Ajax – AC Milan: Von Ballbesitz und Pressing
Das 1:1 zwischen Ajax und Milan sorgt vor allem wegen ihrer Schlussphase für Schlagzeilen, war aber auch taktisch sehr interessant. Es gab zwei unterschiedliche Halbzeiten mit extremen Ausführungen von Ballbesitzspiel und Pressing in verschiedenen Phasen.
Viel Ballbesitz, aber zu unpräsent in der Offensivzentrale
Grundsätzlich hatte man es erwarten können, doch die Ausmaße der Spielbalance waren doch überraschend – die junge Ajax-Mannschaft von Frank de Boer dominierte Allegris angeschlagenes Milan, das aktuell mit Problemen zu kämpfen hat, und sammelte phasenweise 80 % Ballbesitz. Auf das konsequente und breit auffächernde Ballbesitzspiel der Niederländer erhielt Milan mit ihrer abgeflachten Rautenformation (selten wechselten sie in eine zweite Viererreihe) und den etwas seltsam gestaffelten Stürmern kaum Zugriff.
Allerdings wurde diese Extremsituation auch dadurch beeinflusst, dass die Hausherren trotz einiger guter Chancen sich ein wenig schwertaten, konstant aus der ersten Zirkulationsphase nach vorne zu kommen, und daher nur wenig Risiko gingen. Einen Großteil ihres Ballbesitzes verbuchten sie in der Abwehrkette und fanden zu selten in ihr Kombinationsspiel, da sie sich in die Zwischenräume im inneren der Mailänder Formation nicht so ganz hinein trauten.
Weil Poulsen auf der Sechserposition in seinem Bewegungsspiel lange Zeit zu inaktiv agierte und nur gelegentlich recht breit unterstützte, die Innenverteidiger in ihren Möglichkeiten durch Milans Doppelspitze etwas eingeschränkt waren und Fischer eher in die Tiefe der Außenbahn oder des Halbraums zurückfiel, waren die zentralen Bereiche bereits etwas zu wenig besetzt. Auch der junge Lesley de Sa auf dem anderen Flügel hielt bei seinem CL-Debüt zu stark seinen Grundraum und verhielt sich bei den gelegentlich einrückenden Bewegungen zwar intelligent und balanciert im Raum, aber nicht druckvoll, mutig und ballfordernd genug, um konsequente Wirkung auf das Spiel auszuüben und die etwas problematischen Verbindungen in den Halbräumen verbessern zu können.
Ausweichen der Achter zu extrem
Dieser Aspekt war vor allem auch durch die Wechselwirkungen zwischen Außenverteidigern und Achtern bedingt, die sich in ihrem Zusammenspiel zu sehr von der Rautenanordnung bei Milan beeinflussen ließen. Auf der linken Seite war es beispielsweise nach Verlagerungen, bei denen die Mailänder Halbspieler noch nicht ganz herausgeschoben hatten, so, dass Blind meistens etwas in die Mitte dribbelte und sich Duarte nach außen absetzte. Dieses seitliche Ausweichen der Achter war etwas zu unkoordiniert und führte zwar zu einigen Chancen über schnelle Angriffe im Halbraum, verringerte aber auch die Präsenz in der Zentrale.
Ein ähnliches Bild gab es auf der rechten Seite, wo van Rhijn den vielen Platz nach Verlagerungen etwas ungeduldig nutzte. Wenn er – wie aktuell – nicht in bester Form ist, neigt er dazu, unbalanciert und etwas zu vorwärtsgerichtet in der Entscheidungsfindung zu werden, was viele verfrühte Halbfeldflanken bedeutete. Sicherlich war dieses Mittel vereinzelt geplant, da Milan im Strafraum so noch nicht die größte Präsenz aufbauen konnte, während de Jong frühzeitig als zweite Spitze nachschob. Dadurch fehlte dieser aber in den zentraloffensiven Räumen, von wo er ansonsten ohnehin etwas zu viel auf den Flügel auswich.
Ajax spielt das Pressing chaotisch
Für den hohen Ballbesitzwert bei Ajax war aber auch die Art und Weise ihres Pressings entscheidend verantwortlich, bei dem sie überraschend intensiv attackierten. Aus einer grundsätzlich 4-4-2-haften Anordnung zeigten sie viele aktive Herausrückbewegungen, schoben dynamisch in immer wieder neue Anordnungen und nahmen auch chaotische Situationen in Kauf – sie verteidigten so, wie es gerade am besten passte, und versuchten die entstehende Unordnung zu den eigenen Gunsten zu nutzen.
In der Tat wurden Milans nicht sattelfeste Aufbaustrukturen dadurch auf dem falschen Fuß erwischt – de Jong spielte als Sechser fast 25 Minuten lang keinen einzigen Pass, Abate brauchte fast die erste Hälfte der ersten Hälfte für sein erstes erfolgreiches Zuspiel und der links recht breit positionierte Muntari wurde von seinen Kollegen fast nie gefunden. Falls diese Strategie der Amsterdamer einmal nicht klappte, konnten sie Milan immerhin zu sehr direktem Spiel nach vorne verleiten, die Seiten sowie das Halbfeld etwas anbieten und zu vorschnellen Pässen provozieren. Flanken, Hereingaben oder direkte Zuspiele an oder hinter die letzte Linie konnten sie dann meistens – wie es Moisander und Denswil bereits gegen Barcelona gelang – recht einfach antizipieren.
