Phasen eines ungewöhnlichen Kicks
Defensivstabilität und Körperlichkeit bestimmten ein intensives Achtelfinale, aber waren beileibe nicht dessen einzige Facetten. Kolumbien geht lange kaum Risiko und dreht später den Plan zu einem aggressiven Stil hin um.
Ohne den verletzten James musste Kolumbien gegen England antreten. Diese Voraussetzung bewog Trainer José Pekerman zu einer formativen Umstellung: Er brachte einen zusätzlichen defensiven Mittelfeldspieler und schickte eine Art Raute aufs Feld. Durch den etwas weiter nach außen und vorne orientierten linken Achter wurde diese minimal asymmetrisch. Auffällig war, welch intensive Mannorientierungen die Kolumbianer gegen den Ball nutzten: Zwar gehört das in gewisser Weise zu ihrem spezifischen Stil hinzu, zeigte sich in dieser Begegnung jedoch besonders ausgeprägt – nicht unbedingt die naheliegendste Wahl gerade gegen die Engländer.
Englands Ansätze gegen Kolumbiens Mannorientierungen
Eigentlich kann man mit einer nach hinten raumorientierten und durch Tiefenpräsenz geprägten Defensive sehr gut die Problematik der zu hohen Achterbewegungen bei den Engländern betonen. Interessant war in diesem Zusammenhang auch, dass Pekerman nicht auf eine Variante mit verschiedenen Zurückfallbewegungen Cuadrados nach hinten setzte, wie sie beispielsweise gegen Polen angewandt wurde. Gerade die Achter verfolgten diesmal sehr weiträumig ihre direkten Gegenspieler Lingard und Alli, die Außenverteidiger rückten bei Anspielen auf die englischen Flügelläufer aggressiv heraus. Davor sollten die drei vorderen Kräfte der Raute die Wege ins Mittelfeld versperren: Die Stürmer hielten sich etwas breiter, Quintero agierte nur knapp dahinter und versuchte Henderson im Deckungsschatten zu halten.
Gegen die englische Dreierkette ließen sich aber nicht alle Anbindungen an die Halbräume zustellen, auch wenn Kolumbien viele Vorwärtsoptionen und auch die einfache Zirkulation entlang der Fünferkette weitgehend verhinderte. Im Mittelfeld schufen die Engländer recht gut Räume, speziell Alli wich sehr weit aus und band Carlos Sánchez nach außen. In der Anfangsphase hatten die Kolumbianer dementsprechend Probleme mit längeren Zurückfallbewegungen in die geöffneten Bereiche. Dorthin ließen sich Kane oder vor allem Sterling fallen, dem Wílmar Barrios nicht immer ganz nach hinten folgen wollte, zumal wenn andere Offensivspieler in der Nähe rochierten. Teilweise versuchte einer der Achter bei weiten Umformungen aus ballfernen Zonen in den anderen tiefen Halbraum, den Gegenspieler des jeweiligen Kollegen zu blockieren.
In den entsprechenden Freiräumen erhielten die englischen Spieler Pässe von den Halbverteidigern und konnten andribbeln oder kleine Kombinationen starten, um so ihre gedeckten Mitspieler in 2gegen1-Situationen zu befreien. Bei Verlagerungen nach außen startete der jeweilige Achter häufig diagonal in die Spitze hinter das Herausrücken des kolumbianischen Außenverteidigers. Intuitiv verhielten sich die Engländer im Bewegungsspiel also geschickt: Die Achter machten die Mitte auf, die Spieler versuchten sich füreinander Raum zu öffnen und fanden einige sinnvolle Rochaden. Dies führte zu einer dynamischen Anfangsphase, in der sie sich einige Male flott in die Offensive spielen konnten, auch wenn keine Großchancen heraussprangen.
Der Schwung verläuft sich
Diese vielversprechenden Ansätze warfen ein wenig die Frage auf, wieso Pekerman so klare Mannorientierungen für die Defensive gewählt hatte. Mit der Zeit kamen seine Kolumbianer dann aber besser zurecht, nachdem sie sich in ihren individuellen Verhaltensmustern akklimatisiert hatten. Je klarer und fokussierter die Engländer wiederum die gegnerischen Deckungen zu bespielen versuchten, desto weniger gut gelang es ihnen – eine etwas ungewöhnliche Entwicklung: Immer häufiger spielten sie etwas zu früh und etwas zu aggressiv den Vertikalpass, versuchten sich mit überambitioniertem Ausweichen den Raum zu öffnen und konnten dabei irgendwann die Unterstützung füreinander nicht mehr so gut aufrechterhalten.
