Türchen 17: Ferenc Puskás
Der Schriftsteller Stephen Chbosky schreibt in The Perks of Being a Wallflower: „Dinge ändern sich. Freunde gehen. Das Leben wartet auf niemanden.“
Der große Fußballzirkus der fünfziger Jahre wartet hingegen auf seine Ankunft. Sie nennen ihn Puskás. Sechs Buchstaben – eine Legende.
Mit seinem Schuss kann er einen Büffel töten. Mit seinem Herz ganze Mannschaften niederringen. Mit seinem Spielwitz gegnerische Trainer in den Wahnsinn treiben. Doch auch für ihn – den Größten der Großen – ändern sich die Dinge. Freunde gehen. Das Leben zieht fast an ihm vorüber.
***
„Soll ich dir das vorlesen, Cucu?“
Es sind die zwanziger Jahre, in die Franz Purczeld hinein geboren wird. Ungarn, abgelöst von der Wiener Tyrannei, genießt eine Zeit voller Unruhe und Aufbruch.
Am 1. April 1927 kommt er, der später begnadete Fußballer, in Jósefváros, einem Distrikt von Budapest, zur Welt. Gerne verschweigt er sein Geburtsdatum. Das Alphatier möchte am Ehrentag nicht von Aprilscherzen überrascht werden. Jeglicher Hinweis auf das Datum – bis auf den Eintrag im Personalausweis natürlich – verschwindet.
Sein Vater, Franz Purczeld Sr., der aus einer tüchtigen schwäbischen Familie stammt und zur großen Gemeinschaft der Donauschwaben gehört, betätigt sich als Fußballer. Für längere Zeit spielt er für den Erstligaklub Kispest FC. Kispest ist damals eine kleinere Stadt außerhalb von Budapest, heute gehört sie als 19. Distrikt der ungarischen Metropole an. In jenem Klub unternimmt auch Purczeld Jr. zwischen Mietskasernen und Trampelpfaden seine ersten fußballerischen Schritte.
Im Haus, wo die Familie Purczeld eine Wohnung bezieht, lebt auch der eineinhalb Jahre ältere József. Er trägt den Spitznamen „Cucu“. Am Klingelschild steht „Bozsik“. Beide, Franz und József, treffen sich in jungen Jahren häufig auf dem sandigen Bolzplatz. Einer klopft an die Wand, die beide Wohnungen trennt. Ein Signal – es geht runter zum kleinen Feld, das die Welt bedeutet.
Cucu, der nie richtig Lesen und Schreiben lernt, ist wie ein großer Bruder. Beide haben kein Geld, aber das Talent in den Beinen. Hin und wieder schleichen sich die Jungspunde, wenn sie keine Eintrittskarte haben, durch Zaunlöcher der Budapester Stadien, um die Großen der Zunft zu beobachten.
Später werden sie es sein, die Massen an ungarischen Fußballfans, aber auch Liebhaber des Spiels auf der ganzen Welt begeistern.
***
„Mein Name ist Miklós.“
Wir schreiben das Jahr 1937. In Deutschland wütet der Nationalsozialismus. Europa, es ist ein unsicherer Kontinent. Die dreißiger Jahre, sie sind eine unsichere Zeit.
Vor einer Trainerprüfung wird Vater Purczeld Sr. nahe gelegt, er solle doch seinen Namen und den seines Sohnes magyarisieren. Aus Franz Purczeld wird Ferenc Puskás. Aus dem sanften Namen eines Schwaben wird ein Donnerschlag, der bald schon kalten Schweiß auf die Stirn eines jeden Verteidigers zaubert.
Doch bis es soweit ist, spaltet sich die Persönlichkeit von Ferenc Puskás. Viele im Ort wissen mittlerweile, wie der junge Balltreter heißt. Beim Klub seines Vaters kommt zunächst das Pseudonym Miklós Kovács zum Einsatz. Der Frühreife möchte die Altersbeschränkung umgehen.
Ab seinem zwölften Lebensjahr steht Puskás dann offiziell in Diensten vom Kispest FC. Sein Profidebüt gibt er im November 1943 gegen Nagyváradi AC. Eine unbeschwerte Zeit? Auf keinen Fall.
Ungarn befindet sich im Krieg. Miklós Horthy, der Tölpel der Stunde, glaubt, man könne es mit der Sowjetunion aufnehmen. Viele junge Ungarn gehen an die Front. Nur wenige kehren zu ihren Müttern und Ehefrauen zurück. Ungarn wechselt verzweifelt die Seiten. Ein Fanal in den Augen Hitlers. Ab März 1944 ist das Land besetzt. Die jüdischen Nachbarn verschwinden. Die Viertel in Budapester erleben Dramatisches.
Wo bleibt der junge Ferenc? Er verdankt es seiner wachsenden Popularität, dass er in der härtesten Kriegsphase nicht zum Militär einberufen wird. Andere Fußballer haben weniger Glück. Puskás wird sie nie wieder ausdribbeln.
***
„Miska, du bleibst hier!“
Die Wohnung der Familie Puskás befindet sich nur einen Steinwurf vom Stadion entfernt. Lediglich ein Zaun verhindert den direkten Weg. Zum Training muss er jeden Tag einen 200 Meter langen Umweg nehmen. Das ist eines Stars nicht würdig. Deshalb baut der Fanklub Puskás‘ eine provisorische Brücke. Ihr Held kann direkt ins Stadiongelände laufen. Der Teenager ist begehrt in Kispest.
Ein Kind bleibt er trotzdem. Selbst an Spieltagen kickt er noch mit Nachbarn auf dem Bolzplatz. Puskás Sr., mittlerweile Trainer der ersten Mannschaft, muss ihn mit böser Stimme in die Kabine rufen, wenn eine Stunde später eine Erstligapartie ansteht.
Es ist die goldene Generation um Puskás, Bozsik und Nándor Bányai, die jenen kleinen Vorortklub in ein Spitzenteam verwandelt. Ende der 1940er Jahre landen sie dreimal unter den ersten Vier der Liga. Weltenbummler Béla Guttmann übernimmt das Traineramt. Vater Puskás rückt ins zweite Glied.
Es ist schließlich der Sohn von Guttmanns Vorgänger, der den amtierenden Übungsleiter zum Rücktritt zwingt. Vor den Augen des Publikums wird deutlich, wer der Boss in Kipest ist. In einem Ligaspiel in Győr fällt Verteidiger Mihály „Miska“ Patyi durch eine überharte Spielweise auf. Guttmann will ihn vom Feld nehmen, um eine Sperre zu vermeiden. Puskás ruft Patyi zu, er solle auf dem Feld bleiben. Dieser folgt der Aufforderung. Guttmann, die spätere Benfica-Legende, hat nicht die Autorität dieses 21-jährigen Aufmüpfigen.
