Leverkusen triumphiert im Kompaktheits-Chaos
Die 10. Runde der Fußball-Bundesliga hatte ein besonderes Duell zu bieten. Leverkusen traf auf den VfB Stuttgart. Interessant wurde das Ganze durch die jeweiligen Trainer an der Seitenlinie, die bekanntermaßen einen ähnlichen Spielstil bevorzugen. Im Vorfeld der Partie, sprach vor allem Roger Schmidt seinem Gegenüber ein großes Lob aus. Das Duell gegen seinen Ex-Klub Red Bull Salzburg in der Sommervorbereitung gab Schmidt bereits einen Vorgeschmack darauf, wie so ein Duell aussehen kann.
Beide Trainer zeichnen sich durch eine sehr kompakte Spielanlage aus, welche das Ziel hat den Gegner so schnell wie möglich unter maximalen Druck zu setzen. Dabei setzen sowohl die Leverkusener als auch die Stuttgarter auf kluge Bogenläufe, um den Gegner in die gewünschten Räume zu lenken. Dass dann die ballferne Seite üblicherweise verwaist zurückgelassen wird, ist beiden Trainer bewusst, will man doch durch ausreichenden Druck jede konstruktive Spielverlagerung des Gegners vermeiden.
Ultrakompaktheit der beiden Teams gleicht sich in erster Halbzeit aus
Beide Teams hatten jedoch, im Vorfeld der Partie, schwere Verletzungssorgen. Bei den Gästen waren Ginzcek, Kostic, Gentner, Kruse und Langerak nicht einsatzfähig. Roger Schmidt musste gegen die Schwaben auf Aranguiz, Bender, Jedvaj und Hilbert verzichten. Christoph Kramer war nach seiner verletzungsbedingten Auswechslung gegen den AS Rom zumindest wieder auf der Bank, ansonsten fiel fast das gesamte zentrale Mittelfeld aus. Die Leverkusener reagierten darauf mit Kampl und Calhanoglu, welche die letzten Wochen fast durchgehend eine Reihe höher, auf der „Zehn“ spielten. Die Zehn hingegen wurde von Admir Mehmedi und Julian Brandt bekleidet, womit für Kießling der Platz neben Chicharito im Sturm frei wurde. Zorniger reagierte auf seine Ausfälle mit einer kleinen formativen Umstellung.
Was von Sky als Raute angekündigt wurde, entwickelte sich – vor allem im Spiel gegen den Ball – zu einem 4-3-3 mit Werner, Didavi und Harnik an vorderster Front und Rupp, Schwaab und Gruezo dahinter. Damit vollzog auch Zorniger, den Wandel vom Red Bull’schen 4-2-2-2, zu einem orthodoxeren 4-3-3. Ralf Rangnick hatte letzte Woche schon Ähnliches mit Leipzig gemacht. Didavi agierte hier jedoch nicht wie ein klassischer Neuner, sondern stieß im Pressing aus dem Zehnerraum vor, um die Leverkusener mit seinen Bogenläuen auf die Seite zu leiten. Die Leverkusener hatten anscheinend auch einen groben Aufbauplan, um dem Stuttgarter Pressing zu entkommen. Waren die Läufe der beiden Stürmer in den vergangenen Spielen oft weiträumig ausweichend und kaum eingebunden, so konnte man gegen den VfB oft sehen, wie die Stürmer mithilfe der Zehner das Zentrum massiv besetzten und dabei zu Viert eine kompakte Angriffsreihe bildeten, welche dann aus dem defensiven Halbraum oder Flügel diagnonal gesucht wurde. Damit kam man einerseits gut hinter die Sechser des Gegners, andererseits konnte man mit den diagonalen Bällen auch gegen die Verschiebemechanismen des Gegners agieren und die Bogenläufe der Stuttgarter aushebeln. Leider kamen die Leverkusener nur sehr selten zu einem solch geordneten Spielaufbau.
