Türchen 13: Francisco Gento

Als Real Madrid in den 1950er Jahren über die Spielfelder hinwegfegt, schaut das Publikum stets auf Puskás und Di Stéfano. Doch hin und wieder zieht ein flinker Flügelstürmer die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Sein Name: Francisco „Paco“ Gento.

Aufgewachsen in der Nähe von Santander unternimmt Gento seine ersten fußballerischen Schritte bei kleineren Klubs aus der Region, bevor er 1952 im Trikot von Racing Santander in der Primera División debütiert. Bereits nach zehn Einsätzen – und noch reichlich grün hinter den Ohren – nimmt ihn Real Madrid unter Vertrag.

2015-12-13_Madrid-Frankfurt_1960-Grundformationen

Real Madrid gegen Eintracht Frankfurt im Finale des European Cup 1960

Umgehend steht der schmächtige Flügelflitzer aus Kantabrien bei den Blancos auf dem Platz und wird Teil der zu dieser Zeit nur schwer aufzuhaltenden Offensivmaschinerie. Aufgrund seiner Herkunft und seines dynamischen Spielstils nennt man ihn bereits in jungen Jahren „La Galerna del Cantábrico“. Er weht wie der kalte Nordwestwind.

Wasserträger der Stars

Nicht nur die spanischen Beobachter erleben diese teils unwirkliche Qualität, die Real Madrid in jenen Jahren aufweist, mit. Die Einführung des European Cup im Jahr 1955 stellt eine Zäsur internationalen Ausmaßes dar, die für den stolzen Klub aus der spanischen Hauptstadt einen Siegeszug sondergleichen einleitet. Bis 1960 bleibt Real Madrid in diesem Wettbewerb unbezwungen und gewinnt den Titel fünfmal in Folge. Das letzte Endspiel gegen Eintracht Frankfurt, ein 7:3 gegen ein bis heute unterschätzten Gegner, stellt den Höhepunkt dieser Ära dar.

Es ist nicht nur der Zenit im Schaffen der beiden zentralen Offensivspieler Ferenc Puskás und Alfredo Di Stéfano, denn auch jüngere Akteure wie Gento oder Spielgestalter Luis del Sol kommen bei den Lobeshymnen nicht zu kurz.

Vorrangig überzeugt Gento mit seiner außerordentlichen Geschwindigkeit, die er sowohl über längere Distanzen als auch beim kurzen Beschleunigen erreicht. In einem taktischen System mit einer offensiven Vierer- oder Fünferreihe ist er in der Regel der linke Angreifer, der aber nicht nur geradlinig die Außenbahn entlang läuft.

„Gento war so schnell, es war schon witzig. Zunächst lachten die Zuschauer über diesen Spieler, der immer aus dem Feld rausrannte und dabei in den Absperrzaun hinter der Torauslinie stürzte. Di Stéfano beschwerte sich, dass er zu schnell war. Er sagte den Mitspielern, besonders Rial, sie sollten den Ball nicht zu rasch in den Raum vor Gento spielen. ‚Ich rief: ‚Stop, stop“, erinnert er sich. Der Grund war simpel: Der Rest des Teams kam nicht hinterher.“ (Sid Lowe, Fear and Loathing in La Liga: Barcelona vs Real Madrid, 2013.)

Retrospektiv wirkt Gentos Verhalten auf dem Rasen womöglich zu wirr, zu ballverliebt, zu egozentrisch. Insbesondere in der Nähe der Seitenauslinie prägt ihn eine Kopf-durch-die-Wand-Mentalität. Er verwickelt seinen Manndecker selten in einen Zweikampf. Mit Vorliebe legt er sich den Ball simpel vor und überläuft seinen Gegenspieler. Aufgrund seines Tempos ist ihm dies auch möglich, aber er findet sich häufig in der Nähe der Eckfahne wieder – abgeschnitten vom Kontakt zu den restlichen Offensivspielern, wenn sich nicht ein Madrilene umgehend in seine Richtung bewegt. Überlegenheit mündet in Gentos Fall nicht selten in Marotte.

Diese wilde Spielweise verursacht folglich eine unsaubere, missverständliche Ballführung. Und beeinflusst maßgeblich den Passrhythmus, sofern sich Gento direkt an der Zirkulation beteiligt und diese nicht selten auch verzögert.

„Gento hatte einen großartigen Schuss. Aber er war manchmal sehr ungenau. So erschrak er die Vögel in den Bäumen um den Trainingsplatz herum und konnte nachher den Ball nicht mehr wiederfinden. […] Aber unser Spiel war sehr einfach. Wir wussten, dass wir mit Gento das schnellste Ding auf zwei Beinen auf dem linken Flügel hatten.“ (Ferenc Puskás)

Es klingt wie die Geschichte eines eindimensionalen Läufers, der sich für eine Karriere als Fußballer entscheidet, weil die olympischen Laufdisziplinen weniger Ruhm und Entlohnung versprechen. Ein Irrtum.

