Das Bollwerk der Heiligen
Die jüngere Geschichte des Southampton Football Club ist die Geschichte des Abstiegs und der Wiederauferstehung, der Talentschmiede und des Verkaufsshops. Man war Ende der 2000er Jahre bereits in der League One angelangt, baute anschließend ein Team um Rickie Lambert, Adam Lallana und Morgan Schneiderlin auf. Lambert und Lallana tragen nicht mehr das Trikot der Saints. Schneiderlin wurde nach einem sommerlichen Wutausbruch noch davon „überzeugt“, dass es sich in Südengland doch ganz gut leben lässt.
Alan Shearer, Matthew Le Tissier, Wayne Bridge, Theo Walcott, Gareth Bale, Alex Oxlade-Chamberlain – diese Namen klingen wie eine Orgelkomposition in den Ohren vieler Fußballfans auf der Insel und weit darüber hinaus. Sie entstammten alle der Wiege Southamptons. Sie verließen bis auf Le Tissier alle früher oder später den Klub, der dafür angemessen entlohnt wurde. Die nächste Generation, die Generation der Luke Shaws und Calum Chambers packte bereits im letzten Sommer die Sporttaschen und verließ das Southampton Water – und das trotz des neuen Besitzers. Die Holding Company DMWSL des mittlerweile verstorbenen deutschstämmigen Unternehmers Markus Liebherr kaufte 2009 den Verein. Die Übernahme hatte schlussendlich aber auch eine 10-Punkte-Strafe, den Abstieg und die Wiederauferstehung zur Folge.
Rückblick: Gegner auf Zugriffs-Entzug
Mittlerweile spielt die einstige Kirchenmannschaft wieder ganz oben in England mit, hat ein erstaunliches Trainingsgelände aufgebaut und überraschte in der vergangenen Saison mit Platz acht nach 38 Spielen. Dabei stach insbesondere ins Auge, dass Southampton die typischen Schwächen zahlreicher englischer Mannschaften bespielte. Sie erzeugten gegen die mannorientierten, wenig intensiven Pressingbewegungen der Gegner neue Aufbauformationen. Die Sechser kippten beispielsweise vermehrt seitlich nach hinten und entzogen sich so in 2-3-4-1-Formationen, wobei die Außenverteidiger in der Linie vor den drei zentralen Mittelfeldakteuren standen, dem Zugriff in der frühen Spielgestaltung. Später stießen Schneiderlin und Co. attackierend nach vorn und kreierten damit wiederum aggressive Gegenpressingstaffelungen. Auch dieser schnelle Rhythmus im Übergang der einzelnen Spielphasen überforderte nicht selten Gegner in den häufig erfolgreich gestalteten Partien. Zudem erzeugten die zentralen Mannorientierungen, sowie die eher stärker ballorientierten Verschiebungen der vordersten drei Akteure den notwendigen Zugriff gegen die bis zur Mittellinie oftmals horizontal und vertikal mechanisch angelegte Spielgestaltung vieler Premier-League-Teams. Nach vorn hin waren dann sogleich Lambert sowie die beiden nominellen Außenstürmer Lallana und Jay Rodriguez für Durchbrüche verantwortlich. Aufgrund der bereits erwähnten vorrückenden Stellung beider Außenverteidiger, wurden Lallana und Rodriguez oftmals leicht nach innen in den Zehnerraum gedrückt, wo sie zusammen mit den ausweichenden Mittelstürmer Lambert kleinteiligere Kombinationen initiierten und auf diesem Weg durch die Abwehrreihen dringen wollten.
Es war ein gutes Jahr für die Saints – mit anschließender Katerstimmung im Sommer, als man einen vermeintlich existenzbedrohenden Ausverkauf erlebte. Selbst Erfolgstrainer Mauricio Pochettino, einst Nachfolger von Nigel Adkins, verstaute die Taktiktafel im Auto und fuhr geradewegs zur White Hart Lane nach London. Während vor der Saison bereits der erneute Untergang von einigen „Experten“ prognostiziert wurde, traf mit Ronald Koeman ein Mann in Southampton ein, der nicht nur früher ein beinharter Abwehrspieler war, sondern auch schon einen größeren Erfahrungsschatz im Profigeschäft vorzuweisen hat.
