Argentinien springt von der Schippe
Aufwändige Defensivbewegungen und recht clevere Mannorientierungen zur Verdichtung von Messis Raum hätten den Favoriten beinahe aus dem Turnier geworfen. Mit Ballbesitz und Umschaltvorteilen auf seiner Seite schafft Argentinien aber den knappen Sieg.
Nach den schwachen Auftaktergebnissen und zahlreichen Diskussionen, sogar einigen Berichten über größere interne Streitigkeiten und Zerwürfnisse war vor dem entscheidenden Spiel der Argentinier gegen Nigeria die mit viel Interesse erwartete Frage, wie Jorge Sampaoli seine Mannschaft aufstellen würde. Die Antwort: Der Coach nahm einige personelle Umstellungen, unter anderem einen Torwartwechsel, vor und Lionel Messi ging seiner Spielweise diesmal aus einer nominellen Rechtsaußenposition nach. Um seinen bevorzugten rechten Halbraum herum gab es viele Rochaden mit Enzo Pérez, wie es so oder ähnlich auch in den vorigen Partien und in der unmittelbaren Vorbereitungszeit vor dem Turnier der Fall war. Doch die Ausgangsordnung bei gegnerischem Ballbesitz – deutlich zu sehen gerade bei langen Bällen Nigerias vom Torwart aus – war häufiger als ein 4-4-1-1 ein klares 4-3-3.
Nigerias spezielle Mannorientierungen
Hatten sie selbst das Leder, knüpften die Argentinier an die grundlegende Rollenverteilung der ersten Begegnungen an. Entsprechend der Ausgangslage war das auch häufig der Fall: Der Vize-Weltmeister brauchte einen Sieg, während Nigeria mit einem abwartenden Ansatz starten konnte. Trainer Gernot Rohr entschied sich abermals für eine Fünferkette und viel Defensivpräsenz. Im Mittelfeld spielten Mannorientierungen wiederum eine wichtige Rolle, die prinzipiell sinnvoll gewählt waren: Vor allem Ndidi verteidigte recht eng gegen Banega und dessen Offensivbewegungen, Etebo als vorderster Zentrumsakteur wurde gegen Mascherano zugeteilt, rückte aber nicht zu weit heraus und versuchte, dessen direkte Passwege nach vorne zu blockieren, anstatt ihn durchgehend zuzustellen oder zu bedrängen.
Dahinter blieb also mit Kapitän John Obi Mikel noch ein Spieler übrig, der für Präsenz im Messi-Raum sorgte und in jenem Umkreis flexibel verteidigte: Er konnte diesen Raum passiv verdichten, mal – etwa bei breiteren Positionierungen des argentinischen Superstars – Enzo Pérez weiter verfolgen, punktuell selbst den Zugriff auf Messi suchen, sofern dies aus einer bestimmten Dynamik heraus gerade einigermaßen erfolgsstabil schien, oder sogar diagonal bis zum Flügel nachrücken und im Verschieben mehr Druck etwa auf Mercado ausüben. Im Verlauf der zweiten Halbzeit übernahm Ndidi häufiger diese Rolle und ließ sich für zusätzliche Präsenz um Messi herum teilweise enorm tief an die Abwehrlinie fallen: Selbst bzw. gerade bei Angriffen über links war das ballfern zu sehen und machte die horizontalen Direktanbindungen umständlicher – ein wichtiger Punkt in diesem Abschnitt der Partie.
Die Präsenz schiebt sich langsam zusammen
In der Anfangsphase versuchten es die Argentinier häufig mit Higuaín als eine Art Übergangsspieler und kurzen Rückstößen des Mittelstürmers: Ausweichende Bewegungen Banegas zogen den mannorientierten Ndidi weg und öffneten horizontale Lücken für Direktpasswege für die Verteidiger durchs Zentrum, zumal Mikels Grundposition für gewöhnlich auch etwas breiter war als es normalerweise in einer Doppel-Sechs der Fall wäre. Diese Zuspiele erreichten Higuaín recht zuverlässig, der sie per Drehung meistens nach halbrechts mitzunehmen versuchte. Dagegen konnte Mikel wiederum aus seitlicher Position frontal gegen den Stürmer pressen, per Deckungsschatten dessen Passwinkel etwas einschränken und die Dynamik nach hinten zwingen. Trotzdem brachte dieser Ablauf den Argentiniern gute Anbindungen zu Messi und Möglichkeiten zur Tempoaufnahme.