***
„Die Verteidiger des Vaterlands.“
Es sind auch diese kleinen Machtkämpfchen auf und neben dem Platz, die für Gesprächsstoff sorgen. Im großen Maßstab bleibt es eine Lappalie. Ungarn gehört mittlerweile dem Ostblock an. Eine Verfassung nach sowjetischem Vorbild tritt in Kraft. Aber was hat schon die große Politik mit den Balltretern an der Stadtgrenze von Budapest zu tun? So einiges.
1949 übernimmt das ungarische Verteidigungsministerium den Klub. Kommunismus heißt die neue Ideologie. Sport ist ein passendes Werkzeug. Aus Kispesti AC wird Budapesti Honvéd. Ein Armee-Klub, der die besten ungarischen Spieler zusammenbringen soll, damit sie für Länderspieleinsätze eingeübt sind. Es liegt vor allem an Puskás und Bozsik, dass die Wahl nicht auf das größere Ferencváros, das bereits viele Nationalspieler unter Vertrag hat, fällt.
Sie erhalten allesamt militärische Dienstgrade. Puskás wird zum Major ernannt. Kicker wie Gyula Grosics, Gyula Lóránt, Sándor Kocsis und später Zoltán Czibor stoßen zum Team hinzu. Dominanz und Vormacht werden zur Maxime in der heimischen Liga. Manche glauben sogar, Honvéd wäre die stärkste Mannschaft der Welt.
1956 können sie sich auf der großen Bühne mit den Besten des Kontinents messen. Der European Cup, ein Jahr zuvor aus der Taufe gehoben, beschert Honvéd direkt eine Auswärtsfahrt nach Bilbao. Würden sie dem Druck standhalten und eine Siegesserie starten? Wie läuft das Defensivspiel gegen die temperamentvollen Basken? Ist es ein Vorteil, zunächst auswärts anzutreten?
***
„Puskás starb bereits vor langer Zeit.“
Wen schert noch das Ergebnis auf der Anzeigetafel, wenn niemand mehr darüber spricht. In Budapest ist Revolution! Die Ungarn erheben sich gegen die sowjetische Hegemonie, kämpfen für Mitbestimmung. Das lässt sich Moskau nicht bieten. Anfang November 1956 schlägt die Rote Armee den Aufstand und die Menschen nieder.
Die Mannschaft von Honvéd verlässt das Land. Vorbereitung auf den Schlagabtausch mit Bilbao steht auf dem Programm. Viele von ihnen kehren nicht mehr nach Budapest zurück. Das Brüsseler Heizelstadion ist der Ort des Rückspiels. Honvéd scheidet aus. Aber das ist nur eine Nebensächlichkeit.
Sie sind nun Deserteure. Auf der Flucht. Ohne Geld. Aber mit einem Namen. Den wollen sie zu Geld machen. Der Puskas Zirkus tourt durch Europa und Südamerika. Sie leben von der Hand in den Mund. Die Kicker erhalten Antrittsgagen wie ein Reisetheater. Der Weltverband interveniert. Drohungen gegen Ausrichter von Freundschaftsspielen zeigen Wirkung.
Unterdessen sind sie zusammengetrimmt. Fernab ihrer Familien verbringen sie monatelang jede Stunde miteinander. Das hält selbst die beste Freundschaft nur schwerlich aus. Die Stimmung wird intensiv. Czibor, der Revolutionär – Czibor, der Anti-Kommunist, beschuldigt Bozsik, den Kommunisten, der Spionage. Bozsik verlässt das Flüchtlingslager. Die beiden Jugendfreunde verlieren sich aus den Augen. Ihre Geschichte vom Kispester Bolzplatz bis zum Berner Wankdorfstadion findet ein abruptes Ende. Puskás wie auch Kocsis oder Czibor bleiben im Exil. Spanien wird ihre neue Heimat.
Olympia 1952, das Jahrhundertduell mit England in den Jahren darauf – es sind Wegmarken einer großen Karriere. Puskás wird zum Nationalhelden. Daran ändert auch die schmerzliche Finalniederlage gegen die verhassten Deutschen wenig.
Er kehrt seinem Land den Rücken. „Ist er denn von allen guten Geistern verlassen?“, fragen sich manche. Das Regime kennt keine Gnade. Erst recht nicht für einen Major. In Abwesenheit wird er vom Militärgericht nach Büntető Törvény 313 (2c) verurteilt. Kalte, bürokratische Zahlen. Sie bedeuten: 15 Jahre Zuchthaus oder die Todesstrafe. Von einem Attentat im Ausland sieht die Regierung ab. Puskás solle nicht zum Märtyrer werden.
Erst 1981, als viele Ungarn denken, ihr einstiger Kapitän wäre bereits tot, kann er wieder unbescholten den Boden seiner Heimat betreten. Er bleibt ein Leben lang stolzer Ungar.
***
„Lori, was soll das?“
„Ich hatte niemals das Verlangen geäußert, aber irgendwann 1949 wurde ich zum Kapitän ernannt. Ich fühle, als wäre ich es noch heute“, sagt Puskás im Jahr seiner Rückkehr.
Nándor Hidegkuti ist fünf Jahre älter. Sie nennen ihn nur „Alten“. Andere Spieler haben größere Erfahrung, Schlachten geschlagen. Aber es ist Puskás, der zum Führungsspieler der Nationalmannschaft wird.
Es ist Puskás, der Anfang der 1950er Jahre bereits wie ein Spielertrainer über die Plätze marschiert. Er erkennt die defensiven Schwächen auf beiden Seiten. Er veranlasst selbst taktische Änderungen.
1953 spielen die Ungarn in Rom. Die Squadra Azzurra startet furios. Der bullige Roma-Stürmer Carlo Galli köpft in den ersten Minuten mehrfach gefährlich in Richtung Gehäuse. Da bricht es aus Puskás heraus. Er schreit Abwehrchef Lóránt an: „Lori, wie lange kann der Junge das noch tun.“ Der vier Jahre ältere Lorant hat verstanden. Beim nächsten Kopfball von Galli gibt es einen kräftigen Tritt in die Magengrube. Für den Italiener ist die Partie beendet.