„One of the most important places in the building [New Forest] is the recruitment and analysis room and it is here where you will find Southampton’s ‚black box‘, a room where matches and prospective signings from leagues around the world are analysed extensively on a video screen that looks as if it could store all of the world’s secrets.“ (The Guardian, 5.11.2014, ‚Southampton are finally reaping the rewards of their long-term philosophy‘, Jacob Steinberg)
Kader: Der italienische Tänzer und das tapfere Schneiderlein
Insgesamt 120 Millionen Euro nahmen die Saints für fünf Abgänge ein. Der bereits ausgeliehene Pablo Osvaldo wurde direkt weiter nach Mailand zu Internazionale geschickt, von Inters Leihspieler Saphir Taïder trennte sich Southampton hingegen bereits nach drei Wochen. Der glücklose Gastón Ramírez kommt aktuell bei Hull City unter. Im Gegenzug wurden rund 60 Prozent der Transfererlöse in Ablösesummen neuer Spieler reinvestiert. Für den kroatischen Aufbauinnenverteidiger Dejan Lovren holte man Florin Gardos von Steaua und lieh Toby Alderweireld von Atlético aus, die offensiven Abgänge Lambert und Lallana wurden durch die beiden Angreifer Shane Long und Graziano Pellè sowie durch die beiden Flügelstürmer Sadio Mané und Dušan Tadić kompensiert. Zudem verpflichtete man den starken Schlussmann Frazer Forster.
Koeman brachte Pellè direkt von Feyenoord mit und der 29-Jährige trumpft nach zahlreichen Vereinswechseln und Leihgeschäften in seiner bisherigen Karriere nun auf der großen Bühne Premier League auf und wurde sogar im Oktober erstmals in die Nationalmannschaft berufen. Für Rotterdam erzielte er 55 Tore in 66 Spielen, zehn Millionen Euro später soll der 1,93 Meter große Bulle durch die Strafräume Englands pflügen. An den ersten zehn Liga-Spieltagen traf er auch sofort sechsmal. Jedoch werden ihm der Begriff „Bulle“ in Verbindung mit der Betonung seiner Durchschlagskraft im Sechzehnmeterraum nur partiell gerecht. Pellè war als Elfjähriger einst Jugendmeister im Lateinamerikanischen Tanz, entschied sich allerdings wenig später für den Weg in Richtung Profi-Fußball. Seine Tänzerhüfte hat er noch nicht ganz verloren, wie er immer wieder unter Beweis stellt, wenn er beim Umschalten der Saints den Ball recht tief und meist ausweichend im Halbraum bis zum Nachrücken der Mitspieler behaupten muss. Auch die eine oder andere geschmeidige Hackenweiterleitung dürfen die Fans von Soton in aller Regelmäßigkeit bestaunen. Pellè ist keinesfalls der prädestinierte Konterstürmer, der die Angriffe direkt in Richtung gegnerisches Tor vorantreibt. Dafür fehlt ihm eindeutig das Grundtempo, aber er kann zuweilen lewandowskiesque die Spielzüge am Leben erhalten und sofortige Ballverluste verhindern. Gegen schwächere Teams kommt dann zudem das brachiale Element in Tornähe zum Tragen.
Früher schlug sich Pellè bei Klubs wie AC Cesena durch die Serie B Italiens, mittlerweile spricht halb Europa über ihn. Morgan Schneiderlin ging mit Southampton den kompletten Weg in das Stahlbad des englischen Zweit- und Drittligafußballs, wobei der Begriff „Fußball“ in diesen Ligen zuweilen nur noch eine rudimentäre Daseinsberechtigung hat. 2008 kam der Elsässer von seinem Jugendverein Racing Straßburg nach Südengland. Mittlerweile gehört ein Kaderplatz in der Équipe Tricolore genauso zum Briefkopf des 25-Jährigen wie so manche Charakterisierung als strategisch stärkster Sechser der Premier League. Über Superlative darf man sich gerne streiten, die Funktion als entscheidender Balancespieler bei den Saints hat Schneiderlin auf alle Fälle inne. Neben Neuzugang und Modellathlet Victor Wanyama agiert der Franzose meist auf der linken Halbposition und bestimmt über diese Rolle auch häufig die Ausrichtung der Mannschaft. Schiebt er eher in Richtung Zehnerraum, geht Southampton ins aggressivere Pressing. Lässt er sich nach hinten auf die Doppelsechs fallen, verteidigen die Saints im tiefen Mittelfeldpressing. Schneiderlin ist einer der „Überlebenden“ des letztjährigen Dreamteams. Nach dem bereits erwähnten Verkauf zahlreicher Spieler sowie der schweren Verletzung von Linksaußen Jay Rodriguez konnte man in Soton nicht noch das 30-Millionen-Angebot der Tottenham Hotspur annehmen, nachdem diese bereits Trainer Pochettino geholt hatten.
