Türchen 22: Uwe Seeler

Als fairer Sportsmann und als zuverlässiger Arbeit hat sich Uwe Seeler völlig zu Recht einen herausragenden Ruf im deutschen Fußball und zahlreiche Ehrungen verdient. Doch dass der DFB-Ehrenspielführer auch im taktischen Sinne außergewöhnlich war, ist nur wenigen bewusst.

Er gilt als gewitzter Stürmer, der den Strafraum mit überraschenden Aktionen wie Hinterkopfballtoren oder explosiven Fallrückziehern erfüllte und auch mit dem Rücken zum gegnerischen Kasten anspruchsvollen Situationen gewachsen war. Diese Aspekte, sein Kampfesmut und die Hilfe für die Kollegen werden ihm als weitere Facetten eines ansonsten recht modernen Stürmers zugesprochen.

Trotz seiner geringen Körpergröße wurde Seeler bereits recht früh und anschließend über weite Teile seiner Karriere als Mittelstürmer eingesetzt, der stets für viele Treffer sorgen konnte. Seine arbeitsame Spielweise wurde damals wie heute immer mal wieder gerne angedeutet, allerdings nie in ihrem Ausmaß besprochen. Wie weit Seeler sich häufig zurückfallen lassen hat und dabei diverse Aufgaben in tieferen Zonen für die Mannschaft ableistete, hat dagegen zu selten ausdrückliche Betonung gefunden.

Zurückfallen und Antreiben im zweiten Drittel

Mit einer sehr engagierten und fast schon wuseligen Art sorgte der gebürtige Hamburger in diesen tieferen Zonen immer für viel Aktivität in seinem eigenen Spiel und jenem seines Teams. So trieb er die Offensivbemühungen nicht selten entscheidend an und fungierte als essentieller Motor. Diese Bewegungen waren aber nicht allein unterstützender Natur oder erfüllten kämpferische, funktionale Zwecke im zweiten Spielfelddrittel, sondern eher Ausdruck der spielmachenden Fähigkeiten, die „Uns Uwe“ ebenfalls besaß.

Dabei steuerte er häufig auch sehr weiträumige Lücken in diversen Bereichen an. Seine Aktionen waren dann nicht überraschend kreativ oder besonders künstlerisch veranlagt, sondern Seeler ließ sich nach seinem Zurückfallen in den ausgesuchten Freiraum die Bälle von den Kollegen abliefern, um sein Engagement auszuleben. Die umliegenden Mitspieler schoben dann nach vorne in ihre jeweiligen Räume, während Seeler das Spiel strukturierte und entscheidende oder strategische Pässe – beispielsweise im Sinne von Rhythmuswechseln, Tempoveränderungen oder Raumansteuerungen – gab. Meistens waren das strategische, wenngleich leicht wahllos-wirkende Grundsatzentscheidungen, anleitende Aktionen und logisches Denken in bewusste und sinnvolle Lücken hinein – eher weniger aussprudelnde oder extravagante Gedanken und Geniestreiche.

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Seelers Zurückfallen

Dabei übte er zwar eine gewisse grundsätzliche Präsenz und Dominanz aus, hatte aber auch immer dadurch unscheinbare Elemente in seinem Stil, dass er diese Dominanz recht aufopfernd einbrachte und funktionalisierte. Das Zuarbeiten als solches war die unauffällige Komponente und nahm damit auch seinem generellen Stil etwas an dauerhafter Stempelhaftigkeit.

Ausweichen und Zusammenspiel im letzten Drittel

Wenn es dann in strafraumnähere Räume ging und Seeler entweder – falls er nicht so weit zurückgefallen war – sich dort positionierte oder aus der Tiefe zurückkehrte, beeindruckten darüber hinaus die geschickten Positionierungen, die sehr vorausschauend gewählt waren und meistens ein Gespür für die generelle Wichtigkeit der Halbräume bewiesen. Durchaus wie Wayne Rooney, der zuvor auch gerne zurückfällt, sich in tieferen Bereichen herumtreibt und bestimmend-strukturierend wirkt, wühlte sich Seeler in diesen höheren Zonen dann sehr gerne durch die Strukturen und übergreifenden Elemente hindurch, ohne dabei aber fahrig oder chaotisch zu werden. Stattdessen arbeitete er häufig in überraschend sauberer Ausführung, war generell enorm beweglich und streute situativ immer wieder feine und effektive Dribbling-Phasen oder schnelle Läufe ein.