Gento_Francisco

Gentos Goalimpact Chart

Denn die Besonderheit dieses spanischen Ausnahmespielers ist dessen Flexibilität und geistige wie körperliche Beweglichkeit. Er beschränkt sich keineswegs auf die erwähnten Fähigkeiten und seine Dominanz auf der Außenbahn, sondern beteiligt sich regelmäßig am Kombinationsspiel im Zentrum. Verdichtete Spielsituationen verändern Gentos Art.

Er verhält sich plötzlich viel ruhiger und überlegter. Er versucht selten mit der Brechstange hinter die Verteidigungslinie zu gelangen. Hingegen bevorzugt er kürzere Vorlagenpässe, um seine Mitspieler einzubinden. Gento wird zum Spielgestalter – und das trotz der angesprochenen Unsauberkeiten.

Dass er zudem über eine außerordentliche Reaktionsfähigkeit verfügt, die ihm sowohl bei eigenen Aktionen als auch bei Reaktionen auf den Gegner einen Vorteil verschafft, macht Gento zu einem außergewöhnlichen Spieler seiner Epoche. Diese hohe Aktionsrate und phasenweise hyperaktive Art führen zu seinem großen Einfluss auf das Spiel der Madrilenen.

„Ich wurde von Seguer, ihrem Außenverteidiger, gedeckt und er verfolgte mich schweißgetränkt. In einem Moment stoppte er vor mir und sagte: ‚Hörst du auch irgendwann mal auf, Kumpel?'“ (Gento über sein erstes Spiel gegen den FC Barcelona)

Leiter der königlichen Rockband

Gento tritt bereits während der Di-Stéfano-Puskás-Ära aus dem Schatten dieser sagenumwobenen Stars. Schon ab 1962 übernimmt er das Kapitänsamt bei Real Madrid. Als dann Di Stéfano 1964 die spanische Hauptstadt im höheren Fußballalter verlässt, dirigiert Gento das so genannte Yé-yé Team.

Der Veteran ist nun die Führungsfigur für viele jüngere Spieler wie José Araquistáin, Amancio Amaro, Pirri oder Fernando Serena. Diese Generation an Real-Madrid-Spielern trägt nun die Haare länger und wirkt wilder als ihre Vorgänger. Statt königlicher Mondänität herrscht nun der Rhythmus aus dem Beatles-Song „She Loves You“.

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Francisco Gento am 11. Oktober 1967, von Nationaal Archief, Den Haag, Rijksfotoarchief: Fotocollectie Algemeen Nederlands Fotopersbureau (ANEFO), 1945-1989. Das Bild ist unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported lizensiert. Quelle hier.

Real Madrid setzt in dieser Phase nicht auf Ausländer, die man aus diversen Teilen der Welt zusammenkauft. Man hat fast ausschließlich spanische Spieler unter Vertrag, die in den 1960ern nur einmal den spanischen Meistertitel nicht erringen. Auf europäischem Parkett hingegen können die Blancos nicht an die Erfolge früherer Jahre anknüpfen, krönen sich aber zumindest 1966 nochmals zum Champion im European Cup – ausgerechnet in jenem Jahr, als sie sich dem Stadtrivalen Atlético in La Liga geschlagen geben mussten.

Es war für Gento, der 1971 seine Karriere beendet, die Krönung, als er den alten Henkelpott in die Höhe stemmen und ins Vereinsmuseum verfrachten kann. Zudem beginnt anschließend für die Fans von Real Madrid eine lange Durststrecke in der Königsklasse, die erst über dreißig Jahre später endet. Somit bleibt der Erfolg von Gento und den jungen Wilden lange in Erinnerung.

Er persönlich stellt in jenen Jahren unter Beweis, wie variabel er im taktischen System agieren kann. In vielen Partien mischt er seine Linearität mit einrückenden Bewegungen – fernab des Balls, um direkt im Zehnerraum anspielbar zu sein. Doch genauso zieht er von außen nach innen. Meist im äußeren Bogen. Sprich: Er nimmt den Ball auf der linken Seite mit dem linken Fuß auf und umläuft den Block. Selbiges tut er mit seinem rechten Fuß von der anderen Außenbahn aus.

Im fortgeschrittenen Fußballalter versucht Gento mögliche Isolationen und unstrukturiertes Vorgehen in seinem Spiel zu vermeiden. Dafür setzt er wiederum gezielt auf seine Passqualität, bespielt Lücken im Zwischenlinienraum und wechselt den Angriffsrhythmus bewusst. Es ist weniger ein Eigenfokus, der ihn auszeichnet. Vielmehr wird Gentos Spielweise über die Jahre hinweg zunehmend rationaler.