Als Reaktion auf die hochstehenden Stuttgarter, bevorzugte Kapitän Toprak den leichten Flugball zwischen die Linien des Gegners. Diese leichten Lobs waren jedoch nur äußerst selten erfolgreich und so kam Leverkusen kaum strukturiert in das letzte Drittel. Die Hochbälle mündeten jedoch konsequent in einem Kampf um den zweiten Ball, der erwartungsgemäß bei einem Duell Schmidt – Zorniger unheimliche Intensität besaß. Dabei konnte man beobachten, dass beiderseits die Pressing- und Gegenpressing-Schemen gut durchdacht und strukturiert sind, weshalb die vielen Ball-gewinn und –Verlust Situationen in der ersten Halbzeit oft in einer Pattsituation endeten.Bis zum Pausentee konnten beide Mannschaften jeweils zwei Mal Unsauberkeiten des Gegners ausnutzen, um Chancen zu kreieren. Dabei handelte es sich meist um misslungene Rausrückbewegungen bei horizontal schnell ablaufenden Angriffen, bei denen zwei Spieler gleichzeitig aus der Kette herausrückten und die Absicherung dahinter nahezu vollständig aufgegeben wurde. Trotzdem ging es mit einer leistungsgerechten Nullnummer in die Halbzeit, in der Trainer Zorniger beschloss das Gleichgewicht der Partie auf die Probe zu stellen.
Zorniger greift in das Äquilibrium ein
Bis dahin fokussierten die Stuttgarter ihre Angriffe fast ausschließlich auf ihre linke Seite – von dort hatten sowohl Harnik als auch Werner und Didavi immer wieder ausweichende Läufe in den Rücken von Sebastian Boenisch, der auf ungewohnter Position wohl als eine Art Schwachstelle ausgemacht wurde. An Gruezo lief das Spiel größtenteils vorbei. Im Vergleich zu seinem halbllinken Pendant Lukas Rupp, agierte er viel passiver und sorgte für eine Asymmetrie im Anlaufverhalten der Schwaben. Vielleicht auch aus diesem Grund, wurde er von Zorniger zur Halbzeit ausgewechselt.
Für ihn kam der 18-järhige Ferati, der seine Position gleich viel offensiver interpretierte. Seine Grundpositionierung und Rausrückbewegungen waren von Beginn an weiträumig nach vorne ausgerichtet und teilweise wild. Es gelang ihm zwar die Leverkusener über seine Seite öfter unter Druck zu setzen, in Kombination mit der hohen Positionierung Rupps öffnete er jedoch auch sehr viel Raum hinter sich, welchen Schwaab nicht stopfen konnte. So gelang es Kampl folgerichtig immer öfter in den linken Halbraum zu stoßen und von dort aus eine Verbindung zum sehr beweglichen Mehmedi herzustellen, der im Laufe der zweiten Halbzeit dementsprechend noch wichtig werden sollte. Viel bedeutender war Ferati jedoch im offensiven Umschaltmoment, bei dem er oft als zusätzlicher Stürmer auf den Konter „zockte“. Dabei war es keineswegs so, dass der 18-jährige seine Defensivaufgaben vernachlässigte und bei Ballverlust stehen blieb, vielmehr war es der Dynamik des Spiels geschuldet, welches oft pingpongartig hin und her ging. Ferati gelang es nicht seine Anlaufbwegungen entsprechend einzubinden. Zunächst war die Einwechslung von Ferati jedoch ein Segen für den VfB, der dadurch innerhalb von wenigen Minuten, drei Tore erzielen konnte.