Ein weiteres ganz zentrales Element von Seelers Spiel in den höheren Bereichen war das starke Ausweichen, mit dem er sich für die Kollegen aufopferte, indem er Räume öffnete, Gegner band und sich als situative Anspieloption zur Verfügung stellte. Im berühmten WM-Finale 1966 gegen England bildete er ein bewegliches Sturmduo mit Siggi Held, wobei er viele Rochaden in den zentralen Bereichen zeigte, aber häufig auch auswich. Bei einer Szene wollten Held und Flügelstürmer Emmerich zusammen mit Overath sowie dem herüber gekommenen Rechtsaußen Haller die linke Seite bzw. den dortigen Halbraum überladen, wofür Seeler ballfern auswich. An der letzten englischen Linie schob er in Richtung der rechten Seite und bearbeitete die Schnittstelle zwischen Innen- und Außenverteidiger.

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Überhaupt rochierte er gerne auf jene Seite, wenn Haller beispielsweise zur Unterstützung des Aufbaus etwas tiefer zurückfiel. Passenderweise war dessen früher Führungstreffer von den beiden zusammen aus dem rechten Halbraum eingeleitet worden, ehe Seeler von dort das Spiel nach halblinks zu Held lenkte, der schließlich mit einem längeren Zuspiel für die beiden in den Strafraum vorgeschobenen Außenstürmer vorbereitete. Sein Ausweichen zog Seeler gelegentlich auch anders auf, wenn er es mit seinen strategischen und antreibenden Fähigkeiten in den höheren Zonen verband. Dafür zeigte er vor allem druckvoll ausweichende Sprints in die äußeren Schnittstellen, die gerade beim HSV ein besonderes Kernmerkmal seiner Rolle darstellten.

Als verkappter Zehner in Mexiko

Ein wenig – das Duo mit Held hatte bereits so etwas angedeutet – anders oder eher abgewandelt war bzw. wurde dies mit der WM 1970 in Mexiko, die als letztes großes Ereignis vor Seelers Karriereende weitgehend symbolisch für dessen späte Zeit steht. Hier hatten sich allerdings mit dem Aufstieg Gerd Müllers auch die taktischen Gegebenheiten verändert, so dass Seeler bei diesem Turnier nun eindeutig eher als hängende Spitze aufgeboten wurde und diesen Posten als verkappter Spielmacher in arbeitsamer Ausführung interpretierte.

Man könnte vermuten, dass der ältere Seeler sich mehr auf die höheren Zonen konzentriert hätte und insgesamt bearbeitete er dabei tatsächlich vermehrt die letzte Linie sowie die Bereiche unmittelbar um Müller herum. Dennoch ging er immer noch sehr häufig seinem typischen Zurückfallen nach. Dabei visierte er etwas seitlich den Halbraum an, holte sich dort die Bälle ab und versuchte antreibend auf die Angriffe einzuwirken. So war er zwar etwas dicklicher, statischer und aufgrund seines Alters nicht mehr so explosiv und aktiv, allerdings immer noch sehr engagiert in seinen Bemühungen, den Dingen aus den Halbräumen heraus den richtigen Lauf zu geben und die weiteren Strukturen einzuleiten.