„Die hatten Angst, dass die Fans das Stadion abbrennen.“ (Morgan S.)
Schneiderlin blieb und baut nun mit Wanyama sowie Steven Davis, Jack Cork und James Ward-Prowse die neue Zentrale auf. Letzterer ist das nächste Juwel aus der Jugendabteilung und dürfte sich längerfristig auf eine Berücksichtigung von Nationaltrainer-Kauz Roy Hodgson freuen. Aktuell ist Ward-Prowse aufgrund eines Fußbruchs außer Gefecht. Die meist höhere Achterposition, die häufiger auch zur Zehnerposition wird, hat oftmals Davis inne. Der 29-Jährige wirkt schon wie ein Urgestein auf der Insel und gilt seit jeher als starker, wendiger Techniker, der die Enge liebt und die Räume öffnet. Mit Davis hat Trainer Koeman ein weiteres wichtiges Element zur Herstellung von Verbindungen nach vorn, wo sich neben Mittelstürmer Pellè in der 4-3-3-Grundformation zwei schnelle Außenstürmer tummeln. Koeman kannte Rechtsaußen Dušan Tadić bereits aus der Eredivisie, wo er seit 2010 für Groningen und zuletzt für Twente Enschede stürmte. Die Konstanz in Entscheidungsfindung, Stellungs- und Passspiel sind die Garantie für den Stammplatz des Serben. Sein Pendant ist im Moment häufiger der ehemalige Salzburger Sadio Mané. Der Senegalese boykottierte das Training von Red Bull im Sommer, nachdem diese angeblich ein Angebot von Borussia Dortmund ablehnten. Schlussendlich landete der 22-Jährige, der von Salzburg-Experte RM als stärkster Spieler des letztjährigen Roger-Schmidt-Teams angesehen wird , bei den Saints. Mit 15 Millionen Euro Ablösesumme war er zudem der Rekordtransfer des Sommers. Die Leistungen Manés sind allerdings noch schwankend. In Pressingbewegungen blitzt die Schmidt-Schule bereits häufiger auf, in der Ballverarbeitung unter hohem Druck im letzten Drittel fehlt noch die Konstanz.
Für die Offensivabteilung wurde zudem Shane Long von Hull City verpflichtet. Im Gegenzug verlieh man dorthin Gastón Ramírez. Zweitgenannter agierte zuvor recht unglücklich bei den Saints. Wenngleich er essentieller Bestandteil der uruguayischen Nationalmannschaft ist und vorher Leistungsträger bei Bologna war, fiel er in seiner zweiten Saison eindeutig hinter Lallana und Co. zurück. Die 15 Millionen Euro Ablöse haben sich bei ihm bisher noch nicht bezahlt gemacht, was man erst recht vom Pablo-Osvaldo-Transfer im Sommer 2013 behaupten kann. Derweil ist mit Shane Long eine wenig spannende Verpflichtung getätigt worden, die aber die mangelnde Kaderbreite ein Stück weit kaschiert. Long gehört seit 2005 zum Repertoire der obersten englischen Spielklassen, fiel dabei durch eine quasi irische Spielweise auf, die aber mit etwas mehr technischer Klasse kombiniert wird. Unter Koeman findet sich Long häufig auf dem Flügel wieder, da Pellè zentral gesetzt scheint.