Puskás lebt nicht nur für Honvéd, sondern auch für das Goldene Team. Bei Ligapartien befiehlt er seinen Mitspielern, die Nationalkicker vom Gegner nicht zu hart zu attackieren. Alle teilen einen Traum. Sie wollen den Coupe Jules Rimet.
***
„Der Boss kann spielen!“
Es fühlt sich wie ein schwerer Leberhaken an, den Sepp Herberger an seine Spieler verteilt. Am Tag des Weltmeisterschaftsfinals 1954 wird für alle Beteiligten klar. Puskás ist fit. Wird er die Abwehr der Deutschen tyrannisieren? Wird er sich für Liebrichs Verhalten im Gruppenspiel rächen?
Herberger, der ehemalige Reichstrainer mit einer Schublade voller Lebensweisheiten, sorgt sich nicht um Puskás. Er sorgt sich um Hidegkuti. Er sei der Schlüsselspieler im taktischen System der Ungarn. Viele sehen in Puskás den Spielmacher, der die Angriffe bestimmt und an den Spielzügen frühzeitig beteiligt ist. Bei Honvéd ist das meist der Fall. Aber Puskás‘ Spielstil ist komplex und differenziert. Er erspürt den Rhythmus einer Partie. Er erkennt die Dramaturgie des Geschehens. Er ist anpassbar.
Der alte Mann Hidegkuti spielt im Offensivzentrum. Und der deutsch-stämmige Offensivspieler zeigt der Welt seine Interpretation einer falschen Neun. Ist Ungarn in Ballbesitz, fällt er hinter Puskás und Kocsis zurück. Seine beiden Nebenmänner arbeiten dafür stärker in der Defensive. Dann darf sich der Alte ausruhen.
Puskás hingegen betreibt in der Blüte seiner Karriere einen hohen Laufaufwand. Manchmal lässt er den Ball nur prallen. Manchmal geht er ins Dribbling. Manchmal kombiniert er sich mit Hidegkuti über große Distanzen durchs Mittelfeld. Der Gegner weiß nie, was sie vom Major des Goldenen Teams zu erwarten haben.
***
„Ich werde ihn demütigen.“
Das Goldene Team weiß derweil nie, was sie von ihrer Regierung zu erwarten haben. Bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki ist der Druck hoch. Das Regime erwartet nichts weniger als den Finalsieg. Als dann auch noch Jugoslawien, der große Feind des Ostblocks, zuvor das Team der Sowjetunion besiegt, wächst der politische Druck umso mehr. Am Ende gewinnen die Ungarn 2:0.
Die Vorbereitung auf das Turnier zieht Nationaltrainer Gusztáv Sebes generalstabsmäßig auf. Unter der Woche testen sie gegen kleinere Klubs aus Budapest. Die Verbandsauswahl wird zu einer zweiten Klubmannschaft für Puskás.
Die Goldmedaille von 1952 bringt Zufriedenheit. Der Sieg gegen England beschert ihnen Weltruhm. Das sagenumwobene Duell mit dem vermeintlichen Favoriten von der Insel wird in Hin- und Rückspiel mit insgesamt 13:4 gewonnen. Der Triumph der Spielkultur von der Donau über die Einfältigkeit des englischen Profitums.
Im ersten Aufeinandertreffen – vor 100.000 tosenden Zuschauern im Londoner Wembley Stadium – brillieren Puskás und Kocsis im Angriffsdrittel. Der kopfballstarke Kocsis ist das Ziel für hohe Flanken. Puskás kreuzt ständig seinen Weg. Von halblinks zieht er nach halbrechts, um Querpässe zu empfangen. Den Ball möchte er sich trotzdem stets auf seinen linken Fuß legen. Das ist sein Vorschlaghammer, mit dem er Tornetze bis zur Belastungsgrenze bringt. Puskás ist schnell auf den Beinen, schüttelt locker seine Manndecker ab. Und er kann ansatzlos die linke Klebe abfeuern.
Ungarn glaubt, es sei unbesiegbar. Aber Ungarn hat an diesem Tag, dem 25. November 1953, in London den Höhepunkt erreicht. Bei der Weltmeisterschaft im nächsten Jahr können sie spielerisch überzeugen. Der Titel bleibt ihnen verwehrt.
Für Puskás selbst wird es ein schmerzhaftes Erlebnis. In der Gruppenphase treffen die Ungarn auf die westdeutsche Mannschaft. Verteidiger Werner Liebrich wird Puskás zugeteilt.
Der Heißsporn aus der Pfalz kennt nur ein Mittel gegen den Dribbelkünstler aus Budapest: rohes, gewaltbereites Verteidigen. Es scheint, als wäre Liebrichs Agenda simpel. Die Stutzen von Puskás sollen blutgetränkt sein. Der Kapitän der Ungarn traut seinen Augen nicht. Ausgerechnet ein Deutscher – dessen Vater allerdings Dissident im Dritten Reich war – versucht es wieder mit wilden Angriffen.
Puskás ist frustriert. Er wütet. Zur Halbzeit sagt er Josef Posipal, auch aus einer donauschwäbischen Familie stammend und des Ungarischen mächtig, er werde Liebrich demütigen. Doch der deutsche Verteidiger behält die Oberhand. Bei einem Dribbling Puskás‘ fällt er auf dessen Knöchel. Der Traum scheint geplatzt. Die Ungarn ziehen nichtsdestotrotz ins Finale ein.
Der Kapitän kehrt gezeichnet für den zweiten Schlagabtausch mit den Deutschen zurück. Sebes lässt ihn zusammen mit Außenstürmer József Tóth auf der linken Seite spielen. Puskás erzielt in der sechsten Minute die Führung im Endspiel. Danach taucht er ab, kann sich erst nach der Halbzeitpause steigern. Die Deutschen drehen derweil die Partie. Bozsik, ausgerechnet sein Jugendfreund Bozsik, verliert den Ball vorm entscheidenden 3:2.
Zwischen den Weltkriegsruinen jubelt das deutsche Volk in Ekstase, während Puskás das 3:3 erzielt. Das Schiedsrichtergespann entscheidet auf Abseits. Ein Skandal! Und überhaupt, die Deutschen waren gedopt, behauptet der ungarische Kapitän.
Es ist ein schwerer Schlag für Ungarn. Erst in vier Jahren könnten sie Revanche üben. Diese Chance werfen Puskás und seine Fluchtgefährten weg, behaupten die Kritiker. Die Goldene Generation wird 1956 ausgelöscht. Der Schuldige steht fest.