Zudem ging eine kleinere Änderung nicht so recht auf: Nachdem Henderson lange Zeit meist überspielt wurde, wich er sich Laufe der ersten Halbzeit wich Henderson vermehrt nach halblinks oder rückte weiter auf. Die ersten drei Pressingspieler ließen sich davon aber nicht groß beirren, weitere Passwege ließen sich so nicht öffnen. Insgesamt gab das eher Quintero die Möglichkeit, sich noch ein Stückchen tiefer zu staffeln als vorher und so die Räume für die Rückstöße der englischen Offensivkräfte zu verkleinern, oder nahm England etwas Präsenz und Effekt in der tiefen Zirkulation. Eine höhere Henderson-Einbindung bedeutete einen schmalen Grat: Man hatte potentiell einen weiteren freien Mann und Überzahlspieler, aber das gesamte Bewegungsspiel war etwas komplizierter zu koordinieren, um sich nicht gegenseitig etwas Raum zu nehmen.
Kaum Offensivpräsenz und Risiko bei Kolumbien…
Letztlich blieben die großen Torchancen für England aus und so ging es mit einem torlosen Remis in die Pause. Dies schien zunächst einmal Kolumbiens Plan zu sein, denn auch bei eigenem Ballbesitz agierten sie sehr vorsichtig, mit enorm geringer Offensivpräsenz. Ihren zentralen Sechser konnten die Engländer mit deren zwei ersten Pressingspielern abschirmen oder zurückdrängen, auf die jeweils – oft auch gleichzeitig – herauskippenden Achter Kolumbiens bestanden Pressingmöglichkeiten für die aus der 5-3-2-Grundordnung ballnah herausschiebenden Mittelfeldleute. Das Team von Gareth Southgate konnte so schon einige Verbindungswege blockieren, hätte aber auch noch konsequenter den Druckaufbau aus diesen Staffelungen forcieren können.
Weiter vorne gab es bei Kolumbien wieder einen klaren Rechtsfokus: Auch aus der Raute wurde das übliche Duett aus Arias und dem dribbelnden Cuadrado aufgezogen, Quintero ging von der nominellen Zehnerposition ebenfalls bevorzugt in die rechten und halbrechten Bereiche. Wirkliche Überladungsbildungen stellten sich in dieser Fokuszone aber nicht dar, aufgrund der defensiven Besetzung: Die Offensivpräsenz vor dem Ball bestand oftmals nur aus Falcao allein gegen die gesamte englische Verteidigerreihe, vor allem war zusätzlich auch die Präsenz am Ball und unmittelbar um diesen herum geringer als in den Gruppenspielen. Schon am Übergang ins Angriffsdrittel geriet Kolumbien in klare Unterzahlen und hatte dementsprechend Schwierigkeiten mit erfolgsstabilen Vorwärtsaktionen. Auf dem linken Flügel kam hinzu, dass vor Mojica ohnehin weniger Anspielstationen geschaffen wurden.
…aber ganz gute Anlagen im zweiten Drittel
Auch wenn Kolumbien in den offensiven Zwischenräumen und in den Bereichen an der vordersten Linie also kaum Bälle festmachen konnte: Bis zum höheren zweiten Drittel verbuchten sie schon einige ansehnliche Stafetten, konnten das Leder in etwas längeren Ballbesitzphasen auch mal halten und zirkulieren lassen. (Nur in strafraumnahe Abschlusspositionen kamen sie eben praktisch nicht.) Das funktionierte über verschiedene Faktoren: Quintero war ein Beispiel für individuelle Verhaltensmuster, wenn er bei kurzem Andribbeln aus dem rechten Halbraum immer wieder explosiv abbrach, um Pässe gegen eine Verschiebedynamik spielen zu können. Zudem wurden verschiedene Freilaufmuster neben die englische Formation sehr dynamisch angesetzt und ebenfalls mit kleinen Dribblings oder Auftaktbewegungen zum Zeitgewinn verbunden.