Apropos Kaderbreite: Insgesamt wurde der Kader verkleinert. Neben den bereits erwähnten Abgängen verließen weitere Akteure den Verein komplett oder zumindest auf Leihbasis. Die Verluste auf den Außenverteidigerpositionen wurden beispielsweise sehr unspektakulär gelöst. Nathaniel Clyne rückte in der Hierarchie nach oben. Von Chelsea liehen die Saints Ryan Betrand aus. Jener Bertrand, der einst zur Di-Matteo-Rumpftruppe im Champions-League-Finale 2012 gehörte und den defensiven Linksaußen gab. Zudem wurde der weitgehend unterschätzte Toby Alderweireld ins St Mary’s Stadium geholt. Der Belgier spielt in der Nationalmannschaft zumeist außen, ist vom Typ her aber in der Abwehrzentrale besser aufgehoben. Seinen Platz an der Seite von Kapitän José Fonte hat er sicher und zieht sich damit aus dem Tief, was er bei Atlético zuletzt, trotz der Erfolge der Rojiblancos erlebte. Da Diego Simeone in aller Regel auf sein Lieblingsduo bestehend aus Miranda und Diego Godín setzte, blieb für Alderweireld zunächst nur die Flucht. Er tut genau das, was Koeman von ihm verlangt: Stabilität und lediglich ein Minimalmaß an Fehlern in den Kernbereichen des Verteidigerspiels.
Trainer: Betonschädel mit dominanter Ausrichtung
TR, seines Zeichens Experte für niederländischen Fußball, hat sich mit der Personalie Koeman näher auseinandergesetzt und einige seiner bisherigen Stationen als Verantwortlicher an der Seitenlinie unter die Lupe genommen:
Sein Trainerdebüt gab Ronald Koeman ab Dezember 2001 bei Ajax. Dort ließ er oft eine etwas asymmetrische – wenngleich es auch klassischere Varianten gab – 4-3-3-Formation praktizieren, bei der einer der beiden Angreifer stärker ins Sturmzentrum tendierte und als zusätzlicher Abnehmer für Flanken bereitstand. Beim Doublegewinn in seiner ersten Saison richtete man sich in der eigenen Formation noch recht simpel aus, doch anschließend – 2003 scheiterte man im CL-Viertelfinale nur knapp gegen den späteren Sieger Milan – kamen mit Zlatan Ibrahimović und Wesley Sneijder individuell bessere Akteure, sodass man mit einzelnen zurückfallenden Bewegungen in die breit gezogene Positionsausrichtung hinein immer wieder kleineres Zusammenspiel einleiten konnte. Defensiv war diese Station durchaus typisch für Koeman – seine Mannschaft agierte solide, zuverlässig, nutzte als Grundlage meist 4-3-Stellungen und hatte einige gute Synergien. Die gewissen Mannorientierungen hatten mal gute und mal schlechte Auswirkungen, waren aber nicht das Hauptkriterium. Problematisch wurden die zu tief nach hinten gezogenen Stellungen des defensivsten Sechsers, was wie später bei Feyenoord etwas instabil und ungeordnet wirkte, hier teilweise aber immerhin für Switch-Bewegungen – zum Beispiel zu ansatzweisen Dreier-/Fünferketten – genutzt wurde. In den wichtigen Phasen jener Saison war das asymmetrische 4-3-3/4-4-2 mit Steven Pienaar als nach rechts gehendem Achter entscheidend. Daraus ergaben sich einige gute Linksüberladungen, bei denen einzelne Spieler in Räume innerhalb der eher flachen, aber konsequenten Stellungen stießen. Insgesamt zeigte sich dabei eine Stärke von Koeman-Mannschaften, die oft gefährlich aus statischen Szenen um den 16er zum Abschluss kommen, wenn der Ball an die Linien heran gespielt wird.
Die folgende Spielzeit sah kleinere Veränderungen, mit denen beispielsweise die breite Positionierung eines oder beider Außenstürmer besser ergänzt werden sollten – mehr Halbraumnutzung durch Maxwell beispielsweise oder gar durch dessen gelegentliches Einrücken in den Sechserraum. Überhaupt entwickelte sich der – insgesamt doch etwas unterschätzte – Brasilianer mit seinen zielstrebigen, durchschlagskräftigen und sehr kombinativen Diagonalläufen zu einer der wichtigsten Offensivwaffen des Teams. Unter anderem Differenzen innerhalb – vor allem zwischen den beiden Stars Ibrahimović und Rafael van der Vaart, von denen Louis van Gaal als zwischenzeitlicher Sportdirektor dann Ersteren abgab – des Teams, Führungsstreitigkeiten nach einem 0:4 gegen Bayern und eine Schwächephase in der Rückrunde 2005 führten letztlich zum Ende Koemans bei seiner ersten Station. Nach einer anschließenden Spielzeit bei Benfica – national musste man sich Porto unter Co Adriaanse geschlagen geben, international schied man erst im Viertelfinale knapp gegen den späteren Sieger aus Barcelona aus – folgte ein Meistertitel mit PSV, das einen Dreikampf am letzten Spieltag für sich entschied. Meistens setzte Koeman interessanterweise auf eine 4-4-1-1-hafte Formation mit Jefferson Farfán als driftendem Halbstürmer, dessen Gefahr für schnelle Konter in flexible Räume oder Flügelüberladungen mit Rechtsaußen Édison Méndez genutzt wurde. Gelegentlich gab es auch lange Bälle auf den sich etwas nach links absetzenden Mittelstürmer Arouna Koné, der für Farfán in die Tiefe weiterleitete oder mit Jason Čulina beziehungsweise Ibrahim Afellay – einer der beiden als einrückender linker Offensivmann – in jenem Halbraum kombinierte. Nach einem starken Start in die folgende Spielzeit nahm Koeman ein Angebot Valencias an – bei den Spaniern wurde er jedoch nicht glücklich und wäre fast abgestiegen, was auch der Pokalsieg nicht ausgleichen konnte.
