos zunehmend Lahm die Seite. Ähnlich verhielt es sich mit Robben, der in den Zehnerraum driftete oder sogar mit Franck Ribéry zusammen die linke Seite überlud und dort die anfangs gefährlichsten Torchancen kreierte.

Photo by Adrian Dennis/AFP/GettyImages

Die Rollenverteilung zwischen beiden Mannschaften war schnell deutlich: Bayern dominierte den Ballbesitz, während Chelsea mit seinen schnellen Außenspielern und Zielstürmer Drogba auf Konter lauerte. Lahm allerdings beging nicht etwa den Fehler in dieser Konstellation einfach blind vorzurücken. Er sicherte vielmehr den Ballbesitz und die Vorstöße des Teams und kurbelte diagonal von rechts hinten an. Sein Spielverständnis und situatives Gespür, was wohl nur partiell erlernbar ist, zeichneten Lahm seit jeher aus, wobei er in den Jahren seit 2010 immer mehr in die Rolle eines Spielmachers hineinwuchs, ohne dabei die Mehrzahl seiner Partien auf der Sechs bestritten zu haben.

Der Anführer

Lahm war nie ein Außenverteidiger, der durch seine überlegene Athletik glänzte. Er selbst äußerte sich sogar während seiner Karriere zu seiner Lauffaulheit außerhalb seiner Profitätigkeit. Lahm war jemand für die richtigen Momente und ein verlässlicher Weltklasse-Fußballer in allen Spielphasen. So auch im Finale gegen Chelsea. Die vereinzelten Vorstöße von Bertrand und Ashley Cole wehrte er souverän ab und hielt gleichzeitig im Rückwärtsgang die Bindung zu Tymoshchuk.

Nach der Halbzeitpause verlor die Begegnung zwischen beiden Teams an Fahrt. Bayern hatte es nicht geschafft, einen Führungstreffer zu erzielen und musste eine kurze Verschnaufpause einlegen. Auf taktische Umstellungen verzichteten sowohl Jupp Heynckes als auch Roberto Di Matteo. Die Phase der relativen Ruhe verging um die 60. Minute herum.

Das ist die Zeit, in der Lahm am wertvollsten wirkte, weil er mit seinen strategischen Entscheidungen seinem Team immens half. Ab der 65. Minute machte er verstärkt Druck über die rechte Seite. Nun entschied sich Lahm für immer mehr Vorstöße mit und auch ohne Ball. Er nutzte die lose Deckung Chelseas und dribbelte auf Bertrand zu. Juan Mata musste sich immer häufiger zu ihm gesellen. Lahm öffnete Räume und zwang zugleich Di Matteo zum Wechsel.

Photo by Adrian Dennis/AFP/GettyImages

Florent Malouda ersetzte Bertrand auf der linken Seite von Chelsea. Lahm ließ sich davon jedoch wenig beeindrucken. Stattdessen konzentrierte er sich neben seinen Vorstößen immer stärker darauf, den Blues keinen Raum mehr zum Atmen zu lassen. Die Befreiungspässe von Cole und Co. wurden unter dem Druck von Robben und Thomas Müller kürzer und ungenauer. Und sie landeten in den Füßen von Lahm. Konnte sich Chelsea doch einmal befreien, fing Lahm den Ball einfach an der Abseitsgrenze ab und brachte Malouda und Cole zur Verzweiflung.

Das Spiel schien gerade wegen Lahm (und Robben) gekippt. Müller erzielte den Führungstreffer. Der Titel war zum Greifen nahe. Ja, wäre da nicht Drogba und sein verhängnisvoller Kopfballtreffer kurz vor Schluss. Den Bayern entwischte der Sieg – und das mit dem vergebenen Robben-Elfmeter sogar ein zweites Mal in der Verlängerung.

Lahm ließ sich davon nicht irritieren. Auch nicht von dem Umstand, dass Daniel Van Buyten zwischenzeitlich eingewechselt wurde und Tymoshchuk nun im Mittelfeld spielte. Während bei den anderen 19 Feldspielern die Kräfte schwanden, wurde Lahm immer stärker, immer dominanter. Aus dem Halbraum heraus gab er die Impulse für seine Mannschaft. Vom Elfmeterpunkt verwandelte er den ersten Versuch der Bayern. Und am Ende nahm er den tragischen Fehlschützen Schweinsteiger in den Arm. Dass die Bayern in der heimischen Allianz Arena eine schmachvolle und vor allem unnötige Niederlage einstecken mussten, lag an allem, aber sicher nicht an Philipp Lahm.

Daniel 20. Dezember 2018 um 12:07

Der ohne Zweifel beste deutsche Feldspieler dieses Jahrtausends, wahrscheinlich der mit Beckenbauer, Müller und Mathäus beste aller Zeiten. Danke für diese Würdigung, auch wenn der Gedanke an dieses Spiel leider für immer schmerzhaft sein wird.

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Marlene Dietrich 19. Dezember 2018 um 19:24

Danke!

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