Bayer 04 Leverkusen – VfL Wolfsburg 1:1
Der Tabellendritte Bayer 04 Leverkusen empfing zuhause den VfL Wolfsburg. Spätestens seit dem Amtsantritt Dieter Heckings sind die Wölfe wieder ein überaus unangenehmer Gegner und zeigten es auch in dieser Partie. Es wurde ein Spiel voller Asymmetrien, interessanten Defensivreihen und taktischen Anpassungen.
Flügelspiel einmal anders
Beide Mannschaften griffen nur wenig über die Mitte an. Bei Leverkusen waren es 26%, bei den Wölfen gar nur 22% der Angriffe. Das wirklich Interessante an solchen Statistiken ist aber natürlich immer das Wieso; insbesondere in einem Fall wie diesen, wo es unterschiedliche Ursachen für die Differenz gab.
Bei den Leverkusenern lag es vorrangig an ihrem System. Wie üblich spielten sie in ihrem 4-3-3/4-5-1-Hybridsystem, wo der Angriffsfokus auf schnellen Kombinationen mit André Schürrle und Sidney Sam, den beiden Außenstürmern, lag. Auch die Halbspieler des zentralen Mittelfelds waren dafür ideal gewählt. Lars Bender und Gonzalo Castro sind keine klassischen Sechser oder Achter, sondern spielen sehr box-to-box-artig, sind dynamisch und kombinationsstark.
Ein weiterer Faktor war die Wechselwirkung mit dem Gegner. Die Wölfte spielten unter Hecking einmal mehr mit interessanten Mannorientierungen. Wie schon in der Partie gegen den 1. FC Nürnberg oder wie auch Heckings ehemaliger Verein selbst gegen Schalke wurden gegnerangepasste Manndeckungen oder manndeckungsähnliche taktische Mittel genutzt. In diesem Fall spielte das Mittelfeld der Wolfsburger eng und es gab situative lose Manndeckungen auf den Flügeln.
Oft war es zum Beispiel Linksverteidiger Rodriguez, der sich mannorientiert an Carvajal orientierte und nicht an Sidney Sam. Damit wollte Dieter Hecking wohl die hohe Flexibilität der Leverkusener eindämmen. Insbesondere Sam und Schürrle sollten somit variabel in der Mitte gepresst werden können, während die Außenverteidiger Wolfsburgs tiefer und breiter blieben, um in der Mitte mehr Kompaktheit zu generieren.
Dieses Mittel funktionierte aber nur teilweise. Die Leverkusener überluden dann meist die Halbräume und Flanken mit den aufrückenden Halbspielern, dem Flügelstürmer und dem breitegebenden Außenverteidiger. Besonders der sehr hoch agierende Carvajal wurde dabei genutzt. Er hatte die meisten Ballkontakte in der ersten Spielhälfte von allen Spielern auf dem Platz (insgesamt 48, Innenverteidiger Schwaab kam als Zweiter auf 40). Durch die Überladungen in der Mitte wurden Räume auf dem Flügel frei – dort konnte Leverkusen dann flanken.
Später reagierte Wolfsburg, indem diese Mannorientierungen nicht mehr lose gespielt wurden, sondern sich auf bestimmte Räume begrenzten. Die Wölfe wurden stabiler und ließen weniger Flanken zu – in der ersten Halbzeit waren es fünf, in der zweiten nur eine –, aber hatten dafür in der Mitte mehr Probleme.
Wolfsburg hatte im Gegensatz zu Leverkusen ein klassischeres und konstanteres Flügelspiel. Sie spielten mehr als doppelt so viele Flanken und konzentrierten sich auch darauf. Mit Fagner und Rodriguez hatten sie zwei offensivorientierte Außenverteidiger, auf den Außen spielten mit Debütant Arnold auf links und Makoto Hasebe auf rechts auch zwei Spieler, die sehr breit agierten.
Die Gäste besetzten also beide Flügel breit, bildeten Pärchen und flankten. Statistisch fiel auf, dass fast alle Flanken und die meisten der Angriffe über die rechte Seite kamen; dieser Aspekt lässt sich durch eine taktische Änderung der Leverkusener einfach begründen.
Leverkusens Umstellung und Vor- und Nachteile dieser Spielweise
Zu Spielbeginn presste Leverkusen in ihrem üblichen System: Ein 4-3-3 mit zwei flachen Dreierreihen vorne und mannorientierten Außenverteidiger, um zusätzlich Druck auf den etwas offeneren Außen zu erzeugen. Eine leichte Veränderung gab es beim Herausrücken der Halbspieler. Diese rückten immer wieder aus der flachen Drei im Mittelfeld nach vorne und halfen den Stürmern beim Pressing.