Auf eine enttäuschende Zeit bei AZ – nach der Meisterschaft unter van Gaal fand man sich auf einmal nur noch in den untersten Tabellenregionen wieder – folgte für Koeman schließlich bei Feyenoord zum zweiten Mal nach Ajax eine längere Verweildauer. Dabei war es eine ambivalente Zeit mit Höhen wie der Rückrunde 2012, Tiefen wie den inkonstanten Niederlagen und Diskussionen. Einerseits schafften junge Nachwuchskräfte den Durchbruch und die Mannschaft wusste stets in der ganz oberen Tabellengruppe einzukehren. Andererseits gelang neben zweiten und dritten Plätzen aber nie der große Wurf und gerade in den internationalen Partien – meistens Qualifikationsrunden – präsentierte man sich ziemlich enttäuschend.
Ähnlich sah es mit der Spielweise aus, die oft simpel über lange Bälle auf Zielspieler Pellè samt folgenden Abprallern und Flügelaktionen lief. In letzterem Fall gingen viele Bälle auf die Dribblings von Schaken, bei denen die Staffelungen durchwachsen waren, durch individuelle Durchschlagskraft oder Improvisation aber teilweise aufgewogen wurden. Zwischendurch gab es immer mal wieder auch starke Partien mit hoher Dominanz durch Präsenz und Gegenpressing, bei denen sich auch der eine oder andere interessante Mechanismus – beispielsweise durch Daryl Janmaats Diagonaldribblings initiierte Aktionen – zeigte. Zudem strahlte das Team vor allem immer dann enorme Gefahr aus, wenn sie sich auf ihre soliden und zielstrebigen Konter konzentrieren konnten, bei denen die schnellen Flügel von guten Bewegungen der Achter unterstützt wurden. Die Defensive wurde ebenfalls von dieser Ambivalenz erfasst – insgesamt agierte man trotz solider Grundausrichtung in der Ausführung etwas zu inkonsequent und chaotisch. Hier spielten die teilweisen Mannorientierungen und manchmal unklare Aufgabenverteilungen eine Rolle. Durch die etwas unbalanciert vorschiebenden Charakteristika des Teams entstand eine potenzielle Anfälligkeit für Konter – die teilweise dann eben direkt viel besser kontrolliert wurden – und gegnerische lange Bälle, bei denen Jordy Clasie oder Tonny Vilhena in Koemans letzter Saison einige Male zu isoliert in physische Duelle gehen mussten. Letztlich verabschiedete sich der Trainer versöhnlich aus Rotterdam – mit dem Erreichen des Champions-League-Qualifikationrangs dank guter Leistungen, die eine interessant ausgeführte Fünferkette im Saisonendspurt mit bedingte.
Insgesamt lässt sich Koeman als ein Trainer charakterisieren, der eine solide, durchaus dominant-druckvolle Grundausrichtung praktizieren lässt. Diese wird beispielsweise in der Offensive mit vielen aufrückenden Bewegungen und einer Tendenz zu breiten Aktionen ausgespielt, was sich in Flanken und fokussierten Zuspielen oder langen Bällen auf Zielspieler äußern kann. Zwischendurch streuen sich durch Raumnutzung in kleinen Gruppen dann gute Angriffe und spielerisch nette Lichter ein, die auch mal zu einigen herausragenden Partien führen können.