***
„Er ist gar kein richtiger Fußballer.“
Der Weltverband reagiert auf die Handlungen. Eine Spielsperre nimmt Puskás knapp zwei Jahre aus dem Rennen. Interessierte Klubs wie Milan und Juventus, die schon 1947 mit den Lira-Scheinen um seine Dienste werben, nehmen Abstand von einer Verpflichtung. Manchester United, schwergetroffen von der Münchener Flugzeugkatastrophe, sieht seinen Fitnesszustand kritisch.
Emil Österreicher, Honvéds ehemaliger Manager, greift Puskás unter die Arme. Auch Don Emilio hat Ungarn verlassen, heuert umgehend beim Wiener SK an. Sein Adressbuch ist dick. Er kann viele Sprachen. Und er hat die Großen des Geschäfts bereits kennengelernt. Darunter Santiago Bernabéu.
Österreicher unterbreitet dem Präsidenten von Real Madrid seine Idee. Bernabéu soll Puskás unter Vertrag nehmen. Der Señor ist nicht begeistert, hat er doch Puskás kurz vor dessen Flucht bei einem Länderspiel in Frankreich gesehen.
Puskás ist übergewichtig, langsam und in Bernabéus Augen auch komplett undiszipliniert. Er gestikuliert ständig, diskutiert mit dem Schiedsrichter. Ein solches Verhalten schickt sich nicht im weißen, reinlichen Trikot von La Madrid.
Österreicher bohrt weiter, kann Bernabéu schließlich überzeugen – obwohl der Vorstand gegen eine Verpflichtung stimmt. Bernabéu bezahlt direkt den ersten Lohn. Puskás hat er da noch nicht einmal gesehen. Umso schockierter ist er bei dessen Ankunft. „Ich sehe wie ein aufgeblasener Ballon aus“, gibt Puskás selbst zu.
Gegenüber Bernabéu sagt er: „Wissen Sie, das ist alles großartig für mich. Aber haben Sie mich mal angesehen? Ich habe mindestens 18 Kilo Übergewicht.“
„Das ist nicht mein Problem. Das ist Ihres“, antwortet der Presidente. „Bringen Sie ihn auf Vordermann“, weist er Trainer Luis Antonio Carniglia an.
Dieser zeigt sich skeptisch. Der Neuankömmling hat über ein Jahr kein ernsthaftes Spiel mehr bestritten. „Der ist gar kein richtiger Fußballer“, stöhnt Carniglia. „Du hast noch nie einen Fußballer wie Puskás gesehen“, entgegnet Österreicher.
Puskás muss warten, bis, 31-jährig, seine zweite Karriere beginnt. Vor seinem Ligadebüt gegen Oviedo nimmt er einige Kilo ab. Während Di Stéfano und die Anderen auf dem Trainingsplatz zaubern, läuft Puskás Runde um Runde – mit Plastikanzug und Pullover in der spanischen Augustsonne.
Eine gedrungene Statur und ein leichter Bauchansatz werden zum neuen Markenzeichen. Die Magie in den Füßen ist immer noch da. Kleine Kanone, großer Bauch, wie es Di Stéfano nennt.
***
„Alfredo ist immer schlecht gelaunt.“
Als Puskás erstmals den Rasen in Chamartín betritt, ist Real Madrid bereits eine Übermacht in Europa. Triumphe pflastern den Weg des Weißen Balletts. Di Stéfano, Gento, Rial, Kopa und die anderen Tänzer hatten wenige Monate zuvor Milan in die Schranken gewiesen.
Raymond Kopa ist fasziniert von Puskás. Er hatte das Jahrhundertspiel gegen England gesehen. Für ihn kommt eine gottgleiche Gestalt nach Madrid. Anführer Di Stéfano teilt diese Meinung anfangs nicht. Wer braucht einen übersättigten Ungarn?
Real Madrid braucht ihn. Mit Puskás wird aus einer erfolgreichen eine galaktische Mannschaft.
Die Blancos spielen – wie viele andere Teams – in einer 3-2-5-Formation. Nie stehen jedoch fünf Stürmer auf einer Linie. Die Kreativen fallen ins Mittelfeld. Die Durchschlagskräftigen bleiben vorn. Puskás kann beides.
Er kreiert Angriffe. Er vollendet Angriffe. Er verteilt Bälle. Er wuchtet Bälle.
Das Zusammenspiel mit Di Stéfano wird zur Attraktion. Beide fühlen sich wohl hinter der Sturmspitze. Der Argentinier bleibt meist noch etwas tiefer. Halblinks kommt Puskás. Beide bedienen sich gegenseitig. Es ist spielerische Kameradschaft.
Sie schätzen sich nicht nur auf dem Feld. Auf vielen Mannschaftsbildern legt Puskás den Arm um seinen Freund. Er mag die Zuneigung Di Stéfanos. Der jedoch bleibt stets zurückhaltend. „Er ist, wie sie sagen, in konstant schlechter Stimmung“, erinnert sich Puskás.
Nach den Spielen sitzt Di Stéfano nackt in der Kabine. Rauchend. Fluchend. Er habe das Recht, alle niederzumachen. Die Kollegen nehmen seine Tiraden wie Weisheiten auf.
Bei Kartenspielen räumen stets der erfahrene Zocker Puskás sowie Kopa und Di Stéfano ab. Der Blonde setzt nur kleine Pennys. Und trotzdem: „Er gerät in Rage, wenn er verliert“, wundert sich Puskás.
Mitspieler sprechen mit Dankbarkeit und Ehrfurcht über Di Stéfano. Puskás hingegen ist der große Bruder. Ein Kind in der Gestalt eines Bullen. „Puskás hat das größte Herz von allen“, sagt Zoco. „Puskás? Ich stehe jedes Mal in strammer Haltung, wenn er erwähnt wird“, scherzt Stürmer Amancio.
***
„Puskás steht nicht zum Verkauf.“
Obwohl er großen Einsatz zeigt, sind die Vereinsoberen weiterhin skeptisch. Er wird sogar zwischenzeitlich zu Atlético ausgeliehen. Das Ziel ist klar. Puskás soll sich beweisen und im Schaufenster präsentieren. Real Madrid möchte die $100.000 zurückbekommen, die sie für ihn investiert haben.
Puskás trotzt nicht. Er spielt groß auf im Feindesland am Manzanares. Bernabéu ändert seine Meinung. „Puskás steht nicht zum Verkauf“, lautet seine Devise.
In der Rückrunde 1959 wird der Neue zum Torgaranten für Real Madrid. Er trifft im Halbfinale gegen Atlético zweifach. Im Endspiel sitzt er auf der Tribüne. Trainer Carniglia spricht von einer Verletzung. Puskás runzelt die Stirn. Er fühlt sich überhaupt nicht verletzt.