Um sich gegen diese Ballbesitzphasen wieder häufiger das Leder holen und breitflächiger Druck ausüben zu können, versuchten die Engländer zwischenzeitlich auch eine Umstellung auf 5-4-1- bzw. daraus entstehenden 5-2-2-1-Defensivstaffelungen, die mehr Pressingmöglichkeiten bieten sollten: Sterling ging nach außen, wie er es zum ballfernen Raumfüllen ohnehin teilweise machte, der Achter auf der anderen Seite zog sich ebenfalls zurück und dessen Kollege agierte mehr neben Henderson in einer Art Doppel-Sechs. Allerdings wurde dies nur inkonsequent umgesetzt und selten zu Ende geführt: Es blieb bei einer eher improvisierten Asymmetrie, die im Zweifel während der kolumbianischen Ballbesitzphase doch lieber wieder zugunsten einer Rückkehr in das eigentliche Schema aufgelöst wurde.
Offensiver, improvisierter, attackierender
Eine Zäsur bedeutete der englische Führungstreffer – passenderweise per Elfmeter nach einem Foul bei einer Standardsituation – für die Begegnung: Natürlich musste Kolumbien die eigene Herangehensweise irgendwann verändern und die Risikovermeidung bei Ballbesitz reduzieren. Es dauerte nicht lange, bis Pekerman mit Bacca einen weiteren Stürmer für Carlos Sánchez einwechselte. Der neue Mann besetzte nominell die linke Seite, trieb sich aber fast ausschließlich mit im Zentrum herum. In den eigenen Offensivaktionen hatten die Kolumbianer nun eine 4-2-2-2-artige, stark nach halbrechts versetzte Rollenverteilung. Etwaige formative Lücken konnten sie mit ihrer Laufstärke und Intensität insgesamt recht gut auffangen.
In der Umsetzung blieb das aber sehr chaotisch: Neben wilden Bewegungen gab es vor allem zahlreiche frühe, überaggressive Zuspiele direkt auf die Stürmer, selbst von Mojica in irgendwelchen Situationen an eine halblinks kaum unterstützte letzte Linie mit reichlich Optimismus. Die Abpraller nach solch druckvollen Aktionen waren für die Engländer zumindest unangenehm und Kolumbiens Stürmer mussten zum Nachpressen ihre ohnehin dorthin gerichteten Bewegungen einfach nur fortführen. Überhaupt schienen die Kolumbianer stark auf die Quantität der Aktionen zu setzen: Irgendwann würde ein Ball durchrutschen, würde das Gegenpressing Früchte tragen oder würde man die Engländer zu einem Fehler provozieren können.
Im Normalfall erzeugten ihre improvisierten Angriffsbemühungen aber kaum Gefahr. In der Schlussphase führten dieser Stil und die offensiver werdende strategische Ausrichtung dazu, dass die nicht ganz so hohe Intensität der Engländer sich auswirkte – langfristig angelegte Zirkulationsphasen decken diese kleine Problematik auf. Zudem zog sich deren Mittelfeldreihe immer vorsichtiger zurück, die Abstände zu Kane und Sterling bzw. dann Vardy nahmen zu und Kolumbien konnte den Gegner besser nach hinten drängen. Effektiv sollten ihre Bemühungen aber erst sehr spät nach weiteren Umstellungen und der Einwechslung des nächsten Stürmers, diesmal Muriel, werden. Mit etwas Glück brachte ein weiteres Tor nach einem Standard in der Nachspielzeit die Verlängerung.
Wirksames 4-4-2/4-3-3 und weitere Umstellungen
Dort kamen die Veränderungen wirklich zur Entfaltung. Für den dritten nominellen Angreifer hatte Pekerman mit Quintero sogar seinen wichtigsten Kreativspieler herausgenommen. Nun formierten sich die Kolumbianer in einer asymmetrischen Mischung aus 4-3-3 und 4-4-2, in welcher Muriel von der linken Seite aus nach vorne agierte und Cuadrado sehr flexibel den rechten Flügel und Halbraum beackerte, teilweise Räume in alle Richtungen füllte. Bei Ballbesitz spielten die Kolumbianer weiterhin sehr attackierend, mit direkten und teilweise riskanten Bällen vertikal in die Spitze. Schon aus den schnellen Übergängen durch das zweite Drittel wuchtete Cuadrado viele Halbfeldflanken in den Strafraum auf die Stürmer.
