Vergessene Offensivteams der WM-Geschichte III
Den letzten Teil der Kurzserie bilden drei Teams aus der jüngeren Turniervergangenheit, die wegen ihres frühen Ausscheidens wenig beachtet wurden, aber offensivtaktisch durch eine starke Ausrichtung und schöne Angriffe überzeugten.
Japan 1998
Gruppenphase:
Japan – Argentinien 0:1
Japan – Kroatien 0:1
Japan – Jamaika 1:2
Wirklich überzeugend lesen sich die Zahlen des japanischen Teams von 1998 nicht – nur ein Tor bei drei Niederlagen in der Gruppenphase. Allerdings hatte die Mannschaft vom Ansatz und der grundsätzlichen Anlage her mehr zu bieten, konnte dies aufgrund gewisser Probleme nur nicht konstant in torgefährliches Spiel umsetzen. Bei ihrer ersten WM-Teilnahme lief die japanische Auswahl unter Trainer Takeshi Okada in einer 3-5-2-Formation auf, die in Angriff und Mittelfeld gewohnt emsig interpretiert wurde. Dabei wollten die spielstarken Asiaten ein gepflegtes Ballbesitzspiel aufziehen, das im ersten Drittel aufgrund eines seltsamen Positionsverhaltens aber nur bedingt funktionierte.
Schon in diesen Zonen agierten sie darüber hinaus sehr ambitioniert, was letztlich eher ins Gegenteil umschlug. Manchmal fächerten sie unorthodox auf und spielten zu seltsamen Zeitpunkten beispielsweise genau dann in den Sechserraum, wenn der dortige Akteur gerade isoliert stand, weil der eine Kollege sehr weiträumig umher schob und der andere soeben in die Abwehr zurückgefallen war. Deswegen kam es in jenen Zonen immer wieder zu gefährlichen Ballverlusten, die den Gegner zu guten Möglichkeiten einluden. Erst wenn sie diese Hürde überwunden und sich weiter vorgearbeitet hatten, zeigten sich die Japaner souveräner und konnten ihre Ballbesitzintention dann auch entsprechend umsetzen. Weiter vorne traten zwar immer noch gewisse Störfaktoren auf, wie beispielsweise die gelegentlich zu frühen und situationsunpassenden Halbfeldflanken der Flügelverteidiger oder lange Diagonalbälle der zentralen Defensivspieler, die dann in einer aufgefächerten Formation meistens scheiterten. Phasenweise agierten sie in den Strukturen etwas zu breit und tendierten auch dadurch vor allem dazu, etwas zu wenig raumnutzend zu agieren. Allerdings gab es hier eben auch immer wieder Angriffe, in denen die Japaner ihre beweglich angelegte Offensivabteilung besser ins Spiel bringen und ansehnliche Szenen entwickeln konnten.
Während die beiden Stürmer sich sehr aktiv zeigten und gerne auf die Flügel auswichen, agierten die Mittelfeldkollegen flexibel. Halblinks wirkte beispielsweise Nakata als situativ nach außen driftender Spielmacher und wurde durch den raumflexiblen und vielseitig unterstützenden Nanami sowie den passstarken Sechser Yamaguchi ergänzt. Letzterer brachte einige intelligente Vertikalpässe durch sinnvolle Kanäle auf einen der situativ zurückfallenden Stürmer, von denen beide das kreative Ablagespiel beherrschten. Zwar führten sie diese Aktionen etwas inkonstant und teilweise willkürlich aus, doch leisteten sie mit der Häufigkeit einen wichtigen Beitrag zu den ansehnlichen Offensivbemühungen der Japaner. In diesem Sinne waren nicht nur die 3-5-2-Formation, sondern auch das bewegliche, umtriebige Sturmduo oder die herum driftenden Mittelfeldakteure bereits ein Vorgeschmack auf die Auswahl bei der Heim-WM 2002.
Ein wichtiger Unterschied lag allerdings in der Tatsache, dass die auch dadurch hergestellte Bewegungspräsenz dieses späteren japanischen Teams in den hohen Zonen 1998 noch nicht gegeben war. Hier fokussierten sie sich eher auf das zweite Drittel und rückten in die finalen Bereiche meist nur sehr zurückhaltend auf, was trotz des beweglichen Mittelfelds und der vorstoßenden Flügelverteidiger die Durchschlagskraft minderte. Japan agierte 1998 also taktisch recht geschickt und spielte insgesamt gefällig, wurde daraus aber zu selten gefährlich. Im Verhältnis gehören sie eher zu den schwächeren Teams dieser Kurzserie. Zu ihrer Verteidigung muss man allerdings sagen, dass sie etwas Pech mit der Chancenverwertung und eine enorm schwierige Gruppe erwischt hatten – neben den Argentiniern gehörte auch die große kroatische Generation zu ihren Gegnern, die letztlich den dritten Platz bei diesem Turnier erreichen sollte.