Nichtsdestotrotz lässt er es sich nicht nehmen, die eine oder andere Hacken- und Fersenablage zu zeigen. So wird der schmächtige Lockenkopf aus dem Norden Spaniens als Gesamtpaket zu einem der stärksten Spieler in der Geschichte eines Landes voller herausragender Fußballer. Gerade auf der Flügelposition kann ihm nahezu keiner das Wasser reichen.

king_cesc 19. Dezember 2015 um 13:12

https://twitter.com/footballiaweb/status/678182581964316673

hier finden sich 20 spiele von ihm

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wewew87 16. Dezember 2015 um 19:51

Das Videomaterial aus einem Spiel der Saison 61/62 gegen Benfica ist absurd. Es wirkt manisch, wie er ständig die Richtung wechselt, sich den Ball einmal sogar mehr als 20 Meter, und damit sowohl am gegnerischen Außenstürmer als auch dem Außenverteidiger, die in etwa 5-10 Meter trennt, vorlegt, um das Leder unerwarteter Weise noch zu erreichen, und ansatzlos eine Flanke (teilweise ins nichts) zu schlagen, oder versucht, den gegnerischen Torhüter in aussichtsloser Situation zu überlupfen. Man wird den Gedanken nicht los, er spiele gerade Mariokart, habe den Stern erwischt, und seine Fahrkünste entsprechen seinem Tempo nicht. Bale, Costa oder Aubameyang erscheinen im Vergleich dazu wie Van Buyten. Würde er es heutzutage der gegnerischen Mannschaft unmöglich machen, mit hoher Abwehrkette zu verteidigen?

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Schorsch 13. Dezember 2015 um 20:36

Es ist schon merkwürdig mit manchen Spielern und der persönlichen Einschätzung, Da schwingt schon bei aktuellen Kickern einiges an Subjektivität mit und wenn die Erinnerung da noch einiges verklärt oder überdeckt, dann verstärkt sich diese ‚gefärbte‘ Bewertung noch.

Witzigerweise ist mir dies gerade vor einigen Tagen mit Francisco Gento so gegangen. Als ich den Artikel über Coluna gelesen habe, fiel mir ein Foto in einem Fußballalbum von 1966 ein. Dieses Album hat in unserem Bücherschrank die Jahrzehnte überdauert und in manchen nostalgischen Momenten greife ich es mir heraus. Wie eben vor einigen Tagen; das Foto war schnell gefunden. Beim Blättern fiel dann mein Blick auf ein anderes Bild, und zwar vom Endspiel um den Europapokal der Landesmeister 1966. Am Anstoßpunkt tauschten die Spielführer die Wimpel. Milutin Šoškić von Partizan und Francisco Gento von Real. Spontan waren meine ersten Gedanken bei Šoškić, bei seiner Zeit beim EffZeh. Dass er ein sehr guter Keeper war, der eine sehr schwere Verletzung erleiden musste und der EffZeh deshalb beinahe abgestiegen wäre. Erst dann dachte ich ein wenig über Gento nach, damals ein Weltstar. Dass er eigentlich auch ein Kandidat für den Adventskalender sei. Aber dann kam das Gefühl in mir auf, das ich damals als Kind wahrscheinlich schon hatte und was sich im Laufe der Jahrzehnte noch verstärkt hat. Er war halt ’nur‘ der letzte Große aus einer großen Mannschaft, in der die übergroßen Di Stéfano und Puskás alles überstrahlt haben. Diese kindliche Empfindung hat sich gehalten und sogar noch verstärkt und eine sachlich-analytische Betrachtung dieses exzellenten Spielers bei mir verhindert.

Umso besser, dass dieses Adventstürchen mir die eigene Unzulänglichkeit wieder einmal vor Augen geführt hat. Man lernt halt nie aus… 😉

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a_me 13. Dezember 2015 um 13:24

Hi, ich verstehe das GI-Diagramm nicht ganz. In diesem noch recht aktuellen Post von Goalimpact taucht Gento auf, aber mit geringerem Peak: (179,5 – immer noch weltklasse, aber doch deutlich geringer als hier) http://www.goalimpact.com/2015/11/top-100-all-time.html )

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Goalimpact 13. Dezember 2015 um 20:50

Der in der Tabelle angegebene Peak ist der nach Beendigung der Karriere. Also ungefähr der letzte Peak-Wert (obere Kurve) im Diagramm. Die höhere Einschätzung während der Karriere hat sich durch (etwas) schwächer als erwartete Leistung in der Spätphase der Karriere verringert.

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Goalimpact 13. Dezember 2015 um 11:09

Danke! Gerade solche Portraits von Spieler deren einstige Ruhm nicht im vollen Maße in der heutige Zeit erhalten ist, liebe ich.

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