Im Stuttgarter Neckarstadion, dem Finalort, wundert sich Bernabéu, warum sein neuer Star auf der Tribüne sitzt. „Fragen Sie den Trainer“, entgegnet Puskás. Die Madrilenen gewinnen 2:0 gegen Stade de Reims. Mateos und Rial spielen an der Seite von Di Stéfano.
Zur neuen Saison ist der erfolgreiche Carniglia nicht mehr Trainer der Blancos.
***
„Real Madrid wandert wie einst die Wikinger durch Europa.“
Nach schweren Jahren, geprägt durch Enttäuschungen und Unsicherheit, wandelt sich Puskás. Aus dem einstigen Lebemann wird ein Vollblutprofi. Keine Alkoholexzesse. Wenige Partys. Er tauscht Glamour gegen Karriere.
Bei Feierlichkeiten würde niemand Puskás bemerken. Er sitzt ruhig am Tisch, trinkt Mineralwasser und betont: „Ich bin ein Profi und muss auf meinen Körper achten.“
„Wäre er zuhause geblieben, er hätte den Fußball aufgegeben“, meint Károly Sándor, ein früherer Nationalmannschaftskollege. „Er war übergewichtig und spielte schwach im Vergleich zu dem, was er kann. Ich war Augenzeuge unseres Siegs in Paris zwei Wochen vorm Aufstand.“ Auf dem Weg nach Hause redet sich Cheftrainer Márton Bukovi in Rage. „Schämst du dich nicht?“, schreit er Puskás an. Der Kapitän bricht in Tränen aus.
Real Madrid rettet ihn. Er kommt in Form. Und spielt 1959/1960 die Saison seines Lebens. Gekrönt wird sie von einem historischen Finale gegen Eintracht Frankfurt im Glasgower Hampden Park. Rund 130.000 Zuschauer bilden die Kulisse des Endspiels um den European Cup.
Dieses steht aber auf der Kippe. Es geht um Puskás. Seine Anschuldigungen von 1954 hat in Westdeutschland niemand vergessen. Er muss sich schriftlich beim Deutschen Fußballbund entschuldigen.
Die 90 Minuten werden zur Machtdemonstration. Puskás trifft vierfach. Die Frankfurter schlagen sich besser, als es bei vielen im Gedächtnis bleibt. Aber gegen das Kombinationsspiel von Di Stéfano, Puskás und Del Sol; gegen die Tempoläufe von Francisco Gento; gegen die Dribblings von Canário; gegen die Vorstöße von Marquitos und José María Vidal; gegen die Routine von José Santamaría gibt es kein Mittel.
Puskás treibt den Ball durchs Mittelfeld. Er benutzt nur wenige Kontakte, leitet das Spielgerät schnell weiter. Die Defensive um Hans Weilbächer und Dieter Stinka kann nicht zugreifen. Bis sie attackieren, ist der Ball schon längst wieder weg.
„Wir erreichten eine Art fußballerischer Perfektion“, rekapituliert Puskás die Geschehnisse. „Am Ende rannten schottische Fans begeistert aufs Spielfeld. Wir wurden mit einer Parade durch das Stadtzentrum geführt. Man konnte meinen, es wäre ihr eigenes Team gewesen.“
***
„Warum verteidigen wir ständig?“
Zwischen 1959 und 1964 ist Puskás dreimal der erfolgreichste Torschütze des European Cup. Er gewinnt zudem die Trofeo Pichichi in La Liga vierfach. Gerade in den späten Jahren wirkt er immer mehr wie eine klassische Sturmspitze. Sogar Weiterleitungen per Kopf gehören zum ständigen Repertoire.
Doch Puskás ist ebenso Spielmacher. In Abwesenheit von Di Stéfano avanciert er zur Schlüsselfigur. Er spielt tiefer in der Formation, verteilt die Bälle an die tempostarken Vordermänner. Geht ihm die Puste aus, wirft er seinen Mitspielern aus dem Stand die Außenristpässe wie dem Hund das Stöckchen hin.
Es bleibt sein linker Schuss, der oftmals den Unterschied macht. Puskás weiß, wie er sich am Strafraum in Position bringt. Kurze, explosive Haken nach links; kleine Verzögerung gegen die Manndecker – sie verschaffen ihm die passende Ausgangslage. Anschließend hat der Torhüter schon verloren.
Okkasionell glaubt Puskás, er müsse das Spiel allein entscheiden. Dann wirken seine Steilpässe und Schüsse zu erzwungen. Gefährlich bleibt er allemal.
Verteidigen ist hingegen nie seine Stärke. Kettenspiel, Schließen von Lücken oder Positionierung gegen Dribblings bleiben für Puskás italienische Dörfer. Das merkt er im Trikot der Selección.
Ab 1961 steht der gebürtige Ungar in Diensten der spanischen Nationalmannschaft. Trainiert wird diese von Helenio Herrera. Der Pionier des Catenaccio sorgt für einen Kulturschock. Die Madrilenen sind Angreifen gewöhnt. „Konstantes Anrennen gegen jedes Team. Und natürlich bei der ungarischen Nationalmannschaft hatten wir eine ähnliche Taktik. Wenn wir hinten Tore kassierten, schossen wir einfach vorn noch mehr. Ganz sicher“, beschreibt es Puskás. „Aber Herrera verordnete Defensive. Wir wussten nicht, wie das geht.“
Die Reise nach Chile, zur Weltmeisterschaft 1962, entpuppt sich als Enttäuschung. Niederlagen gegen Brasilien und die Tschechoslowakei bedeuten das frühe Aus. Daran können Puskás und Gento, die beiden stolzen Madrilenen, nichts ändern. Di Stéfano stoppt eine Muskelverletzung.
Die Karriere der beiden Superstars neigt sich dem Ende zu. Don Stefano verlässt Madrid 1964. Zwei Jahre später hängt auch Puskás seine Schuhe an den Nagel. Im European Cup 1965/66 trifft er anfangs noch. Aber beim Triumph der jungen Wilden gegen Partizan ist er kein Teil der Stammelf mehr. Der Zahn der Zeit stoppt auch nicht vor einer überlebensgroßen Legende.
„Als Spieler und als Mann war er eine volle Zehn. Er war ein fantastischer Spieler und ein wundervoller Mann.“ (Di Stefáno)
27 Kommentare Alle anzeigen
mrb 17. Januar 2016 um 18:50
Wie wird sein Name denn korrekt ausgesprochen?