Einerseits war die nigerianische Spielweise mit der etwas breiter zu Messi orientierten Konzentration an Defensivpräsenz und den unangenehmen, robusten Mannorientierungen dazwischen schwierig zu bespielen. Häufig wurden die flachen Staffelungen noch durch die Stürmer ergänzt: Zunächst stellten die Angreifer im Pressing lose die gegnerischen Innenverteidiger zu, bewegten sich dann immer mehr in die Breite und schoben oft nach außen nach, ehe sie sich in äußeren Bereichen nur noch knapp vor der Mittelfeldreihe befanden, ungefähr auf Höhe der gegnerischen Außenverteidiger. So ergab sich zunehmend eine trapezartige Anordnung, in der nun Etebo gegenüber Mascherano die Defensivbemühungen in dieser nächsten, tieferen Phase ansteuerte und mit kurzem Herausrücken wirksam Rückpässe provozieren konnte.
Abläufe um Messis Halbraum
Andererseits mussten die Argentinier ein bisschen aufpassen, in ihrer Offensivausrichtung nicht zu breit zu werden: Banega und Enzo Pérez drifteten auseinander, die linke Seite bzw. zumindest di María als Außenstürmer war weitgehend abgebunden und Higuaín hatte so nicht immer eine stabile Bezugsstation. Das waren häufig nur Detailpunkte und wurde wirklich „problematisch“ erst in der zweiten Halbzeit, als Tagliafico zu weit aufrückte und Banega zu breit auswich. Eigentlich dürfte es vom Prinzip ohnehin zum Plan gehört haben: So lässt sich eben mehr Raum für Messi in seinem Bereich halbrechts kreieren. Zudem hätte es noch besser und mit weniger Störgeräuschen funktionieren können, wenn die (gruppen)taktische Anlage in jenem Halbraum entsprechend gegriffen hätte.
Hier kamen die Argentinier wechselhaft zum Zuge: Sie hatten reichlich Bewegung zu bieten und konnten über unterschiedliche Rochaden von Messi und Enzo Pérez immer mal Raum öffnen, aber vieles funktionierte nicht ganz sauber. Kleine Dynamikvorteile nutzten sie mit gutem Rhythmusgespür sofort für kombinative Beschleunigung und Messi spielte einige gute Diagonalpässe oder stellte die Verbindung zu Banega her. Nachstoßende Zwischenläufe im ballfernen Halbraum, die außerdem Tagliafico einbringen konnte, bildeten ein gutes, harmonisches Element. Allerdings fehlte im rechten Halbraum ein konstanter dritter Mann, da Mercado in seiner Rolle als Außenverteidiger phasenweise eine zu tiefe und darin teilweise zu defensive Selbsteinbindung suchte.
Nigeria konnte aus der Fünferkette dagegen oft noch einen zusätzlichen Spieler von hinten herausrücken lassen und die Präsenz verstärken. Wenn Mercado in breiter Position von den Innenverteidigern angespielt wurde, befand er sich häufig zwischen dem pressenden Flügelläufer und dem nach hinten gehenden Stürmer, dahinter folgte direkt Mikel und Etebo klinkte sich zusätzlich sehr weiträumig ein. Selbst bei mehr Ruhe auf dieser Seite gab es gerade durch die zu dominante Einbindung Mercados, die dessen Entscheidungsfindung prominenter machte, einige hektische und überambitionierte Vorwärtspässe. Zumindest bedeuteten solche Szenen aber überhaupt kein Risiko, da sie in ungefährlichen, unbesetzten, torfernen Räume versandeten.
Argentinien mit Absicherung
Dies war ein wichtiger Pluspunkt für die Argentinier in dieser Partie: weitgehende Absicherung. Mit tiefen Einbindungen Mercados und der dominanten Rolle Mascheranos verloren sie gegen die seltenen Phasen aggressiven Pressings kaum Bälle in den ersten Aufbaulinien – außer durch einige individuelle Aussetzer – und hatten normalerweise recht viel Präsenz hinten, zumal auch Tagliafico häufiger zumindest einrückend spielte. Wenn Nigeria Konterangriffe auszulösen versuchte und dafür oft direkte Pässe auf die ausweichenden Stürmer nutzte, konnte Argentinien das gerade mit der Kombination aus Innen- und Außenverteidiger schnell doppeln. Überhaupt machte das Gegenpressing bei Sampaolis Team diesmal einen starken Eindruck.