Nicht zufällig war es Lars Bender, der die missglückte Ballverarbeitung des Wolfsburger Innenverteidiger, Kjaer, ausnutzte und das Tor vorbereitete. Der ohnehin bärenstarke Bender bestritt wegen dieser Spielweise und seinen zusätzlichen defensiven Aufgaben enorm viele Zweikämpfe, die er auch oft erfolgreich gestaltete; er gewann in der ersten Spielhälfte fast doppelt so viele Zweikämpfe wie der Zweitbeste auf dem Platz (13:7).
Darum war die Veränderung der Leverkusener Spielweise nach der Führung auch höchst interessant. In der Formation, insbesondere im Pressing, entstand eine Asymmetrie. Schürrle blieb vorne, während sich Sam ins Mittelfeld fallen ließ. Anstatt eines 4-3-3 oder gar eines 4-5-1 mit flacher Mittelfeldfünf spielten die Leverkusener also oft mit einem 4-4-2, in welchem der zweite Stürmer weiter links positioniert war.
Dadurch konnten sie im Konterspiel Schürrle sofort vorne nutzen; er „zockte“ also. Außerdem hatten sie mit Bender und Sam zwei enorm passende Akteure auf der rechten Seite, die bei Kontern schnell und kombinationsstark aufrücken konnten. Dadurch wurde Schürrle offensiv schnell und gut unterstützt. Defensiv wurde Schürrles Loch durch den sehr spielintelligenten und offensiv etwas vorsichtigeren Castro sowie den defensiveren der beiden Außenverteidiger, Sebastian Boenisch, kompensiert.
Die dennoch nicht zu verhindernde defensive Anfälligkeit über diese Seite kann dabei positiv wie negativ gesehen werden. Wolfsburg spielte wie schon erwähnt fast alle Flanken über rechts; allerdings konnte dieses ja bewusst in Kauf genommene formative Loch Leverkusens auch dementsprechend genutzt werden.
Weil Leverkusen den Wölfen eine Seite anbot, bespielten sie diese auch etwas öfter. In bewusst asymmetrisch aufgebauten Formationen hat man den Vorteil, dass eine Seite klar zugestellt wird und man wiederum weiß, dass es die andere Seite nicht ist – und bekanntlich ist der Feind, den man kennt, ungefährlicher. Wolfsburgs Tor kam auch nicht direkt aus diesem Loch, sondern nach einem Standard, was ziemlich gut zu einem phasenweise trägen Spiel passte.
Und sonst?
Tja, was soll man sonst über ein 1:1 sagen, in dem beide Mannschaften je ein Drittel ihrer Chancen nach Standards hatten? Leverkusen fiel durch eine sehr gute erste Hälfte auf, ein phasenweise hervorragendes Gegenpressing und starkes Herausrücken Benders. Wolfsburg hingegen presste im 4-4-2, baute mit zwei Sechsern auf und versuchte mit ihren Mannorientierungen Druck zu entfachen. Anstatt die Fluidität Leverkusens dadurch zu zerstören, wurde sie nur phasenweise neutralisiert.
Ansonsten waren noch die engere Mittelfeldreihe Wolfsburgs und die enormen Aktionsradien vom nach links driftenden Mittelstürmer Ivica Olic und Spielgestalter Diego interessant. Mit den jeweiligen Wechseln der beiden Mannschaften veränderte sich nur wenig im Spielverlauf. Hegeler für Sam brachte keine wirkliche Verstärkung und sollte wohl die Asymmetrie stabilisieren, die Einwechslung von Rolfes für Reinartz brachte nicht die nötige offensive Durchschlagskraft, auch wenn Leverkusen sich in dieser Phase wieder höher positionierte.
Hecking wechselte bei Wolfsburg ebenfalls wenig. Helmes kam für Arnold und Olic ging nach links, um die Schlagzahl zu erhöhen. Ansonsten gab es keine große Änderung in der Formation und in der Spielweise wurde wie schon erwähnt die Mannorientierung etwas gelockert, um weniger Räume für die intelligenten Kombinationen der Leverkusener zu öffnen. Leverkusen verpasst es letztlich in dieser Phase den Sack zuzumachen (7:2 Torschüsse) und scheiterte einmal mehr an sich selbst.
11 Kommentare Alle anzeigen
Lorenz 12. April 2013 um 17:08
Kann man davon sprechen, dass die Wölfe ein überaus unangenehmer Gegner waren, wenn sie durch die taktische Ausrichtung Leverkusens genau zu der Spielweise veranlasst wurden, die Leverkusen durch diese Ausrichtung erreichen wollte?