Costa Rica 2002
Gruppenphase:
Costa Rica – China 2:0
Costa Rica – Türkei 1:1
Costa Rica – Brasilien 2:5
Neben Didis ambitionierten Peruanern von 1970 und den verrückten Kolumbianern von 1990 gehört Costa Rica zu den kombinationsstärksten Mannschaften dieser Kurzserie. Dabei zeigten sie dies auch deutlich auf dem Platz und wurden trotz sogar sehr achtbarer Ergebnisse fast überhaupt nicht wahrgenommen – ein klassischer Fall eines vergessenen Offensivteams. In einer Gruppe mit dem späteren Weltmeister und dem späteren WM-Dritten scheiterten sie nur aufgrund der schlechten Tordifferenz und wurden dadurch für die mangelnde Chancenverwertung in den ersten beiden Partien – gegen die Türkei hatten sie gute Siegchancen – sowie gewisse taktische Defensivprobleme beim 2:5 gegen Brasilien bestraft. Spätestens in diesem Spiel zeigte sich allerdings die Offensivkraft der Costa Ricaner – in nur 90 Minuten schenkten sie dem späteren Weltmeister genau so viele Gegentore ein, wie dieser im kompletten restlichen Turnier zusammen kassierte. Man kann das Team eigentlich gar nicht genug loben.
Unter Trainer Alexandre Guimarães praktizierten sie eine leicht asymmetrische 3-5-2-Formation, in der die beiden Flügelverteidiger etwas ungleichmäßig agierten und dadurch seltene Viererkettenanordnungen verschiedenster Art herstellen konnten. Offensives Kernstück waren die beiden körperlich präsenten, aber sehr spielstarken Angreifer – Mittelstürmer Wanchope zeigte herausragende Aktionen wie Hackentricks im Mitspielen und Ablegen, was sich ebenso über seinen bulligen Partner Rónald Gómez sagen ließ. Das unterstützend und funktional ausgerichtete Dreiermittelfeld arbeitete den beiden bei ihren Kombinationen zu. Situativ schaltete sich ein beliebiger der ansonsten absichernden hinteren Akteure in dieses Zusammenspiel ein – einer der diagonal gehenden Flügelspieler, der positionsintelligente Wilmer López und gelegentlich sogar ein bis ins letzte Drittel aufrückender Verteidiger wie der spielstarke Martínez oder der wechselhafte Wright.
Zwischendurch wussten sie auch über nachstoßende Läufe der Flügelverteidiger auf den Seiten durchzubrechen oder über sporadische Konter Gefahr zu versprühen, doch weitgehend richteten sich der Fokus, die Flexibilität in den Abläufen und selbst die gelegentlichen Ausweichbewegungen der zentralen Offensivakteure auf die Kombinationen im Zentrum. Insgesamt kamen die Costa Ricaner hier über Vertikalpässe, Ablagen und gute Zwischenraumnutzung mehrfach zu abgestimmtem Zusammenspiel und tollen Angriffen – ob gegen China, die Türkei oder Brasilien. Mit Rolando Fonseca und Winston Parks konnten sie von der Bank zudem stets herausragendes Kombinationspersonal zusätzlich nachlegen. Problematisch war bei den Mittelamerikanern einzig, dass sie gelegentlich etwas vorschnell agierten – also zu früh die Kombinationen auslösten und bei noch unfertigen Strukturen oder zu wenig bereitgestellter Unterstützung schon überambitioniert ins Zusammenspiel einleiteten. Nur selten kam es dagegen vor, dass einzelne Spieler im Aufbau unnötige lange Bälle nach vorne brachten (gelegentlich Marín und wegen seiner Wechselhaftigkeit Wright).
Ein interessantes Randdetail dieses Teams verbirgt sich hinter der Personalie des Trainers, der für dieses Kombinationsspiel verantwortlich zeichnete – Alexandre Guimarães kam ursprünglich aus Brasilien, wurde im nordöstlichen und verarmten Alagoas geboren, ging mit zwölf Jahren nach Costa Rica, verwirklichte dort seine begonnene Fußballkarriere und wurde schließlich in Mittelamerika einer der erfolgsreichsten Trainer der Geschichte. Sein Sohn Celso Borges, ebenfalls Halbbrasilianer, spielt in der aktuellen Nationalmannschaft Costa Ricas eine wichtige Rolle und wird bei der WM 2014 in der Heimat seines Vaters am Turnier teilnehmen können – eine Verbindung wie 2002, als Trainer „Guima“ selbst auf die brasilianische Seleção von Luiz Felipe Scolari traf.