Dabei fiel das 0:1 aus Leverkusener Sicht erneut nach einem Defensivstandard, welcher sich mehr und mehr zur Achillesferse der Leverkusener entpuppt. In der 55. Minute half Ferati dabei einen kleinräumigen Stuttgarter Angriff vom Einwurf in den Strafraum zu tragen und das 2:0 durch Didavi zu ermöglichen. Vor dem 3:1 ging es dann so weit, dass Didavi und Ferati die Position tauschten und Letzterer als zentraler Spieler der vorderen Pressingreihe agierte. Toprak griff wie so oft auf einen sanften Lobpass zwischen die Linien zurück, der zu einem Kopfballduell zwischen Baumgartl und Stefan Kießling führte, den der junge Stuttgarter für sich entscheiden konnte. Kampl und Calhanoglou rückten in weiterer Folge gemeinsam nach vorne, um einen Konter zu verhindern, wobei Hakan Calhanoglou im Gegenpressing-Versuch unglücklich ausrutschte und damit den gesamten Sechserraum entblößte.
In weiterer Folge entglitt beiden Trainern das Spiel komplett. Die kompakte Spielanlage wurde für beide Teams ein Spiel mit dem Feuer, das unkontrollierbare Hin-und-Her machte es beiden Teams fast unmöglich die ballferne Spielseite unter Kontrolle zu halten. Normalerweise wird das durch strukturiertes Anlaufen und geschickter Nutzung der Deckungsschatten erreicht, doch ab der 60. Minute war davon nichts mehr zu sehen. Die Spieler agierten nach wie vor extrem kompakt, der ballferne Flügel sowie der der Halbraum waren jedoch großenteils entblößt.Es folgten sieben wilde Minuten, in denen beiden Mannschaften extrem torgefährlich wurden. Die großen Räume führten auch auf beiden Seiten zu ausgeprägtem „Zocken“ der einzelnen Spieler auf den nächsten Konter, was dem Spiel nicht gut tat.
Schmidt reagiert vor Zorniger – und das gut
Roger Schmidt ließ sich das Ganze jedoch nicht lange gefallen und brachte in der 67. Minute Papadopoulous für Ömer Toprak. Ob dies einfach der Erschöpfung Topraks geschuldet war, oder doch taktische Überlegungen dahinter standen, ist nicht überliefert. Dem Leverkusener Spiel tat dieser Wechsel jedoch sehr gut. Mit Tah und Papadopoulous wurde Leverkusens Restverteidigung um einiges stabiler. Topraks Spieleröffnung war gegen Ende nur mehr ein Hemmschuh gewesen, welcher Leverkusen in dieser chaotischen Phase immer wieder in die Bredouille brachte.
Nach dem Wechsel agierten die Gastgeber mit ihren hohen Bällen viel weiträumiger und suchten vermehrt die letzte Linie sowie den Raum dahinter. Damit konnten sie das Chaos für sich nutzen und den Gegner in seiner Hälfte festnageln. Man spürte, wie die Mannschaft von Roger Schmidt immer mehr das Heft in die Hand nahm und Stuttgart weitesgehend abmeldete. Ballverluste wurden vom Gegenpressing besser abgefangen, wobei hier Papadopoulous‘ herausrückende Läufe einen großen Anteil an der Leverkusener Stabilität hatten. Der Anschlusstreffer von Boenisch nach kurz ausgeführter Ecke schien dem Spiel schließlich die Wende zugunsten der Heimmannschaft zu geben. Zwei Minuten später konnte man nach Durchbruch von Mehmedi über links – im Rücken von Arianit Ferati – durch Chicharito den Ausgleich erzielen.
Bayer 04 konnte in weiterer Folge das Spiel komplett dominieren, während die Stuttgarter im unsauberen Chaos-Modus stecken blieben. Zorniger blieb das auch nicht verborgen, weshalb er nach 79 Minuten den jungen Ferati nach 34 Minuten wieder auswechselte um das Unentschieden zu halten – wahrscheinlich kam dieser Wechsel jedoch zu spät. Die Heimmannschaft konnte den ballfernen Flügel – vor allem in Person von Admir Mehmedi – komplett dominieren, während die Stuttgarter mit den Kräften immer mehr an Grenzen stießen. Es war schließlich auch Mehmedi, der nach Ballgewinn und darauf folgender Spielverlagerung von Calhanoglo den umjubelten Siegtreffer zum 4:3 erzielen konnte.
