Momente norddeutschen Aufbauwahnsinns
Zwei Mannschaften spielen in Ballbesitz mit ebenso riskanten wie interessanten Ideen und reagieren darauf jeweils mit aggressivem Pressing. Ist das noch Zweitligafußball?
Der HSV ging ungewohnt optimistisch in seine erste Zweitliga-Saison, nachdem die bereits zum Ende der vergangenen Spielzeit unter Christian Titz implementierte Spielweise in der Vorbereitung hervorragend funktionierte und die Rothosen zu Siegen gegen Rapid Wien und den AS Monaco führte.
Bei Holstein Kiel sahen die Vorzeichen freilich anders aus, hatten die Störche doch nicht nur Trainer Markus Anfang, sondern auch die Leistungsträger Dominick Drexler und Rafael Czichos an den 1.FC Köln verloren. Torjäger Marvin Duksch zog es gleichzeitig auf die andere Seite des Rheins nach Düsseldorf.
Manch einer hatte ein 3:0 erwartet. Und dazu kam es auch. Jedoch für Kiel und nicht für den Bundesligaabsteiger. Ein teils wahnwitziges Spiel, das sich am besten über die Versuche im Aufbauspiel charakterisieren lässt.
Kiels Viererkettenrochaden gegen Hamburgs Vier-Mann-Anlaufen
Unter Insidern war Tim Walter sicherlich kein Unbekannter. Bayern München zahlte vor einigen Jahren 500.000€ und bot dem Karlsruher SC zusätzlich ein Testspiel, um ihn als U17-Trainer zu verpflichten. Von dort stieg er nach gewonnener Meisterschaft dann schließlich zum U23-Trainer auf. Doch der Erfolg blieb aus und das Verhältnis zu den Vorgesetzen bei Bayern München schwierig.
Holstein Kiel, nicht nur was Spieler angeht für gutes Scouting bekannt, griff zu und bekam einen Trainer, der ähnlich wie Christian Titz auf der anderen Seite nicht vor innovativen Ideen zurückschreckt. Bereits zu U17-Zeiten ließ er mit ungewöhnlichen Aufbaurochaden aufhorchen. Diese gab es dann auch direkt gegen den HSV zu sehen.
Die Viererkette reihte sich asymmetrisch vor Torhüter Kronholm auf. Während der rechte Innenverteidiger Schmidt häufig in den Sechserraum vorschob, blieben sowohl der rechte Außenverteidiger Dehm als auch der linke Innenverteidiger Wahl beide etwas tiefer. Linksverteidiger van den Bergh reihte sich zunächst eher auf einer Linie mit Schmidt auf. Kronholm selbst tendierte leicht zur rechten Seite.
Durch dieses Vorschieben vonseiten des Innenverteidigers besetzten die beiden Sechser in der Regel nicht mehr den Raum vor der Abwehr. Sie schoben nämlich ihrerseits vor und bildeten gemeinsam mit dem aus Südkorea gekommenen Star-Zehner Lee eine offensive Dreierreihe. Vor ihnen befanden sich Schindler, Serra und Hosnak in noch höherer Position, wobei die Flügelspieler die Breite hielten.
So entstand am ehesten eine Art 3-1-3-3 bei eigenem Ballbesitz, welches das Hamburger Pressing vor allem in den Flügelzonen vor Probleme stellen sollte, mussten die Außenverteidiger doch gleichzeitig die vorrückenden Sechser als auch die breiten Flügelspieler im Auge behalten und dann auch noch situativ gegen die Außenverteidiger mithelfen.
Steinmann ließ sich wie zuletzt auch im Test gegen Monaco meist in die Kette zurückfallen und deckte hier Serra, während Janjicic davor bei Lee blieb. Die beiden Innenverteidiger gingen in breitere Positionen und orientierten sich grob zu den beiden Flügelspieler, konnten diese aber nicht unmittelbar decken, da dies die Räume neben Steinmann geöffnet hätte. Direktes Spiel an die letzte Linie war so für die Störche in Folge der Ballzirkulation am eigenen Strafraum stets ein probates Mittel.
Das eigentlich Verrückte an dieser Anordnung von Seiten des HSV war, dass die Gastgeber somit quasi im 4 gegen 4 mit der ersten Aufbaureihe der Kieler standen. Hierbei griff man zwar auf Mannorientierungen zurück, spielte aber keine ganz klare Manndeckung, sodass es gleichzeitig immer wieder freie Passoptionen für die Kieler gab.
Kapitän Schmidt konnte deshalb häufiger einmal den Ball im Sechserraum erhalten, wurde dann jedoch aggressiv angelaufen und auch folgende Rückpässe auf Keeper Kronholm wurden verfolgt. Daraufhin sollte das Aufbauspiel in Bereiche gelenkt werden, in denen die Hamburger schnell eine Überzahl erzeugen konnten.