Ich habe wenige Brocken Magyarisch gelernt und würde es probieren mit: „Ferenz Puschkásch“.
Weiß das eine Leserin oder ein Leser?
Schorsch 18. Januar 2016 um 11:47
Ich beherrsche keine Lautschrift, aber im Prinzip liegst Du völlig richtig. Das „c“ wird im Ungarischen wie ‚z‘ ausgesprochen. Das ungarische „s“ entspricht dem deutschen ’sch‘. Der ‚accent agui‘ auf dem ‚a‘ („á“) bedeutet, dass der Buchstabe etwas länger und eher (wenn auch nicht ganz) wie ein deutsches ‚a‘ ausgesprochen wird. Im Ungarischen wird das normale ‚a‘ in einer Art Mischung zwischen ‚a‘ und ‚o‘ ausgesprochen.
Das ungarische ’sz‘ findet seine Entsprechung im deutschen ‚ß‘ bzw. ’ss‘.
Insofern liegst Du wie gesagt mit Deiner Einschätzung sehr gut.
mrb 18. Januar 2016 um 16:16
Danke Schorsch.
Hatte mich gewundert, wo der „Donnerschlag“ im Namen ist, von dem CE schreibt, wenn das a lang gesprochen wird. Aber wenn der Akzent aus einem a/o ein deutliches a macht, passt das ja.
avb 22. Dezember 2015 um 10:15
Großartiger Artikel, Kompliment!
Eine Ungenauigkeit ist mir aber ins Auge gesprungen: die Spieler der UdSSR-Auswahl, die das Finale 1952 gegen Jugoslawien verloren hatten, sind in kein Arbeitslager gekommen. Es wurde „nur“ der Klub aufgelöst, wo die meisten von ihnen gespielt haben (der Vorläufer-Klub von ZSKA Moskau), und 5 von ihnen für ein Jahr gesperrt. Ist sicher auch befremdlich, aber doch eine andere Dimension als Arbeitslager.
Einer der Gesperrten war übrigens der spätere langjährige Trainer von Dynamo und Spartak Moskau Konstantin Beskow.
CE 22. Dezember 2015 um 10:48
Vielen Dank. Hast du da eine Quelle bzw. Sekundärliteratur, wo ich das nachlesen könnte. Ich habe jetzt auch nur diese Passage hier: „Bevor das außergewöhnliche jugoslawische Team im Finale auf Ungarn traf, spielten sie zunächst gegen die Sowjetunion. Nach einem dramatischen ersten Spiel, das mit einem Remis endete, verloren die Sowjets das Rückspiel. Und Stalin war derart außer sich, dass er das komplette Olympia-Team in den Gulag verbannte.“ (übersetzt aus Szöllősi György, Puskás 1927-2006, S. 60/61.)
CE 22. Dezember 2015 um 11:02
Ich habe allerdings jetzt deine Version im russischen Wikipedia-Artikel zum Duell 1952 sowie in einem Beitrag von Sovsport gefunden. Vielen Dank für den Hinweis. Deshalb recherchiere ich so gerne. Man stößt immer wieder auf neue Anhaltspunkte oder Fakten.
avb 22. Dezember 2015 um 13:14
Ich kam hauptsächlich deshalb ins Stolpern, weil ich nie über eine Inhaftierung von Wsewolod Bobrow gehört hatte, der bei dem Turnier 5 Tore geschossen hatte. Also habe ich gegoogelt und bin auf eben diesen Wikipedia-Artikel gestoßen. Dort wird Axel Wartanyan referenziert, ein russischer Sportjournalist, der sich mit Fußballgeschichte und -statistik beschäftigt. Er zitierte die beiden Verordnungen über die Auflösung von ZDSA und die Disqualifikation sowie die Aberkennung von sportlichen Ehrentiteln bei einigen Spielern, in einem Artikel in der Zeitung Sport Express (leider nur auf russisch vorliegend):
http://www.sport-express.ru/newspaper/2009-11-27/8_1/
Eine bessere Quelle habe ich auf die Schnelle nicht finden können.
Bobrow hatte sowohl Fußball als auch Eishockey gespielt und war in beiden Sportarten Kapitän der olympischen Auswahl. Was ihm in meinem privaten Fußballkuriositätenkabinett einen Sonderplatz verschafft 🙂
avb 22. Dezember 2015 um 13:16
Meinte natürlich Achtelfinale 🙂
Halbraumlibero 18. Dezember 2015 um 19:55
Habe erst 6 oder 7 Türchen gelesen, aber dieses gefällt mir am besten! Großartiger Artikel, CE! 🙂
Questlove 18. Dezember 2015 um 11:31
Zunächst vielen Dank für den sehr schön geschriebenen und lehrreichen Artikel.
Eine Randnotiz: Beim Portrait der ungarischen Nationalmannschaft kommt mir der Ball, den Lorant hält so modern vor. Wenn ich mich an die WM 54 erinnere, sahen die Bälle doch damals ganz anders aus, oder irre ich mich da?
CE 18. Dezember 2015 um 12:07
Er sieht vergleichsweise modern aus, kam aber damals (1953) zum Einsatz. In dieser Bildergalerie sieht man den Ball, als er gerade von Puskás abgefeuert wird: http://de.fifa.com/world-match-centre/photos/galleries/gallery/958/727/#958687
Mit dem „Swiss World Champion“ von Kost Sport hat er jedoch wenig gemein. Das stimmt.
luckyluke 18. Dezember 2015 um 10:11
Wahnsinns Artikel und klasse geschrieben! Bisher wirklich der beste in dem diesjährigen Adventskalender.
Und du bist zu Recht stolz auf diesen Artikel, wie man in einem Kommentar weiter unten sehen kann und daran ist absolut nichts verwerfliches! Wirklich ein journalistischer Leckerbissen!
Schorsch 17. Dezember 2015 um 15:14
Grandioser Artikel, ganz großes Fußballkino! Ganz ehrlich gesagt, mir ist beim Lesen richtig warm ums Herz geworden… Danke!
Liegt vielleicht auch daran, dass ich ein paar Jahre in Ungarn gelebt und gearbeitet habe. Die Aranycsapat war allgegenwärtig, obwohl die große Ära 50 Jahre zurücklag. Vor allem die Verehrung für den ‚Major‘ war überwältigend und ist es noch, sie hat die Bannung durch das kommunistische Regime überdauert. In Ungarn ist mir im übrigen erst bewusst geworden, dass Puskás, Hidegkuti und Kocsis deutschstämmig waren und ihre Namen nach Kriegsende zwangsmagyasiert wurden. Leider starb Puskás krank und verarmt. Als sein Tod bekannt wurde, lag eine schwere, melancholisch- traurige Stimmung über der Stadt. Ähnliches habe ich einige Jahre vorher in Kaiserslautern erlebt, als Fritz Walter starb. Zwei Große der WM 54, die so unterschiedliche Wege gegangen sind.