Fazit
In der ersten Halbzeit konnte man noch sehen, dass beiden Mannschaften unrecht getan wird, wenn man sie als chaotische Pressing- und Laufmaschinen abstempelt. Die Kompaktheit führte, gepaart mit den richtigen Absicherungsmechanismen, aber rasch zu einer Pattsituation, welche erst von Alexander Zorniger auf die Probe gestellt werden musste. Die Einwechslung des jungen Ferati sorgte für ein ein Wechselbad der Gefühle auf Seiten der Stuttgarter. Zornigers Gegenüber Roger Schmidt reagierte seinerseits auf die verlorene Balance, indem er Papadopoulous für den schwachen Kapitän Toprak brachte und das Spiel so noch zu seinen Gunsten entscheinden konnte.
4 Kommentare Alle anzeigen
Diemachtvomrhein 26. Oktober 2015 um 15:47
Völlig außen vor bleibt unverständlicherweise ein Hinweis auf die spielentscheidende Rolle des für einen unauffälligen Julian Brandt gekommenen, in den letzten Wochen ungewohnt blaß gebliebenen Bellarabi:
Das erste Tor macht er nach seiner Einwechslung umgehend selbst, bereitet das zweite mustergültig vor, hat zwischendurch einen Torschuß und eine tolle Vorlage auf Chicharito vorzuweisen, bevor er den vorletzten Ball zum entscheidenden Tor auf Calhanoglu spielt.
Der ohne Zweifel spielstarke Mehmedi hat sehr von der Hereinnahme des Rechtsaußen profitiert, da dieser entsprechende Kapazitäten auf dieser Seite zu binden in der Lage war.
Ansonsten saubere Analyse eines von den Standard-Medien lediglich als „chaotisch“ charakterisierten, in meinen Augen eher elektrisierenden Spiels.
SMR 26. Oktober 2015 um 17:37
Stimme Dir zu. Mit Bellarabis Hereinnahme kippte das Spiel, obwohl man fairerweise sagen muss, dass Stuttgart direkt danach danach das 1:3 erzielte und in der Folge sogar noch zwei gute Konterchancen hatte, um das entscheidende 1:4 zu machen. Dass der VfB Mehmedi nicht kontrollieren konnte, wurde gut aber gut herausgearbeitet.
SU 25. Oktober 2015 um 10:47
Klar kann man jetzt hinterfragen ob Zorniger zu spät reagiert hat, andererseits ist das auch sehr problematisch angesichts der angespannten Personalsituation des VfB im zentralen Mittelfeld. Die zwei Stammkräfte Gentner und Serey Dié sind draußen, sodass die zwei Reservekräfte mit Rupp und Gruezo begannen. Zorniger hat wie im Artikel angemerkt die Balance der ersten Hälfte durch die Reinnahme von Ferati durcheinandergebracht – wodurch ja erst einmal das 1:3 entstand.
Die Frage ist aber auch, was er zwischen dem 1:3 und 2:3 hätte machen können. Auf der Bank saß ja nur noch der 19-jährige Ristl als Kraft für das zentrale Mittelfeld. Die einzige Option wäre vielleicht gewesen ihn für Harnik oder Werner zu bringen (Zorniger wird teilweise ja schon für die „Demontage“ von Ferati kritsiert, wie hätte das den ausgesehen und einen moralischen Effekt hinterlassen, wenn er ihn nach 20 Minuten bei einer 1:3 Führung runternimmt?), aber Ristl hat bislang noch nicht gezeigt, dass er reif genug für die Bundesliga ist. Dass der Trainer da nicht unbedingt diese Karte ziehen will mit 25 verbleibenden Minuten ist irgendwie auch nachvollziehbar.
Max 26. Oktober 2015 um 14:28
Man kann doch auch mit dem vorhandenen Personal umstellen, oder nicht?
Zudem wirkte der VfB auf mich auch körperlich am Ende. Ob man dann den frischesten Spieler noch vom Feld nehmen muss?