Kiel zeigte daraufhin jedoch immer wieder Anpassungen in der genauen Positionierung. Van den Bergh konnte zur Erzeugung einer zusätzlichen Anspielstation entweder ins Zentrum einrücken oder sich etwas tiefer zurückfallen lassen. Er interagierte dabei sowohl mit Innenverteidiger Wahl als auch mit dem zentralen Mittelfeldspieler Meffert. Vor allem letzterer streute zudem klug gegnerbindende Läufe ein, mit denen sich Raum öffnen ließ. Die Hintermannschaft des HSV zeigte sich in ihren Zuordnungen unklar und agierte nur wenig kollektiv.
Dass die grundsätzliche Idee der Kieler nicht frei von Risiko blieb, wurde vor allem in jenen Momenten klar, in denen sowohl Schmidt, der eben kein ausgebildeter Sechser ist, als auch Kronholm unter Druck in Schwierigkeiten gerieten und unpassende Entscheidungen trafen. Derartige Fehler sind im Rahmen des Kieler Aufbaus dann nur recht schwer abzusichern. Außer den restlichen Spielern aus der Viererkette gibt es auch nur wenige direkte Anspielmöglichkeiten und die vorhandenen lassen sich häufig recht leicht zustellen.
Besonders auffällig wurde dies bei Ballbesitz des tiefen Rechtsverteidigers Dehm. Blieb Schmidt gleichzeitig in höherer Position, konnte Ito ihn einfach in seinen Deckungsschatten nehmen. Kronholm bot sich zusätzlich nicht so aktiv als Rückpassoption an. Narey konnte sich ballfern entsprechend so positionieren, dass er ihn und Wahl im Blick hatte.
Dann blieb nur noch ein langer Ball übrig, für den Kiel zwar numerisch gut aufgestellt war, jedoch in Folge von Abprallern keine gute Besetzung des Sechserraums hatte. Hier hätte sich die hohe Position der beiden Sechser nach Ballverlusten am Flügel durchaus rächen können und der HSV erspielte sich in vergleichbaren Momenten ordentliche Kontermöglichkeiten.
Licht und Schatten für die Torwartkette
Der HSV setzte seinerseits auf eine ungewöhnliche Anordnung in der ersten Aufbaulinie, wobei die prominenteste Rolle hier weiterhin dem Torhüter gilt. Die Innenverteidiger fächern neben ihm weit auf, während die Außenverteidiger früh hochschieben. So bringt die Mannschaft von Christian Titz fünf oder sechs Spieler in hohe Zonen hinter dem gegnerischen Mittelfeld.
Zu Beginn hielt sich jedoch zumindest Janjicic etwas tiefer und agierte häufig neben Steinmann. Bei Ballbesitz eines Innenverteidigers ließ sich so durchaus eine Anspielstation in Richtung Zentrum schaffen, genau in die formative Lücke des 4-4-2-Pressings. Die Kieler Sechser mussten sich häufig beide um die höher postierten Hamburger Spieler kümmern oder konnten eben nur einen von beiden zentralen Mittelfeldspielern decken.
Die einzelnen Bewegungen der Hamburger Spieler nach einem Pass ins Zentrum waren zudem vielversprechend. Holtby zog Räume frei, Ito rückte vom Flügel nach innen, während Jairo sich aus der letzten Linie zurückfallen ließ. Narey startete derweil diagonal in die Lücke hinter van den Bergh und Wahl. So entstand auch Raum für Sakai zum Aufrücken am Flügel.
Kiel verfolgte die meisten dieser Aktionen unmittelbar mannorientiert und ließ immer wieder Lücken im Abwehrverbund. Diese nutzte der HSV jedoch keineswegs konstant genug, Zuspiele für Tiefenläufe wurden entweder verpasst, waren nicht präzise oder es gab schlichtweg überhaupt keinen Lauf, der bedient werden konnte.
Die große Stärke des Kieler Pressings wurde es demgegenüber dann im Laufe des Spiels, die Innenverteidiger nach außen abzudrängen und die Gastgeber so früh an die Seitenlinie zu zwingen. Von hier gab es nur selten vielversprechende Optionen. Zudem stellte der ballferne Stürmer, oftmals Lee, den Passweg zu Pollersbeck zu oder war zumindest bereit, diesen aus dem Rücken anzulaufen.
Mit zunehmender Spielzeit ging auch Janjicic in eine höhere Position. Mit den hohen Außenverteidigern und recht breiten Flügelstürmern konnte theoretisch einfach der Raum um die Kieler Außenverteidiger überladen werden. Gerade auf rechts unterstützte Jairo vermehrt noch zusätzlich. Doch diese Situationen waren nicht so einfach zu bespielen, zumal auch die Kieler Flügelspieler in der Rückwärtsbewegung mithalfen oder sich nahe an den Außenverteidigern hielten, wenn diese sich für den unter Druck stehenden Pollersbeck etwas tiefer anspielbar machen wollten.