Nicht jeder Spieler der Goldenen Elf konnte sich dabei der Verehrung sicher sein. Grosics beispielsweise wurde z.T. sogar angefeindet, weil viele Ungarn den Schuss zum Siegtreffer Rahns im Finale 54 für haltbar hielten.
Dass Ferenc Puskás in diesem Adventskalender auftaucht, war absolut erwartbar. Wer eine historische Fußballauswahl zusammenstellt und Puskás Öcsi nicht aufstellt, weiß nicht viel von der Magie des Fußballs. Dass er allerdings auf dieser Position auftaucht hat mich persönlich überrascht und hätte ich auch nicht erwartet. Ich habe ihn immer als halblinken Stürmer gesehen und nicht als Mittelstürmer. Im Artikel wird ja auch auf seine Spieleweise hingewiesen und dass er erst gegen Ende seiner Karriere eher als klassischer Mittelstürmer gespielt hat. Ich muss allerdings auch gestehen, dass ich offensichtlich nicht in der Lage war, von der Positionierung im System der Goldenen Elf und auch zu Beginn seiner Zeit bei Real zu abstrahieren hin auf das im Adventskalender vorgegebe System. Die ‚Pfeile‘ haben in die richtige Richtung gedeutet, aber ich habe es nicht gerafft. 🙁 Und dass, obwohl Mathematik neben Sport mein absolutes Lieblingsfach in der Schule war… 😉
Schön übrigens auch der Hinweis, dass die Frankfurter Eintracht ein besserer Gegner im damaligen Finale 1960 war, als das Ergebnis es vermuten lässt. Aber gegen dieses Real hatten ‚Don Alfredo‘ und seine Mitspieler letztlich keine wirkliche Chance.
Danke nochmals für diesen wunderbaren Artikel! 🙂
fluxkompensator 17. Dezember 2015 um 14:45
„abgelöst von der wiener tyrannei“ – würde das politische in zukunft vermeiden. ansonsten gut.
Bernhard 17. Dezember 2015 um 17:25
Wieso?
juwie 17. Dezember 2015 um 19:01
Spätestens nach dem „Ausgleich“ 1867 haben sich die Ungarn in der Habsburger Doppelmonarchie weitgehend selbst regiert (https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreich-Ungarn). Ihrerseits waren die Ungarn gegenüber den ethnischen Minderheiten in ihrem Reichsteil wenig zimperlich (https://de.wikipedia.org/wiki/Magyarisierung).
Bernhard 17. Dezember 2015 um 21:39
Trotzdem waren die Ungarn nicht gerne (haha, fetter Euphemismus) Mitglied der Monarchie. Zudem kam es durch die zunehmende Nationalisierung im 20. Jahrhundert zu einem immer größeren Hass der Ungarn auf alles Österreichische und vice versa. Der Ausgleich war nur ein bürokratisches Instrument, um die Ungarn bei Stange zu halten.
CE 17. Dezember 2015 um 22:05
Besten Dank, Bernhard. Sehr gut erklärt. Da es in erster Linie um eine mentalitätsgeschichtliche Interpretation geht, wonach die Ungarn die erste Phase nach 1918 sozusagen „genießen“, kann die politische Wirklichkeit auch abweichen. Habe ja selbst einen MLitt in Modern History und würde diesen Begriff – gerade im Rahmen einer Erzählung – niemals kritisieren. Würde ich ihn deshalb in einem wissenschaftlichen Aufsatz benutzen? Hängt von Kontext und theoretischem Gerüst ab. (Ich wollte das eigentlich gar nicht kommentieren, werfe aber den Vorsatz über Bord.)
P.S.: Ich kann es mir doch nicht verkneifen. Da liefert man einen 4000-Wörter-Artikel, der sicherlich mehr Zeit als die Standardanalyse gekostet hat, und hofft, dass sich die Leser an den Einzelheiten zum Leben Puskás‘, einer höchst interessanten Spielerpersönlichkeit, erfreuen. Aber nein. Direkt spürt man diese Negativität, weil irgendjmd. ein Begriff womöglich zu forsch oder – Gott bewahre – politisch nicht korrekt erscheint.
Rurane 17. Dezember 2015 um 22:57
Hättest den Begriff womöglich im Text erklären sollen. Es ist ja sehr legitim, den Begriff „Tyrannei“ zu verwenden, aber dann musst du eben darlegen, was du damit meinst und eben auch Belege bringen. Sicher ist das kein geschichtswissenschaftlicher Text, aber du nutzt ja nunmal den historischen Hintergrund als Rahmen deines Porträts. Generell ist die gesamte Situation zwischen Österreichund Ungarn sehr komplex zu sehen. Ich kann nicht viel über Puskas historische Situation sagen, aber dein Text weißt ja auch auf die Ambivalenz der Beziehungen hin.
Aber ich finde deinen Text super, nicht das es falsch rüberkommt. Für mich bisher das beste Türchen (ja auch das längste). Applaus!
Schorsch 17. Dezember 2015 um 23:43
Vergiss die pc. Die Artikel hinter den Türchen in diesem Adventskalender sind sämtlich gut, seien sie eher analytisch-sachlich oder eher literarisch angelegt. Wenn man tatsächliche oder vermeintliche negative Aspekte finden will, dann wird dies in jeden dieser Texte so sein. Ja, und? Sieh es so: Entscheidend is auf’m Platz; will sagen was ‚rüberkommt‘ ist wichtig. Und da ist Dein Artikel über Puskás Ferenc für mich der bislang eindeutig atmosphärisch dichteste. Ein kleines Stück schöner Fußballliteratur, das beim Lesen fesselt.
fluxkompensator 17. Dezember 2015 um 23:55
verstehe deine aufregung nicht, ce. ich habe mich ja durchaus an den einzelheiten erfreut, nur eben ist mir diese einzelheit etwas negativ aufgefallen – zumal nur als rat angemerkt. no offense, aber liest sich ansonsten schon ein bisschen arrogant deine reaktion.
August Bebel 17. Dezember 2015 um 20:43
Ich würde nie dazu anraten, das Politische in Zukunft zu meiden, denn Fußball ist meiner Meinung nach politisch wie alles andere auch. Ein Lebensverlauf wie der Puskás‘ zeigt das ja.
