Türchen 17: Renato Augusto

Hinter Türchen 17 gibt’s zum ersten Mal einen Spieler, der in seiner Partie nur eingewechselt wurde. Renato Augusto kam gegen den BVB am 11. Februar 2012 erst nach einer ganzen Stunde auf das Spielfeld.  Zudem änderte sich nach seiner Einwechslung nichts mehr am Ergebnis des Spiels. Um zu verstehen, wieso mir seine Leistung dennoch als eine der herausragendsten in Erinnerung blieb, muss man zunächst etwas Kontext schaffen.

Klopps Festung im Frühjahr 2012

Zunächst sprechen wir bei Renato Augustos Gegnermannschaft über den späteren Double-Sieger, der in den 17 Rückrundenspielen 15 Siege und 2 Unentschieden einfuhr. (Hey, ich hab übrigens ein Buch darüber geschrieben!) Diese scheinbar unschlagbare Mannschaft startete zudem ziemlich defensiv in die Rückrunde: Ilkay Gündogan kam erst später dazu, um das spielerische Element zu beleben. Zunächst setzte Klopp auf die Doppelsechs aus Sven Bender und Sebastian Kehl.

In dieser Phase kasierte Dortmund in 8 Spielen nur 4 Gegentore, 3 davon aber bei komfortabler Führung. Die Borussen schienen defensiv quasi unantastbar. Mit extrem kompakten Flügeln (Großkreutz und Blaszczykowski), viel Herausrücken der zentralen Balleroberer und einem unheimlich pressingstarken Kagawa auf der Zehn lockten sie die Gegner in die Mitte und eroberten dann häufig sofort den Ball. Der HSV wurde zum Rückrundenstart etwa brutal ausgekontert.

Augusto verändert die Partie um 180 Grad

Die Leverkusener Defensive und Grundstruktur, in die Augusto eingewechselt wurde.

Die Partie gegen Bayer Leverkusen (unsere Analyse von damals unter dem Link)  war zäh, aber doch defensiv dominant geführt vom BVB: Robin Dutt hatte sich formativ sehr gut angepasst. In einem asymmetrischen 4-3-1-1-1-haften System wurde Schmelzer offen gelassen, während Piszczek und Hummels mannorientiert verteidigt wurden und die Mitte dicht war. Dortmund kam zu wenig Chancen, aber kontrollierte die Partie mit Pressing und Gegenpressing. Bayer kam nie zum Spielaufbau und kaum einmal in die gegnerische Hälfte.

Bis zur 61. Minute als Renato Augusto für Simon Rolfes eingewechselt wurde. Sofort drehte sich die Partie und der BVB erlebte wohl seine wackligste Viertelstunde dieser Saisonphase. Ab der 75. normalisierte sich das Spiel schon wieder ein wenig, weil Dutt mit der Einwechslung Bellarabis eher ungeschickt auf 4-3-3 umstellte.

Doch zwischen den beiden Wechseln dominierte Bayer das Mittelfeld mit Ballbesitz. Die Passquote der Leverkusener stieg von 70% auf 85%. Zuvor gab es meist bloß lange Bälle und sofortiges Spiel in die Spitze; nun konnte Bayer plötzlich den Ball und den Gegner laufen lassen. Augusto selber kam auf eine Passquote von 90%, mit Abstand der beste Wert der Mannschaft – und das bei einem offensiv ausgerichteten Achter.

Raumöffnen durch Pressingresistenz

Ein kleinerer Teil dieser Verändung war die personelle Konstellation auf rechts: Statt Rolfes bewegte sich nun Castro vor Rechtsverteidiger Corluka. Beide agierten recht geschickt zusammen und bekamen den Ball nun ein paar Mal verlagert, anders als zuvor.

Ein größerer Teil war Renato Augusto, der immer wieder das Spiel am Laufen hielt. Das tat er mit unterschiedlichen Mitteln. Zunächst profitierte er natürlich von seiner individuellen technischen und individualtaktischen Klasse: Er bewegte sich im richtigen Moment zum Ball, forderte den Ball in kleinen Räumen, kontrollierte ihn schnell und geschickt in die richtige Richtung und entging damit den Dortmunder Pressingversuchen.

Statt durchlaufen zu können und in den Zweikampf zu kommen mussten die Dortmunder Mittelfeldspieler bei Augusto immer wieder abstoppen, um nicht ausgedribbelt zu werden oder um Vorwärtspasswege zu schließen. Augusto konnte sich immer wieder drehen, zog dadurch mehrere Gegenspieler auf sich und konnte dann dennoch den Ball weiterspielen. In der Folge bekamen alle Leverkusener im Aufbauspiel mehr Raum und Zeit am Ball. Die Borussen mussten immer wieder hin- und herschieben und fielen dadurch auch tiefer zurück.

Augusto fordert den Ball am Rechtsverteidiger, ist sofort von vier Gegenspielern umstellt. Mit der Sohle kontrolliert er ihn in die Mitte der Gegnertraube. Dortmunds Linksaußen will den Vorwärtspass schließen, der Zehner wird mit rübergezogen. Nach Rückpass auf Rechtsverteidiger Corluka kann dieser problemlos auf den völlig freien Innenverteidiger verlagern, der viel Raum und gute Passmöglichkeiten hat.

Raumöffnen durch Bewegungen

Und nicht nur mit Ball überzeugte Augusto, sondern auch seine Bewegungen ohne Ball waren stark. Seine Rolle war sehr frei, er schwirrte quasi überall auf dem Platz herum. Er forderte viel den Ball, aber nicht permanent. Ebenso häufig bewegte er sich hinter Gegenspieler, um dem Ballführenden Mitspieler oder der nächsten Passoption Raum zu öffnen.