Koeman ist das Upgrade
Die Spielweise der Saints unter Pochettino war in aller Regel sehr angenehm zu betrachten. Es waren attraktive Partien, die Southampton auf den Rasen brachte. Allerdings gab es unter dem Argentinier einen ausgereiften Plan A und auf den restlichen Seiten war sein Notizblock blank. Allerdings hatte Soton einerseits nicht die individuelle Klasse, um in jedem Fall ihr Spiel durchdrücken zu können, zudem lernen – es mag einige überraschen – selbst Premier-League-Teams kluge Aufbau- und Pressingstrukturen zu kontern. Koeman bringt nun mit erneuertem Kader mehr Flexibilität ein. Gegen zahlreiche schwächere Teams wird der Ball mit Vorliebe über die Zentralräume zirkuliert und dann im letzten Drittel auf die Flügel verlagert. Die Saints wollen das Spiel dominieren, zeigen, wer das Sagen hat. Sie verstricken sich gewollt in kleinteiligere Dribblings, forcieren diese vor allem auf den Außenbahnen und lösen diese Situationen dann mit Spielern wie Davis oder Schneiderlin geschickt auf. Im Anschluss soll der Durchbruch erfolgen.
Gegen ambitioniertere Teams wie die Tottenham Hotspur gelang dies jedoch in dieser Spielzeit eher nicht. Ex-Trainer Pochettino wusste, was auf ihn zukommen würde. Seine Abwehr positionierte sich beim 1:0-Heimsieg gegen Southampton meist schon absichernd in der Tiefe. Die Anschlussaktionen an die kleineren Flügeldribblings liefen ins Leere, effektiver Raumgewinn blieb trotz der anfänglichen Dominanz eher Mangelware. Doch Koeman lernt auch aus diesen Erfahrungen und kann sein Team vertikaler, 4-2-4-iger und damit konterfokussierter einstellen. Die Saints müssen noch die richtige Balance zwischen den unterschiedlichen Gegnern finden. Aber die Ansätze sind da.
Der grundsätzliche formative Unterschied zwischen Koeman und Pochettino findet sich am Kreidestrich wieder. Koeman lässt im Volksmund holländischer spielen. Das bedeutet gemeinhin, er setzt auf klarere Flügelspieler und nicht auf einrückende Halbspieler, wie es sein Vorgänger präferierte. In der Tat. Unter Koeman sind einige Spiele zu beobachten, wo Mané, Tadić oder Long nahezu auf einer Höhe mit Pellè sehr breit stehen. Die Folge sind klare Durchbrüche über eine enge Ballbehandlung und Tempovorteile in isolierten Zweikämpfen. Beim Kantersieg gegen Sunderland fielen über Hereingaben mehrere Tore. In diesem Aspekt ist Southampton pures England, aber auf hohem technischem Niveau.
Dick wie eine Kirchenmauer
Doch was zeichnet die aktuelle Erfolgsgeschichte noch viel stärker aus? Fünf Gegentore in zehn Spielen. Sie sind überhaupt die einzige Mannschaft, die noch eine einstellige Gegentoranzahl hat. (Tabellenführer José Mourinho vernimmt das mit finsterer Miene.) Zwei Treffer kassierten sie zum Saisonstart gegen Liverpool, später jeweils einen gegen West Ham United, die Queens Park Rangers und, wie erwähnt, gegen Tottenham. Aber insgesamt ist es schwer dieses Bollwerk zu überwinden, was an den klar strukturierten Pressingphasen liegt.
Zunächst gibt es zwei unterschiedliche Ausgangsformationen. Starten sie gegen den Ball im 4-4-2, agieren sie insgesamt passiver. Bei dieser Stellung rückt entweder Tadić von rechts neben den Mittelstürmer oder aber Davis respektive Schneiderlin schieben nach vorn an die Seite Pellès, während sich die Flügelstürmer in zweitem Fall auf die Höhe der Sechser fallen lassen. Damit laufen die Saints zunächst recht mannorientiert den gegnerischen Aufbau an, lassen aber häufig Raumgewinne zu, was sie wiederum dazu veranlasst, dass sie in der zweiten Phase in ein 4-5-1 übergehen. In der Regel rutscht der zuerst vorgerückte Achter wieder in den Mittelblock zurück. Anschließend wird entweder kompakt mit der kompletten Mannschaft linientreu in Richtung Ball verschoben, wobei das Nachstoßen der Achter auf den Außen den Staffelungsdruck erhöht und folglich Pässen ins Zentrum vorgebeugt wird. Zusätzlich gibt es immer wieder interessante Verschiebebewegungen gegen die Außenverteidiger zu erkennen. Der jeweilige Flügelstürmer der Saints löst sich dann von der Mannorientierung und rückt etwas ein. Dadurch wird bewusst die Außenbahn geöffnet, während der äußere Achter wiederum etwas hin zur Seitenlinie schiebt. Einerseits gibt es dadurch eventuell Zugriff auf einen Vertikalpass auf dem Flügel, zudem versucht man diese einfachen Zuspiele durch absichtliche Lückenbildung zu forcieren.