Eine zügige Einbindung ihrer Angreifer suchten die Westafrikaner ebenso aus dem eigenen Ballbesitz heraus. In diesen Szenen arbeiteten die Argentinier mit vielen aggressiven und flexiblen, aber bisweilen zu forschen Mannorientierungen. Auch Nigerias Mittelfeld schien sich phasenweise einfach in diesen Zuordnungen bzw. der groben Orientierung zu halten – möglicherweise deshalb, weil sie bei etwaigen Ballverlusten auf diese Weise sehr einfach in die defensiven Schemata zurückkehren und in der Unordnung des Umschaltmoments sofort wieder aggressiven Zugriff suchen konnten. Praktisch stellte sich das aber etwas anders dar:
Konter nach direkter Stürmereinbindung
Den direkten Weg nach vorne auf ihre Stürmer suchten die Nigerianer entweder über lange Bälle oder durch flache Vertikalzuspiele an den Mannorientierungen vorbei, bevorzugt jeweils durch Mikel gespielt. Nicht nur war das Nachrückverhalten aber zögerlich, mitunter hätte es auch zeitlich gar nicht greifen können, da die Pässe so früh erfolgten. Gerade für die flachen Bälle mussten die nigerianischen Angreifer stärker entgegenkommen, doch bei sehr wechselhafter Unterstützung und fehlenden direkten Anschlussoptionen, konstanter Überzahl der gegnerischen Viererkette und ungünstigem Sichtfeld war das trotz der vorhandenen Räume schwierig: Vereinzelt gelangen mal Weiterleitungen oder Mannorientierungen konnten mit Dribblings aufgelöst werden, so dass zwei bis drei Nigerianer einen Schnellangriff fuhren.
Aber das bedeutete nur einen vergleichsweise geringen Ertrag für die Ballverluste, die man dafür in Kauf nehmen musste. Wenn Argentiniens Verteidiger also auf diese Weise das Leder von den isolierten Angreifern eroberten, taten sie das in eigenen Unkompaktheiten und hatten damit im ersten Moment etwas Freiraum. Letztlich waren es eher die Argentinier, die zum Kontern kamen: Das Führungstor entstand aus einer Art Umschaltsituation und auch die zweitgrößte argentinische Chance in der ersten Halbzeit, Messis Pfostenfreistoß, resultierte ursprünglich aus einem furiosen Gegenstoß über di María. Diesen Szenen war gemeinsam, dass die allerersten Momente nach dem Ballgewinn klug für kurzes Ausweichen genutzt und anschließend das Mittelfeld – mit den potentiellen Mannorientierungen und dem dort guten Gegenpressing – weitgehend überspielt wurde.
Fazit
Nach einer etwas weniger dynamischen zweiten Halbzeit mit weniger Offensivgefahr Argentiniens, da auch höherer Vorsicht Nigerias musste es ein Gemenge pragmatischer Umstellungen für Argentinien richten: Agüero als zusätzlicher Stürmer für Tagliafico in der Schlussphase, zuvor schon der junge Pavón mit seinen Dribblings und Tiefenläufen in seitlicher Position für Durchbrüche anstelle des zunehmend zu tiefen und sich ungünstig positionierenden Enzo Pérez. Das späte Siegtor lag schließlich an Marcos Rojo, der als Innenverteidiger in dieser Szene im gegnerischen Strafraum auftauchte. So konnte Argentinien das Drama haarscharf abwenden, während die tapferen Nigerianer nach einer durchaus sehenswerten Vorstellung und guter Defensivarbeit mit leeren Händen da standen.
Nun mag Argentinien im Achtelfinale gegen Frankreich zunächst einmal Außenseiter sein und trotz des Sieges und einiger Ansätze verhalf auch diese Begegnung Sampaolis Offensivausrichtung nicht wirklich zu seinem Durchbruch. Aber Argentinien präsentierte sich insgesamt deutlich verbessert: mit mehr Intensität, bei noch nicht optimaler Kompaktheit jedoch stabiler und schärfer in den Defensivbewegungen und außerdem vor allem mit einer teils starken Vorstellung in Gegenpressing-Momenten. Aktuell ist das Team kein Kandidat für Glanz, aber den bisher auch noch ohne die taktische Würze auftretenden Franzosen könnte es ein zähes, verknapptes Ringen liefern.
5 Kommentare Alle anzeigen
AK59 28. Juni 2018 um 09:58
Schade, eine offensive bestehend aus Spielmaterial wie Messi, Aguero, Higuain, Di Maria, Dybala, Banega + einem Trainer wie Sampaoli, wäre doch eigentlich prädestiniert für mehr „Glanz“… der einzige der im Bunde noch fehlt, wäre Leandro Paredes und schon hätte man doch das Maximum an Spielstärke auf dem Platz.