Beim etwas älteren Seeler waren die Entscheidungen und Bewegungen dabei noch bewusster geworden, weshalb man gerade bei dieser WM in besonderem Maße ablesen konnte, wie vorausschauend und häufig auch absichernd seine Positionierungen beim Zurückfallen gewählt waren. Im Gegensatz zu vielen anderen Offensivakteuren, die in solch tiefen Zonen etwas deplatziert wirken, teilweise fahrig und unbedacht Räume bespielen und damit die eigene Stabilität der hinteren Kollegen einreißen, fand sich Seeler immer sehr gut zurecht und konnte meistens das Denken seines Umfelds annehmen.

Dabei wechselte die genaue Ausrichtung zwischen den einzelnen Begegnungen teilweise ziemlich deutlich. So agierte Seeler im letzten Gruppenmatch gegen Peru eher wie ein schleichender Schattenstürmer mit geringem Aktionsradius, der bis auf wenige überraschende Ausbrüche (Ausnahme unter anderem die Flanke zum 3:0 von Müller) etwas träge, aber bewusst und kontrolliert agierte. In dieser Partie kam er vor allem über seine geschickten Positionierungen. Mit klaren Stellungen im breiten Vierersturm sollte er seinen nominellen Gegenspieler binden und dadurch recht passiv den Raum für Müller öffnen oder offen halten, der nach Flanken von Libuda oder Löhr gesucht wurde.

Zurückhaltende und indirekte Defensivarbeit

Diese klare und schematische Anlage mit einer gestreckten Formation und dem Anvisieren einzelner definierter Freiräume sah Seeler als einen Raumöffner „im Gehen“ vor, der seine zurückhaltenden Eigenschaften in die Angriffsmechanismen transferieren konnte – ansonsten kannte man diese eigentlich nur aus seinem Defensivspiel. Allgemein konzentrierte er sich dabei meistens stark auf eine indirekte Arbeit gegen den Ball, indem er sich in strukturellen Schwächeräumen die passenden Positionierungen suchte – meist leicht diagonal versetzt oder beispielsweise auch mal dort, wo er eventuelle Abpraller zu landen vermutete.

Aus diesen Gründen wirkte er selbst auch nicht als besonders herausragender oder geeigneter Gegenpressing-Spieler, da er nach Ballverlusten eher in absichernde und präventive Positionen zurückwich – als Ergänzung für aggressivere und jagende Kollegen konnte er hier allerdings sehr wirksam werden. Auch in geordneten Defensivsituationen setzte er sich gelegentlich dementsprechend ein, indem er einfach in jene Räume zusätzlich hineinschob, die gerade zusätzliche Stabilität und Präsenz benötigten – das konnten sowohl ballferne als auch ballnahe Bereiche sein. Mit seinen recht tiefen und gewissenhaften Positionierungen in der bekannt passiven Ausführung war Seeler kein wirkliches Kampfschwein.

Gegensätze und Komplettheit

Trotz seiner Arbeitsrate und seinem Engagement war „Uns Uwe“ also nicht das klassische Kampfschwein – und ein wirklicher Stürmer war Seeler dabei eigentlich auch nicht, sondern eher eine verkappte und arbeitsame Abwandlung davon. Neben dem wichtigen Element des Zuarbeitens in seinem Stil gehörte vor allem die etwas seltsame Verbindung aus offensiver Aktivität hinsichtlich diverser Aspekte und defensiver Zurückhaltung zu den wichtigsten Charakteristika des Hamburgers.

Überhaupt war der häufig als recht normal, grundsätzlich modern und ansonsten eben vor allem durch seine Fairness und seinen Einsatz gewürdigte Seeler viel facettenreicher, als er oft gesehen wurde. Es waren sogar solche ungewöhnlichen Verbindungen von Eigenschaften oder gar Widersprüche, die ihn prägten und auch für eine etwas seltsam zu beschreibende Art verantwortlich zeichneten – gleichzeitig wuselig, aufgedreht, antreibend und auf der anderen Seite konstant, solide, nüchtern – eine Art normaler Wahnsinn. Auch die Mischung aus strategischer Denkweise mit gutem Strukturgefühl und der sehr aktiven und aufgedrehten Seite passt hier in diese Auflösung und würde bei vielen Akteuren nicht in diesem Maße funktionieren. Dabei zeigte sich ersterer Aspekt vor allem in den gelegentlichen unkonventionellen Aktionen oder Situationslösungen Seelers, die aber eben nicht durchgehend kreativ waren, sondern genial in ihrer Praktikabilität.