Insgesamt funktioniert das Mittelfeldzentrum wie ein Pendel, das sich stets ballorientiert bewegt und dabei immer kompakt bleibt. Während die ballfernen Außenspieler hin und wieder Probleme in der Raumfindung aufweisen – eine der wenigen Schwächen aktuell – wird über Schneiderlin und Co. stets der Druck aufrechterhalten. Die Zwischenlinienräume zur Abwehrreihe sind stark verdichtet. Der Gegner kann nur über direkte Zweikämpfe gegen die Außenverteidiger zu Flanken kommen, wobei Alderweireld und Fonte im Zentrum diese Bälle sehr stabil klären können. Besonders in Duellen mit schwächeren Teams fällt auf, dass selbst einer situativ mangelhaften Kompaktheit im Sechserraum Southampton noch von den beiden zentralen Spielern in der Viererkette profitiert. Problematisch kann die vertikale Kompaktheit nur werden, wenn man dieses Mittel zu unbedacht nutzt und folglich die Rückräume verwaisen lässt. An sich agiert Southampton im 4-5-1 lediglich mit drei Linien, wobei Pellé ganz vorn auf sich allein gestellt ist und im tiefen Pressing keine wirkliche Rolle mehr spielt. Wird also am oder im Strafraum zu radikal zusammengezogen und es ergeben sich durch schnelle Kombinationen doch Ablagemöglichkeiten für den Gegner, können die Saints nicht immer schnell genug die Verdichtung auflösen und neuen Druck aufbauen.
Eine aggressivere Pressingvariation ergibt sich in einer 4-2-3-1-Formation gegen den Ball. Die Flügelstürmer rücken dabei weit vor und decken die gegnerischen Außenverteidiger. Der situative Zehner schiebt zwischen die gegnerischen Sechser, während die eigenen Sechser immer wieder aggressiv aus der Grundstellung die zweite Aufbaustation attackieren und bei erzwungenen Rückpässen sofort wieder in den Sechserraum zurückkehren. Insbesondere die Defensivpräsenz von Wanyama kommt in diesem Punkt zum Tragen, da der Kenianer über seinen weitgreifenden, horizontalen Zugriffsbereich beispielsweise die Vorstöße von Schneiderlin absichern kann.
„What is defending? In Barcelona we won the CL and 4 Ligas with Koeman and Guardiola as defenders. Now if there are two examples of players who cannot defend its those two. But they did play in the heart of defense. So what is defending? Defending is about space. If I have to defend this whole garden, I’m the worst defender. If I have to defend this small area, I’m the best. It’s all about meters. That’s all.“ (Johan Cruyff)
Auf der Suche nach dem Rhythmus
Trotz 21 Treffer in zehn Spielen, wobei acht Tore beim Kantersieg gegen Sunderland fielen, gibt es noch Verbesserungsbedarf in der Angriffsgestaltung. Es wurde bereits erwähnt, Koeman setzt in der strategischen Ausgestaltung auf größere Variabilität. Allerdings dominiert Southampton mit Vorliebe ein Spiel und bestimmt den Rhythmus. Bis auf den ersten Spieltag lag der Ballbesitzanteil stets über 50 Prozent. Trotz dieser ambitionierten Spielweise müssen sie noch am Umschaltverhalten arbeiten. Pellé kann als offensiver Zielspieler das Spielgerät mit dem Rücken zum Tor für eine kurze Zeitspanne halten, aber nicht den Angriff nach vorn hin beschleunigen. Eigentlich wäre in diesen Situationen sogar Tadić im Zentrum besser geeignet, was sich aber nur schwerlich anhand der Positionsverteilung handhaben ließe. Hinzu kommt eine gewisse Zurückhaltung im raschen, möglicherweise leicht chaotischen Vorrücken der kompletten Mannschaft. Die Saints wollen sich nur ungern auskontern lassen. Eindringlinge im Sechserraum – vor allem bei Duellen mit Top-Teams – sind ungern gesehen. Insgesamt geht der Mannschaft von Koeman zuweilen noch der passende Angriffsrhythmus ab beziehungsweise neigt sie dazu, in einer zähen Partie ihre dominante Spielweise ein Stück weit aus der Hand zu geben und dann orientierungslos zwischen angestrebten Ballzirkulationen sowie Engendribblings und einer tieferen Verteidigung mit anschließend suboptimalen Konteraktionen umher zu schweben.