Aber an dem Satz „Ungarn, abgelöst von der Wiener Tyrannei, genießt eine Zeit voller Unruhe und Aufbruch“ hab ich mich auch gestört: die KuK-Monarchie war meiner Meinung nach keine tolle Sache. Ungarn wurde allerdings, wenn ich mich nicht irre, zumindest weniger unterdrückt als andere Ethnien (Tschechen, Polen, Slowenen, usw.; das zweite K steht ja für König von Ungarn). Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Ungarn (Räterepublik, Niederlage im Ungarisch-Rumänischen Krieg mit rumänischem Einmarsch in Budapest, Vertrag von Trianon) Chaos, danach Miklós Horthy als Reichsverweser, der eine konservativ-autokratische und antisemitische Politik betrieb und unter dem sich Ungarn später am faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland orientierte.
Bernhard 17. Dezember 2015 um 21:34
Ist schon richtig, was du schreibst. Dennoch würden nicht viele Historiker CE dafür kritisieren, die Habsburgermonarchie in ihrem Umgang mit Minderheiten alsTyrannei zu bezeichnen.
Schorsch 17. Dezember 2015 um 22:38
Sport an sich ist mMn generell unpolitisch, wird aber von der Politik vereinnahmt. Insbesondere, wenn es sich um eine populäre Sportart wie Fußball handelt. Während der Finalsieg der DFB-Auswahl 54 auch als eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland gilt, trug die Niederlage der Ungarn mittelbar zum Volksaufstand 1956 bei. Es ist interessant ein mal zu recherchieren, wie es den ungarischen Spielern bei der Rückkkehr in ihre Heimat erging. Grosics traf es dabei besonders schlecht, er wurde einige Monate später aus fadenscheinigen Gründen wegen angeblicher Spionage und Landesverrats verhaftet. 13 Monate stand er unter Hausarrest und durfte nicht für Honved spielen, wurde dann freigesprochen. Dass er nicht liquidiert wurde, hatte er nur seinem Status zu verdanken, wie ihm ein KP-Funktionär mittteilte. Mit Mátyás Rákosi, dem ‚besten Schüler Stalins‘ und KP-Chef, war nicht zu spaßen. Es gibt auch Historiker, welche die Meinung von Grosics zunindest ansatzweise teilen, dass ohne die Niederlage 1954 in Bern 1956 nicht möglich gewesen wäre.
Interessanterweise spielten dann einige aus der Goldenen Elf, nachdem diese geflohen waren, im diktatorisch regierten Spanien. Wo sie dann auch Spieler aus demokratisch regierten Staaten trafen; pecunia non olet.
Es gibt abertausende von Beispielen, wie der Fußball von der Politik missbraucht wurde und wird. In Diktaturen ist das sicherlich besonders ausgeprägt, aber auch in demokratischen Staaten ist er davor nicht gefeit. Auch Weltmeisterschaften wurden schon in ihrem Ausgang von der Politik beeinflusst; man denke nur an 1934 und 1978. 1938 musste Herberger auf Geheiß des ‚Führers‘ aus zwei Teams mit Titelambitionen, aber unterschiedlichen Spielstilen, auf Gedeih und Verderb eine Mannschaft mit 6 bzw. 5 Spielern aus beiden vorherigen Teams aufstellen. Was dann auch prompt schiefging.
Ausblenden kann man den Einfluss der Politik sicherlich nicht, wenn man sich mit Fußball befasst. Auch nicht auf einer Seite, die sich vornehmlich mit Fußballtaktik befasst. Wenn ein Spieler wie Puskás beschrieben wird, kommt man gar nicht darum herum. Dennoch sollten die fußballerisch-taktischen Aspekte mMn klar im Vordergrund stehen. Diese sind nach meinem Dafürhalten nämlich unpolitisch; hier teile ich die Auffassung Menottis ausdrücklich nicht.
PS Die k. u. k. – Zeit war übrigens eine wahre Blütezeit Ungarns; wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Das Habsburgerreich ist u.a. deshalb letztlich zerfallen, weil Österreich den anderen Völkern nicht den gleichen Status zugebilligt hat wie Ungarn. Dabei war Wien ein Anziehungspunkt für viele Menschen aus dem großen Habsburgerreich. Die wirtschaftlichen und politischen Probleme in den neu entstandenen Staaten des ehemaligen k.u.k-Reiches haben auch nach dem ersten Weltkrieg viele Menschen aus diesen Ländern nach Österreich, insbesondere nach Wien, getrieben. In den Vororten, speziell im Favoriten, wuchsen junge Männer heran, die ihre Chance zum sozialen Aufstieg im Fußball sahen. Der phantastische Matthias Sindelar, Der Papierene, war der wohl berühmteste davon. Womit sich der Kreis von Politik und Fußball wieder geschlossen hätte… 😉
Bernhard 17. Dezember 2015 um 08:38
Grandioser Beitrag, CE, vielen Dank!
Mir gefällt vor allem sehr gut, wie der historische Teil in die gesamte Textstruktur eingewebt ist. Das wirkt keineswegs deplaziert oder gar irrelevant.
Ich verstehe bloß nicht, wie di Stefano und Puskas so gute Freunde bzw. Teamkollegen werden konnten. Beide waren ja durch und durch autoritäre Menschen. Entweder hat einer nachgegeben – wahrscheinlich der Ungar – oder es gab ständig Streit.
JV 17. Dezember 2015 um 00:44
Großartiger Text!
(Kleinere Mäkeleien würden das „Hacken“ schlagen und „okkasionell“ betreffen, zum Ende des Textes.)
Aber insgesamt was für ein Portrait, das ist Literatur!
Mir fehlen die Worte, um das Ungleichgewicht zwischen der kleinen Kritik und der nicht annähernd ausreichend ausfallenden Anerkennung auszugleichen – Wahnsinn!
Der Text hat mich gefesselt vom ersten Absatz an, war spannend geschrieben wie kein Portrait, das ich kenne. Respekt!
CE 17. Dezember 2015 um 00:30
Weiterführende Literatur:
Hámori Tibor, Puskás Öcsi (Budapest, 2001).
Bán Tibor & Harmos Zoltán, Puskás Ferenc (Budapest, 2005).
Szöllősi György, Puskás 1927-2006 (Budapest, 2006).
Sid Lowe, Fear and Loathing in La Liga: Barcelona, Real Madrid, and the World’s Greatest Sports Rivalry (London, 2013).