Dies deutet dann – vielleicht gar noch pointierter als der generell zuarbeitende Spielstil des Offensivmannes – auf das Ehrliche und Bodenständige hin, das Seeler nicht nur generell als Person ausstrahlt, sondern sich somit auch in seinem Spielstil auf dem Platz wiederfand. Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, dass Seeler in der grundsätzlichsten Intuition doch gar nicht so falsch eingeschätzt wird – allerdings ist die grundsätzlichste Intuition eben auch sehr weit weg und verbirgt einige andere wichtige Aspekte, die Seeler ebenfalls ausmachten. Dieser komplette, vielseitige und eben dadurch auch wechselhafte Stürmer ist in seiner genauen Spielweise falsch eingeschätzt und irgendwie – in seiner grundsätzlichsten Essenz – doch nicht.

Zum Abschluss noch ein Zitat meinerseits anlässlich des Spielverlagerung-Fantasy-Drafts vom vergangenen Februar und März, bei dem Seeler in TRs Team gepickt wurde. Es ist eine sehr kompakte, wirre und gleichzeitig wenig kunstvolle Zusammenfassung, die im Detail nicht gänzlich treffend formuliert ist und dennoch Seeler vor allem durch die vielen zugewiesenen Funktionen und Aufgaben charakterisiert: „Komplettiert wird das Aufgebot an ausweichenden Akteuren in der vordersten Reihe durch die nominelle, aber keinesfalls unbedingt wirkliche Sturmspitze Uwe Seeler. Dieser spielte seine legendäre Weltmeisterschaft 1970 als tieferer Partner von Gerd Müller und bestach dabei vor allem als zuarbeitender Fake-Zehner. Als weiterer kompletter Spielertyp in dieser Mannschaft ist Seeler für mehrere Aufgaben eingeplant: Als Breitegeber, Anspielstation, ballhaltender und –ablegender Wandspieler, defensiv mitarbeitender und zurückfallender, eventuell gar absichernder Angreifer, gelegentlich natürlich als Torjäger ebenso wie als etwas individueller arbeitender Vorlagengeber. Ganz besonders natürlich – durch seine ausweichenden Bewegungen in verschiedene Richtungen gepaart mit physischer Kraft und hohem Einsatzwillen – als Raumöffner für die Mitte und die Halbräume, weil er diese Bereiche aufreißt und mögliche von den Flügeln kommende Unterstützungsspieler des Gegners in deren Ursprungsräumen binden kann. Schließlich darf eine Defensive die unkonventionellen Methoden und die stetige Gefahr des DFB-Ehrenspielführers aus schwierigen Positionen nicht unterschätzen – nach dem Motto: Seeler ist auch ausweichend und gegebenenfalls ballfern unmittelbar gefährlich.“

pirat 1. Januar 2014 um 13:18

Sein Einsatzwillen war beispielgebend, seine Kopfballstärke überragend ( Kommentar B. Charlton), was er für die deutschen Fans war lässt sich am besten am Empfang 1966 auf dem Frankfurter Römer festmachen.

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juwie 22. Dezember 2013 um 23:24

Mit ihrer Kombination aus finalisierendem Killerinstinkt und mitspielerdienlichem Raumschaffen und Ballschleppen erscheinen mir Seeler und Klose als Brüder im Geiste.

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Strafraumautist 22. Dezember 2013 um 13:44

Als AV oder DM?

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SCP-Poker 22. Dezember 2013 um 13:18

Wann kommt den mal, der nächste Fantasy-Draft, der erste hat unfassbar viel Spaß gemacht auch wenn man selber nicht mitgespielt hat. PS mein erster Pick wär glaub ich Lahm

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