Der HSV bildete die übliche Aufbauraute mit Pollersbeck, van Drongelen, Bates und Steinmann. Kiel stellte hierbei jedoch alle Optionen mehr oder weniger zu. Somit mussten Zuspiele fast schon in Drucksituationen und mit Risiko erfolgen, um weiter vorne freie Spieler zu finden. Gelang dies, gab es unmittelbar große Räume für die Gastgeber, etwa für Sakai auf rechts. Scheiterte man, hatte Kiel einen vielversprechenden Ballgewinn.
Die Gäste hatten außerdem aufgrund der grundsätzlichen tiefen Position der Außenverteidiger sowie mindestens eines Sechsers eine stabilere und mehr zum Gegner passende Ausgangslage für ihre mannorientierte Spielweise. Es gab weniger unklare Übergabemomente als auf der anderen Seite beim HSV, wo sich Fragen stellten wie: Wer ist jetzt eigentlich für den Flügelstürmer zuständig? Wer rückt auf freie Spieler zwischen den Linien heraus, wenn Steinmann bei Serra ist und die Innenverteidiger sich an den Flügelspielern orientieren?
Zudem wuchs mit jedem der unsicheren Aufbaumomente Hamburgs der taktikpsychologische Vorteil der Störche.
Einordnung
Dass dieses Duell kein normales Zweitligaspiel darstellte, sollte nicht erst nach diesen Ausführungen deutlich geworden sein. Beide Mannschaften fielen durch ihren jeweils ziemlich ungewöhnlichen Stil auf. Beide bilden auf unterschiedliche Art und Weise besondere Staffelungen in der ersten Aufbaulinie. Beide pressen auf unterschiedliche Weise riskant unter Nutzung vieler Mannorientierungen. Dadurch entstand ein bisweilen wildes Spiel, das dann wiederum doch an kleineren Zufälligkeiten hing.
Der HSV stellte letztlich einen recht passenden Gegner für die Kieler dar, während man dies andersherum kaum behaupten kann. Es wird interessant zu beobachten sein, wie Kiel sich auf seine nächsten Gegner einstellt, von denen letztlich doch keiner so spielen wird wie der HSV.
Aus Hamburger Sicht bleibt fraglich, ob andere Gegner in Hinblick auf ihr Pressing dem Beispiel Kiels folgen werden. Hier kommt es darauf an, die vielen grundsätzlich sinnvollen Bewegungen und Elemente mehr zu einem planvollen Gesamtkonstrukt zusammenzuführen. Das Pressing bedarf hingegen einer etwas grundsätzlicheren Überarbeitung und anderen Ausrichtung. Hier war der HSV unter Christian Titz schon einmal weiter. Der graue Zweitligaalltag beginnt dementsprechend am kommenden Wochenende in Sandhausen schon mit dem Rücken zur Wand.
6 Kommentare Alle anzeigen
Doms 25. Juni 2023 um 20:41
Finde es sehr spannend, wie Walter an seiner Philosophie festhält. Sowohl die Aufbaurochaden als auch das fast zwanghafte flache und variable herausspielen, macht Hamburg in der 2. Liga zu einer in fast jedem Spiel spielerisch überlegenen Mannschaft, dürfte aber eben auch der Grund sein, warum der HSV nicht aufgestiegen ist. Gegen ein gutes Pressing wird die Spielweise nämlich schnell ihre Grenzen aufgezeigt. Fand es im Pokal sowohl gegen Leipzig als auch im Vorjahr gegen Freiburg deutlich zu sehen.
Finde es dennoch inspirierend, wie am schönen Fußball festgehalten und vor Innovationen nicht zurückgeschreckt wird, selbst wenn er nicht zum Erfolg führt. Wenn man beachtet, was in Großteilen der ersten und zweiten Bundesliga sonst für einen -sorry für die Ausdrucksweise- Rotz gespielt wird. In der zweiten Liga hatten sonst meines Wissens nach nur Paderborn und Magdeburg (und Pauli unter dem neuen Trainer?) überhaupt auf Ballbesitzfußball gessetzt. Bezeichnend dafür ist dann Heidenheim Meister geworden… Scheint so, als hätte der Ballbesitzfußball in den physisch starken und taktisch disziplinierten Mann gegen Mann verteidigenden Mannschaften seinen Nemesis gefunden, obwohl eben gerade die Variabilität dagegen doch der Schlüssel sein sollte.
Meint ihr, die Spielidee passt einfach nicht zum Spielermaterial von Hamburg oder grundsätzlich nicht in die 2. Liga?