Trotzdem denke ich, dass Argentinien sich steigern kann und wird.
Aliou Bob Marley Cisse 29. Juni 2018 um 16:23
Vor vier Jahren kritisierte jeder zurecht den „Angsthasenfußball“ von Sabella-trotz des Finaleinzuges. Des weiteren war von der Mickey-Maus-Laufarbeit von Messi und dessen Diva-Status zu reden. Vier Jahre später kommt der Bielsa-Schüler Sampaoli und versucht Messi zu mehr Teamarbeit zu drängen. Das Ergebnis ist, dass Sampaoli nun genau dafür kritisiert wird. Man sehnt sich nun wieder nach der defensiven Stabilität von 2014. Bereits damals wurde in Medien gemunkelt, dass Messi und Mascherano die Taktik vorgeben.
Zunächst einmal sind Messi und Mascherano Spieler, denen man mit Fug und Recht zuhören darf und zum Zweiten gibt es bei Argentinien Taktikkritik und Trainerprobleme seit ich denken kann. Sampaoli kann es beinahe nur falsch machen. Spielt er zu offensiv und scheitert wird er dafür kritisiert. Hört er auf Spieler und spielt wieder defensiv verrät er seine Art von Fußball und verliert seine Autorität. Außer Diego Simeone gibt es wohl niemanden, der die Autorität hätte die Zügel des Teams in der Hand zu halten. Schade um Sampaolis Ruf.
tobit 29. Juni 2018 um 18:35
Vor allem sind das ja alles nicht nur Spieler für den Glanz und Glamour. Die können (fast) alle auch laufen und beißen. In der zweiten Reihe wartet dann auch noch einiges an spielerischer Klasse. Meza, Lanzini (der ja als Stammspieler geplant war), Mammana, Ascacibar, Pavon, Bustos, Rulli (ohne Worte, dass der nicht dabei ist), Perotti (der wäre ein ziemlich passender Ersatz für Lanzini und Messi-Backup gewesen – nicht umsonst hat er bei der Roma zeitweise den Totti-Nachfolger gespielt), … und von den ganzen Mittelstürmer habe ich da noch nichts gesagt.
Die defensive Stabilität war bei Argentinien für mich nichtmal das größte Problem. Das lag ähnlich wie bei der deutschen N11 eher in Fehlern in Ballbesitz. Sampaioli (mittlerweile selbsternannter Guardiola-Anhänger) will ja sehr gerne den Ball – warum man dann freiwillig auf Mascherano und Perez (statt Banega, Lo Celso, Paredes, …) im Mittelfeld setzt, kann ich mir nicht erklären.
Eine Bielsaeske Spielweise ist mit Messi sowieso nicht zu machen (mit Mascherano auch nicht mehr, der ist zu langsam und fehleranfällig geworden). Mal davon ab, dass die insgesamt von perfekter Eingespieltheit und athletischer Überlegenheit lebt und selbst dann noch unfassbar instabil ist.
August Bebel 28. Juni 2018 um 00:04
Für die argentinischen Glanzlichter hat in der ersten Halbzeit nicht zuletzt Banega mit zwei starken Pässen (auf Di Maria und Messi) gesorgt, gut, dass er gespielt hat.
Rojo schien mir in der Schlussphase (vor dem Ausgleich) die Innenverteidigerposition schon aufgegeben zu haben: er ging für Tagliafico links raus, wurde sehr offensiv und überließ die Breite auf links Meza, während Mascherano ganz hinten absicherte. Da passt es eigentlich sogar, dass er im Sechzehner auftauchte. Der Abschluss mit dem schwächeren rechten Fuß war dann bemerkenswert gut.
tobit 28. Juni 2018 um 11:20
War wirklich höchste Zeit für Banega.
Schade, dass man Lo Celso nicht irgendwann für Mascherano (der an vielen Stellen großes Glück hatte, nicht vom Platz zu fliegen) gebracht hat. Der stand ja völlig neben sich (allein in den ersten 10 Minuten drei oder vier kapitale Fehlpässe im Aufbau) und wurde dann zu Recht etwas weiter nach vorn und halbrechts geschickt. Da konnte er hinter Messi und Perez aufräumen, auch wenn das teilweise redundant mit Mercado war. Dafür spielte Banega zentraler vor der Abwehr und Tagliafico von links noch öfter tief und/oder einrückend – was zu Lasten der Einbindung di Marias ging, da er jetzt sehr isoliert und kaum an die Struktur angeschlossen war.