Systematisch zeigte sich die neue Formation als sehr passend gegen die englische Spielweise: In den tieferen 4-4-2-Defensivstaffelungen ließen sich die Achter der „Three Lions“ gut in den Schnittstellen der Mittelfeldreihe verteidigen – zumal Henderson ohnehin häufig tiefer agierte – und die Umformungen recht einfach handhaben, auch wenn weiterhin viele Mannorientierungen dabei waren. Offensiv kamen die Kolumbianer nun vor allem über die linke Seite sehr oft nach vorne und konnten mit einem eigentlich simplen Mechanismus abermals die Intensitätsprobleme der Engländer bespielen: Sie ließen den Ball über das konsequente Herauskippen von Uribe breit laufen, Lingard rückte heraus und deckte eher den diagonalen Passweg, in seinem Rücken wurde Trippier durch Mojicas Aufrücken und überhaupt die Abwehrlinie durch Kolumbiens Stürmer gebunden.
Wenn sich Muriel in diesen Szenen im richtigen Moment explosiv in den vertikalen Zwischenraum fallen ließ, konnte er von Uribe bedient werden und problemlos aufdrehen. Bei England verhielten sich Trippier, Lingard und der mittlerweile als Sechser eingewechselte Dier nicht gemeinschaftlich, sondern jeweils für sich. Daher war der defensive Mittelfeldmann häufig zu spät, der er zu wenig mit Anpassungen etwa der Körperstellung auf Muriels Andribbeln reagierte. Der kolumbianische Angreifer leitete einige Ansätze zum Halbraum ein, ansonsten trug er den Ball weiter den Flügel entlang auf Mojica. Sobald sich außen die Möglichkeit ergab, fokussierte Kolumbien nun Flanken, ebenso in Person von Cuadrado rechts. Später gab es bei den Mannen von Pekerman doch noch eine Fünferkette, bei England spielte Rashford als Achter – mit Umstellungen sparte die Verlängerung also nicht, bevor das dramatische Finale anstand.
Fazit
Weitgehend blieb die Partie im Griff von Defensivstabilität, Körperlichkeit und den vielen von Protesten begleiteten Unterbrechungen. Kolumbien startete mit einer sehr vorsichtigen Besetzung, ging bei Ballbesitz wenig Risiko und auch England hielt im Pressing meist die Fünferkette tief, ließ eher die Achter herausrücken. Gegen die Mannorientierungen und die ebenfalls eher defensiven, dadurch teilweise laschen Zugriffsübergänge waren beide Teams sogar gut am Ball, nur kam davon wenig an den Strafräumen an: England hatte im Bewegungsspiel und den Eröffnungen aus der Dreiekette auf flexible Zurückfallbewegungen anfangs einige Ansätze, Kolumbien zwischendurch stets seine längeren Ballbesitzphasen und schaffte es sogar mit der enorm geringen Offensivpräsenz, diese zu realisieren. Es fehlte den Angriffsbemühungen aber jeweils wieder am letzten offensiven Element, an den Übergängen zur Durchschlagskraft. Bis zuletzt blieb die Partie trotzdem sehenswert, vor allem durch die zahlreichen Facetten aufgrund der verschiedenen Umstellungen, bei denen gerade Kolumbien den Schalter stark umlegen und sich strategisch – bei Weiternutzung vieler einzelner taktischer Mittel – deutlich anders aufstellen konnte.
2 Kommentare Alle anzeigen
Aliou Bob Marley Cisse 7. Juli 2018 um 19:38
Kolumbien war für mich spielerisch gegen den Senegal wie gegen England eine Enttäuschung und ein Rückschritt gegenüber 2014. Gerade die beiden Außenverteidiger hatte ich damals sehr stark in Erinnerung.
Vielleicht doch wieder zu viel Vorsicht von Pekerman?
England hat gegen Schweden gezeigt, dass Sie zwar Zählbares über Standards machen, dass aber ein Fortschritt in Ballbesitz zu sehen ist und gerade Sterling sehr gefährlich werden kann wenn er hinter die letzte Linie kommt. Auch, wenn die Partie nicht sehr spektakulär war-Schweden muss man erst einmal so kontrollieren. Das Potential ist da.
August Bebel 6. Juli 2018 um 12:03
Quintero hat mir bei dieser WM (und ich meine schon 2014) sehr gut gefallen, wenn auch in diesem Spiel nicht mal ganz so gut wie vorher. Ganz egoistisch gesagt hoffe ich, dass ihn irgendwer zurück nach Europa holt, damit ich ihn öfter spielen sehen kann.
Es wird spannend zu sehen sein, ob die Engländer auch Schweden über Standards knacken können, denn ansonsten hatten sie offensiv bislang noch nicht viel zu bieten.