Ghana 2006
Gruppenphase:
Ghana – Italien 0:2
Ghana – Tschechien 2:0
Ghana – USA 2:1
Achtelfinale:
Ghana – Brasilien 0:3
Ghana gehörte bei ihrem WM-Debüt 2006 in Deutschland sofort zu den Überraschungsmannschaften, als sie sich in einer Gruppe mit dem späteren Weltmeister Italien gegen die hoch eingeschätzten Tschechen durchsetzen und als einziges afrikanisches Team in die K.O.-Phase einzogen. Unter ihrem serbischen Trainer Ratomir Dujkovic führten sie ihre 4-4-2-Formation mit enger Mittelfeldausrichtung sehr flexibel und spielstark aus. Mit vielseitigen Bewegungen um den Sechserraum herum konnten sie bereits den Aufbau gegen die damals noch unkompakter auftretenden Pressinganlagen wirkungsvoll stemmen. Ein Merkmal war dabei das Rochieren des Vierer-Mittelfelds, das alles andere als klassisch ausgerichtet war. Während die beiden Sechser immer wieder durch die Halbräume drifteten, vorstießen oder auf den Seiten ankurbelten, rückten die nominellen Außenspieler weit ein. Diese eingerückte Stellung praktizierten sie nicht nur in höheren Zonen, sondern fielen teilweise gar tiefer als die Sechser zurück, um hinter diesen dann Raum für eigene Aktionen zu suchen oder diese abzusichern. Entsprechend dieser Vielseitigkeit wechselte die genaue personelle Besetzung häufig – in jedem Turnier-Match trat Ghana mit einer anderen Aufstellung an. Dabei konnten Allrounder wie beispielsweise Essien, Eric Addo oder der herausragend aufspielende Muntari sowohl die offensive, weiträumige Sechserposition als auch den halbspielerhaft ausgerichteten Flügelposten mit Zentrumsdrang übernehmen.
Aus der Fluidität zwischen den genannten Akteuren entstand eine angenehm zentrumsfokussierte und spielstarke Anlage des ghanaischen Mittelfelds. So konnten sie sich immer wieder mit einzelnen, im richtigen Moment angezogenen Kombinationen samt Ablagen der Stürmer durch die Mitte hindurch spielen. Im erwähnten Angriffsduo agierte Asamoah Gyan ausweichender, höher sowie ein wenig druckvoller und band sich dominanter für vereinzelte Szenen auf etwas unrhythmische Weise in das Kombinationsspiel ein. Dagegen praktizierte der leicht hängend aufgestellte Amoah meistens sehr konstant kleinräumiges Zurückfallen, das sich eher auf die zentralen Verbindungsbereiche des Zusammenspiels konzentrierte, weshalb er auch dauerhafter in diese Szenen eingebunden war. Allein wenn es bei diesen Angriffen um das Spiel direkt an der letzten Linie ging, ähnelten sich die beiden in ihrem jeweils geschickten Verhalten stärker, indem sie sowohl Ablagen liefern als auch mit dem Rücken zum Tor aus schwierigen Lagen direkt gefährlich werden konnten.
Aus dem Zentrum taten sich vor allem Appiah mit seinen einleitenden Vertikalpässen aus etwas tieferen Bereichen, noch mehr aber der teilweise herausragend kombinativ-antreibende Muntari hervor, der immer wieder kleinräumiges Zusammenspiel zwischen zwei bis drei Spielern in der Mitte initiierte. In diesen Angriffen fanden die „Black Stars“ häufig auch einen passenden Rhythmus für das gezielte und druckvolle Ausspielen dieser Szenen, ohne dabei im kollektiven Passspiel überhastet oder unkonkret zu werden. Alles in allem entstanden schon gegen die Italiener im verlorenen Auftaktspiel viele gute Szenen, ehe sich Ghana beim überraschenden, aber verdienten 2:0 gegen die Tschechen mit zwanzig Abschlüssen, schönen Angriffen und einem starken Treffer durch Muntari zum ersten Mal wirklich entfaltete. Beim Achtelfinal-Aus gegen die Brasilianer hatten sie ebenfalls gute Momente und einige herausragende Kombinationen, deren Charakteristiken in der Gesamtheit auch solche verrückten Stellungen wie in der Grafik hervorbringen konnten – so etwas bot eigentlich niemand sonst bei dieser WM.
Alle taktischen Infos zu allen Teilnehmern der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien gibt es in unserer WM Vorschau.
2 Kommentare Alle anzeigen
Guergen 14. Juni 2014 um 02:22
Zwar mit Sicherheit nicht vergessen, sondern damals sehr prominent: Könntet ihr vielleicht mal eine Analyse zur Niederlande bei der WM 98 machen? Das war unsagbar spannend, weil da wegen zig Verletzungen, Sperren, Formschwankungen etc. in quasi jedem Spiel ein anderes Team auflief. Ich erinnere mich da an Späße wie Cocu als Mittelstürmer, sehr asymetrische Flügelspieler (Overmars unglaublich offensiv auf links, R. de Boer eher einrückend auf rechts), ein Spielmacherproblem (die Kombi Jonk/Seedorf/Kluivert versagt im ersten Spiel und wird durch Schattenstürmer Bergkamp und Davids als box-to-box-Spieler ersetzt) usw.
Außerdem eins der geilsten Tore der WM: Bergkamp gegen Argentinien… kleiner Tipp: Bei youtube mal nach dem niederländischen Radiokommentar dazu suchen und hören wie oft der Kommentator „Dennis Bergkamp“ schreien kann.
Ron 12. Juni 2014 um 23:00
Boah danke, dass ihr mich an Costa Rica – Brasilien erinnert! Eines der genial-verrücktesten WM-Spiele, die ich jemals erleben durfte!
Ein Offensivspektakel sondergleichen, das gerne auch 8:8 hätte ausgehen können! Ein Wahnsinnsspiel! Und vermutlich ein Alptraum für jeden Trainer. 😉