Koeman hält sich während der Spiele noch zu stark zurück und reagiert auf diese kurzfristigen Schwächephasen nicht. Zudem sind seine formativen Anpassungen eher simpel. Liegt man in Führung, wird das 4-3-3 oftmals durch einen Wechsel zum kompakteren 4-4-1-1. Laufen die Saints derweil einem Rückstand hinterher, wechselt Koeman des Öfteren einen zusätzlichen Angreifer für ein 4-2-4 ein. Die geringe Kaderdichte ermöglicht dem Niederländer zudem keine großen Experimente. Allerdings hebt sich Southampton durch intelligentes Pressing in der Premier League von vielen Mannschaften ab, man bespielt die typischen Schwächen auf der Insel. Insgesamt wirken die Saints wie eine Antithese zu den vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten der obersten englischen Spielklasse.
Jedoch darf die aktuell starke Tabellenposition noch nicht als endgültiger Indikator für einen etwaigen Angriff auf die internationalen Plätze gewertet werden. Der Spielplan war bisher recht einfach, gegen Tottenham und Liverpool gab es Niederlagen. Ende November und Anfang Dezember tritt Soton bei Arsenal an und empfängt zu Hause beide Mannschaften aus Manchester. Nach der Weihnachtszeit empfängt man wiederum Arsenal und Chelsea im St Mary’s Stadium und muss außerdem ins Old Trafford reisen. Der endgültige Härtetest für Koeman’s Boys kommt erst noch.
6 Kommentare Alle anzeigen
JOS 18. November 2014 um 01:13
Super Artikel, Weltklasse! Eure Teamanalysen sind prinzipiell stark und diese hier besonders. Wohne in England und kann hiermit den Anhängern des kick and rush noch besser näher bringen, was Taktik so alles positiv bewirken kann 🙂
Ostkreuzkicker 11. November 2014 um 11:02
Starker Artikel, gut lesbar!
klaus edelweiss 11. November 2014 um 14:03
Das ist schon besonderz stark.
Ein tolle Zusammenarbeit der Autoren, die eine hochprofessionelle Reportage ergibt, wie man sie (gerade in deutschen) sport medien kaum finden kann.
danke!
AlexF 17. November 2014 um 16:02
Kann ich nur voll und ganz zustimmen. Sehr gut zu lesender Artikel.
JS 8. November 2014 um 20:31
Danke für die Analyse. Ich bin gespannt wie die Hinrunde sich weiter entwickelt gegen die stärkeren Gegner. So oder so, die Vereinsstrategie passt und langfristig sollte der Klub erfolgreich werden/bleiben.
Yan 8. November 2014 um 17:36
Allgemein gefallen mir Teamanalysen schon besonders gut, da sie sich nicht nur auf ein Spiel beziehen sondern auf die generelle Entwicklung und Ausrichtung eines Teams. Dieser hier wird aber mit der Trainerhistorie, den Zitaten und den Statistiken ein besonders schöner Rahmen gegeben. Die Zitate lockern den Artikel etwas auf und geben ihm eine Spur Humor. Die Statistiken hingegen veranschaulichen und belegen die im Text gemachten Punkten. (Generell finde ich die Entwicklung bei Spielverlagerung hin zu einer stärkeren Unterfütterung der Analysen mit Statistiken sehr positiv. Der Goalimpact und die Expected-Goal Ratio sind interessante Indikatoren.) Die Übersichtstabelle für die Transfers ist zudem eine schön übersichtliche Zusammenfassung der Zu- und Abgänge.
Insgesamt sind solche Artikel einfach nur spitze und ich hoffe sie folgen noch öfter, besonders für taktisch interessante, ausländische Teams. Vielen, vielen Dank dafür.