Milan rückt mannorientiert hoch, Ajax mit Stress statt Kontrolle
Nach dem Seitenwechsel wollte Milan mehr Druck machen, wofür sie die beiden Stürmer etwas breiter und höher postierten, um die Zirkulation zwischen Innen- und Außenverteidigern einzudämmen, während Montolivo aufrückte und in die entstandene Lücke zwischen den beiden schob. Allerdings befreite sich Ajax hieraus meistens, indem Moisander oder Denswil kurz nach vorne aufrückten und dann scharfe Pässe in die Schnittstelle zwischen Zehner und Achter zu den aufrückenden Außenverteidigern spielten.
Daher stellte Allegri schon nach kurzer Zeit ein weiteres Mal um und ließ aus der Raute ein mannorientiertes Pressing praktizieren, bei dem die Halbspieler sehr direkt gegen van Rhijn und Blind agierten, während Montolivo konsequent Poulsen folgte. Dieser leistete sich im Laufe der Partie einige Ballverluste, wenn Milans umliegende Akteure sich um ihn zusammenzogen, und war damit Sinnbild für die rapide gesunkene Kontrolle im Aufbau bei Ajax – oft griffen sie unter Stress zu ungenauen langen Bällen oder zu über-ambitionierten Direkt- und Freiraumpässen. So verschob sich der Ballbesitz mehr und mehr in Richtung der Gäste.
Gedrehte Spielbalance
Noch wichtiger als deren eigenes Pressing war für diese Entwicklung allerdings die Art und Weise, wie Ajax gegen den Ball auftrat. Bereits in den letzten paar Minuten des ersten Durchgangs hatte sich Milan vermehrt lösen können, indem sich die Verteidiger gestaffelter positionierten, während Balotelli, Robinho und Montolivo sich überladend zum rechten Flügel bewegten, um über diese Seite vorspielen zu können. Nach der Pause bekam Ajax mit ihrem chaotischen Pressing dann nur noch wenig Zugriff, weil die Kräfte und die Konsequenz nachließen, während Milans Strukturen sich weiter steigerten.
Die Gäste schoben viel Personal in hohe Zonen, um das mannorientierte Ajax zurückzudrücken und sich Aufbauräume freischieben zu können. Beispielsweise agierte Poli halbrechts als sehr hoher Raumblocker, während Muntari hinter den weit vorrückenden Constant herauskippte und die Innenverteidiger situativ vorstießen. So zog sich Ajax wegen des verringerten Zugriffs zunehmend zurück, wurde immer passiver und die Ballbesitzstatistik zeigte in der zweiten Halbzeit ein 56%-Übergewicht zugunsten der Italiener. Die Pressingintensität von Ajax und auf der anderen Seite der Druck, den Milan gegen den Ball aufbaute, waren damit jeweils komplett gegensätzlich zur Situation aus der ersten Halbzeit.
Chancen, Abschlüsse und die Schlussphase
Nachdem die Italiener vor dem Seitenwechsel keinen einzigen Abschlussversuch zustande gebracht hatten, bekam sie nun ihre Szenen – es waren nicht viele, aber die wenigen waren enorm gefährlich. Dabei gab es drei klare Routen: direkte Zuspiele auf den ausweichenden Balotelli, lange Bälle nach halbrechts in die hohe Kompaktheit um Poli oder Durchbrüche zur Grundlinie durch den offensiven Constant, der die passive Flügelverteidigung und die eingerückten Außenstürmer bei Ajax für lineare Vorstöße nutzte, bei denen Muntari ihn absicherte.
Auch Ajax hatte nach dem Wechsel noch seine vereinzelten Chancen, weil de Jong, Duarte und später der eingewechselte Schöne die zentralen Räume viel besser nutzen, so dass sie hier einige Freiheiten vorfanden – nur konnte Ajax diese verbesserten Strukturen während der veränderten Grundbalance des Spiels nur noch selten aus dem Aufbau bedienen. In der Schlussphase kamen sie noch einmal auf – ein Sigthorsson-Treffer nach Doppelchance wurde wegen Schönes Handspiel aberkannt, einen Schuss von de Jong parierte Abbiati gerade noch und die folgende Ecke verwandelte Denswil. Doch Milan warf alles nach vorne – nach einer Constant-Hereingabe rettete van Rhijn gegen Abate auf der Linie, ehe Milan seine Serie von späten Elfmetern fortführte und Balotelli den äußerst diskussionswürdigen Strafstoß verwandelte.
Mutmacher für Ajax: Dortmund erreichte letzte Saison das Finale, nachdem sie am 2. Gruppenspieltag in der Nachspielzeit das 1:1 durch einen strittigen Elfmeter von Balotelli kassiert hatten. Witzigerweise hatte der BVB zuvor gegen Ajax gespielt.
2 Kommentare Alle anzeigen
fluxkompensator 2. Oktober 2013 um 17:37
vielen dank für die schnelle analyse. könntest du das prinzips des „raumblockens“ noch einmal etwas weiter ausführen, bitte?
TR 3. Oktober 2013 um 14:00
Heißt in diesem Fall einfach nur, dass er sehr h0ch schob, seinen Gegenspieler damit nach hinten drückte und so die tieferen Mittelfeldbereiche für seine Kollegen freiräumten, denen somit mehr Platz „offen geblockt“ wurde.