Meiner Meinung nach kann und soll gerne an dem Stil festgehalten werden, wenn die wahrscheinlich ursprüngliche Idee des nicht ausrechenbaren Fußballs aufgrund der starren Prinzipien eben doch so ausrechenbar wäre..
Koom 26. Juni 2023 um 09:57
Schwierig. Ich denke, der Weg von Walter ist durchaus richtig, aber sehr schwierig und mutig. Der HSV wird weiterhin in jedem Spiel als Favorit auftreten, wird dadurch viel Ballbesitz haben und er muss in der Lage sein, damit gut umzugehen. Im Grunde läuft das auf ähnlicher Basis wie der FC Bayern das lange gemacht hat, bis zur Flick- und Nagelsmannphase, die beide eher Schnellangriffe bevorzugen. Und am Ende fehlte die Kontrollbasis, um das sinnvoll betreiben zu können. Für Schnellangriffe ist die Grundlage eine flotte Ballgewinnung. Die war nicht mehr gegeben.
Es gilt, das ganze nochmal etwas besser zu machen als im vorigen Jahr. Vielleicht 1-2 passende Spieler dazubekommen, manchmal etwas „dreckiger“ oder kaltschnäuziger werden. Und dann auf Platz 1 oder 2 direkt aufsteigen, anstatt sich gegen einen individuell überlegenen Gegner, der mit der heißes-Messer-Taktik gegen die eigene Butter antritt sich die erwartbare Niederlage zu holen.
tobit 16. September 2018 um 00:18
Hat jemand die letzten Zweitligaspieltage verfolgt? Hat sich an den Aufbau-Schemata was verändert (besser/schlechter/anders)? Wird jeweils überhaupt an konstruktivem Fussball festgehalten?
August Bebel 9. August 2018 um 21:44
Die Kieler Aufbauvariante mit dem aufrückenden Innenverteidiger finde ich sehr interessant, denn ich hab zuweilen den Eindruck, dass durch allzu statisches und vorsichtiges Spiel der Innenverteidiger in Ballbesitz Potenzial brach liegen gelassen wird. Wenn ich mich nicht irre, bewegt sich Vogt bei Hoffenheim ja auch schon mal etwas freier, da allerdings in einer Dreierabwehr. Vielleicht ist es dadurch besser abgesichert?
Schön, dass auch die 2. Liga Beachtung findet, denn da der FC abgestiegen ist, muss ich da jetzt informiert sein. Und gerade bei diesem Spiel und Ergebnis hab ich mich schon gefragt, was da wohl genau passiert ist. Insgesamt ein cooler Artikel, vielen Dank!
tobit 19. August 2018 um 20:15
Das habe ich so bisher nur einmal derart systematisch gesehen. Das war eine Phase in einem Gladbachspiel (prä-Hecking), wo Christensen zwischen IV und 6 und Stindl zwischen 6 und 10 wechselten. Formation war da defensiv 4-4-2, offensiv 3-4-1-2. Vogt ist da (finde ich) nochmal etwas anders gelagert, da er fast nur im tiefen Aufbau mal vor den Halbverteidigern spielt um Baumann einbinden zu können (#Aufbauraute).
Die IV ist (taktisch) wohl die einerseits dogmatischste und andererseits die taktisch unbeachtetste Feldspielerposition. Der IV soll (einfach gesagt) hinten dicht machen und gefälligst keine Fehler machen oder Risiken eingehen (das gelegentliche Kopfballtor ist dann Bonus). Wie er das macht, ist letztlich (fast) allen ziemlich egal.
Coach Carter 7. August 2018 um 10:35
Vor allem Kiel’s Variante zur Schaffung einer Dreierkette im Spielaufbau (Zentral Hinten rückt auf) finde ich hoch interessant und hatte ich so noch nicht auf dem Schirm. Ich sah hier bisher immer das Aufrücken eines Außen Hinten inkl. breitem Auffächern des entsprechenden Zentral Hinten (hatte z.B. Tuchel beim BVB mit Schmelzer hoch und Hummels breit zeitweise praktiziert) als beste Lösung an.
Dem klassischen 6er kippt zwischen Zentral Hinten ab und diese fächern etwas auf, konnte ich aufgrund fehlender Besetzung mit Ball und vor allem nach Ballverlust noch nie etwas abgewinnen. Seht ihr das genauso oder entgeht mit hier ein großer Vorteil (dass es relativ einfach anzuwenden ist, ist mir bewusst 😉 )?
Und seht ihr noch weitere Vorteile von Kiel’s Aufbau-Dreikette gegenüber der Tuchel Variante neben einer starken Besetzung im 6er oder, bei entsprechender hohen Positionierung der 6er, im 10er Raum?