Auch das führte dazu, dass Bayer viel häufiger den verlagernden Pass hinbekam und daher deutlich mehr Raum und Zeit für die vertikale Spieleröffnung hatte. Solche gegnerbindenden Bewegungen nutzte er teils auch in sehr unorthodoxer Art und Weise:

Nach dem Zurückfallen zwischen die Innenverteidiger laufen Kagawa und Lewandowski diagonal an. Augusto kreuzt vor Kagawa nach außen. Der ballführende Innenverteidiger wird deshalb nicht mehr von Kagawa attackieren, kann sich wegdrehen und auf den anderen Innenverteidiger verlagern, der wiederum viel offenen Raum vor sich hat, da auch Lewandowski von Augusto weggezogen wurde.

Überladungen außen, innen, hinten

Zudem war Augustos Positionswahl häufig sehr gut, obwohl sie völlig frei und improvisiert wirkte. Er versuchte in der Offensive kleinräumige Überladungen herzustellen und im Aufbauspiel frühzeitig die Struktur so zu beeinflussen, dass die das Dortmunder Anlaufen verhindert wurde oder überspielt werden konnte. Die Offensivüberladung demonstrierte er direkt mit seiner ersten Aktion auf dem Feld:

Benders Herausrücken stört Augusto nicht und er spielt die sinnvolle Halbraumverlagerung. Anschließend bewegt er sich sofort in den geöffneten anderen Halbraum…

Dort überlädt er mit Castro und kann nach Corlukas Querpass sofort ablegen. Es resultiert eine sehr gefährliche Situation gegen den BVB. Castro misslingt aber der nächste Ball, Hummels klärt.

Im tieferen Aufbau bewegte er sich beispielsweise in den Halbräumen nach außen, wie oben dargestellt; sozusagen die typische Modric-Bewegung. Auf links bewegte er sich manchmal sogar bis an die Seitenlinie, wobei er Lars Benders tiefe Positionierung gut ausnutzte.

Hochgrad unorthodoxe Bewegung hier: Zunächst öffnet Augusto zur Seite , um sich für den Linksverteidiger anzubieten. Nach dessen Rückspiel, rotieren beide, sodass Augusto auf die Linksverteidiger-Position zurückfällt, während Dortmunds Rechtsaußen weggezogen wird. Er umdribbelt Kagawa und verlagert auf die geöffnete ballferne Seite. Daraus entstand sogar ein Doppelpass: Corluka bewegte sich in die Mitte, Augusto Richtung Mittelkreis, er bekam den Ball zurück und verlagerte wieder nach linkls. Effekt: 40 Meter Raumgewinn, Dortmund in der eigenen Hälfte.

Mehrfach fiel er sogar (als Achter) zwischen die Innenverteidiger zurück, um eine Dreierkette zu bilden (siehe Grafik weiter oben).

Vermeiden der Pressingfallen

Auch seine Passentscheidungen führten dazu, dass die Borussen schlechter ins Pressing kamen. Er spielte nicht permanent den offensichtlichsten Pass, der für Dortmund leicht zu pressen gewesen wäre. Einige Male ging er gezielt Dribblings ein, um bessere Passmöglichkeiten zu öffnen und ermöglichte dadurch seinen Mitspielern wiederum bessere Folgeaktionen.

Der systematische Kontext und die mäßige Endphase

Wie gesagt normalisierte sich das Spiel in der Endphase wieder ein wenig. Einige hervorragende Aktionen hatte Augusto noch, der BVB kam aber insgesamt wieder besser ins Pressing. Das lag vor allem daran, dass Bellarabi sich links nicht am Spielaufbau beteiligte und die Zugriffsmöglichkeiten für Dortmund dadurch klarer wurden. Insofern demonstrierte das Spiel in beeindruckender Klarheit zum einen, wie stark ein einzelner Spieler eine Partie beeinflussen kann, dann aber auch wiederum, wie sehr er von der Struktur der Mannschaft und seinen Mitspielern dabei abhängig ist.

Außerdem darf zur Einordnung angemerkt werden, dass Bayer selbst in dieser guten Phase nicht zu Chancen kam: Einige Spieler spielten schlechte Vertikalpässe und die Offensivspieler konnten sich gegen Dortmunds starke Viererkette nicht durchsetzen. Spätestens im Abwehrdrittel räumten die Borussen alles weg.

Ineffektiv und dennoch überragend

Zudem war Augustos Defensivleistung eher in Richtung katastrophal und er war in der 65. Minute mitverantwortlich für Dortmunds beste Chance des Spiels; wohl der Hauptgrund, dass er nur eingewechselt wurde.

Dennoch war dieser Auftritt Renato Augustos in Dortmund ein absolute herausragende Leistung in puncto „Ausspielen eines Pressingsystems“. Die Positionswechsel, die Bewegung ohne Ball, die Passentscheidungen, die Ballannahmen und Drehungen sowie die effektiven Dribblings sind alles Kernelemente, um einen kompakten, gut organisierten Gegner auszuhebeln. Die typischen Aspekte von Spielern wie Busquets, Modric, Kroos oder Özil sah man hier allesamt bei einem einzigen Spieler.

Und besonders im zeitlichen Kontext vollbrachte Augusto herausragendes: Er hebelte sozusagen im Alleingang ein Pressing aus, welches die gesamte Liga zu diesem Zeitpunkt vollkommen dominierte.

blub 17. Dezember 2018 um 22:43

toller Artikel. Und es ist ein Statement wie krass überlegen Dortmund damals war, das das Ausspielen der ersten Presinglinie bereits so in Erinnerung blieb.

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