Oder bezieht sich diese Bemerkung lediglich auf die Defensivarbeit der Wölfe in Leverkusen?
Wenn ja warum wird dann in diesem Artikel folgendes über die Ergebnisse der Defensivarbeit der Wölfe gesagt?
„Wolfsburg hingegen presste im 4-4-2, baute mit zwei Sechsern auf und versuchte mit ihren Mannorientierungen Druck zu entfachen. Anstatt die Fluidität Leverkusens dadurch zu zerstören, wurde sie nur phasenweise neutralisiert.“
LK 8. April 2013 um 22:33
Eine Frage bzgl der Trainer von Leverkusen:
Wie seht ihr es, dass sie allein mit Hypiäa weitermachen nächste Saison?
Ich habe meistens das Gefühl, dass Lewandowksi doch der versiertere ist und auch taktisch mehr drauf hat. Wer von Beiden ist in euren Augen der stärkere/bessere Trainer, wenn man das so sagen kann?
HSV 8. April 2013 um 01:48
RM, ist es möglich das Gegenpressing Leverlusens mit Beispielbilder/Formationen darzustellen? Oder ist generell noch ein Artikel über Gegenpressing geplant? 😀 das würde mich sehr interessieren. Danke schonmal im vorraus!
RM 8. April 2013 um 08:46
Leider keine Zeit und keine Szenenbilder. Artikel zu Gegenpressing gibt’s aber hier schon.
HSV 12. April 2013 um 16:32
ok schade aber dankeschöön 😀
TW 7. April 2013 um 15:14
RM, bitte hilf mir bei folgenden Absatz noch einmal: „Oft war es zum Beispiel Linksverteidiger Rodriguez, der sich mannorientiert an Carvajal orientierte und nicht an Sidney Sam. Damit wollte Dieter Hecking wohl die hohe Flexibilität der Leverkusener eindämmen. Insbesondere Sam und Schürrle sollten somit variabel in der Mitte gepresst werden können, während die Außenverteidiger Wolfsburgs tiefer und breiter blieben, um in der Mitte mehr Kompaktheit zu generieren.“
Wenn Rodiguez eine Mannorientierung auf Carvajal umsetzt, dann steht er ja eher sehr offensiv und weit außen. So etwas sagst Du ja auch im letzten zitierten Satz (mit dem Interpretationsspielraum, ob tief jetzt defensiv oder offensiv ist). Wie kann dadurch die Kompaktheit in der Mitte verstärkt werden? Im defensiven Zentrum sind somit doch maximal drei der vier Verteidiger. Oder meinst Du, dass die Mittelfeldreihe enger steher kann?
Zu diesem Punkt kommt noch hinzu, wie eine Manndeckung Carvajals mit dem Faktum zusammenpasst, dass dieser die meisten Ballkontakte in der ersten Hälfte hatte. Ein manngedeckter Spieler wird ja eher nicht angespielt.
RM 7. April 2013 um 16:05
Frage: Wenn Rodiguez eine Mannorientierung auf Carvajal umsetzt, dann steht er ja eher sehr offensiv und weit außen. So etwas sagst Du ja auch im letzten zitierten Satz (mit dem Interpretationsspielraum, ob tief jetzt defensiv oder offensiv ist). Wie kann dadurch die Kompaktheit in der Mitte verstärkt werden? Im defensiven Zentrum sind somit doch maximal drei der vier Verteidiger.
Antwort: Oder meinst Du, dass die Mittelfeldreihe enger steher kann?
Frage: Zu diesem Punkt kommt noch hinzu, wie eine Manndeckung Carvajals mit dem Faktum zusammenpasst, dass dieser die meisten Ballkontakte in der ersten Hälfte hatte. Ein manngedeckter Spieler wird ja eher nicht angespielt.
Antwort: Die Leverkusener überluden dann meist die Halbräume und Flanken mit den aufrückenden Halbspielern, dem Flügelstürmer und dem breitegebenden Außenverteidiger. Besonders der sehr hoch agierende Carvajal wurde dabei genutzt.
Heißt: Halbspieler gehen nach vorne, Flügelstürmer in die Halbräume. Rodriguez orientiert sich um, Carvajal wird außen frei. Außerdem war ja Carvajal nicht der einzige manngedeckte Spieler; es gab zig andere, weil Heckings Defensivsystem auf Mannorientierungen in der gesamten eigenen Hälfte basierte.
messanger 7. April 2013 um 14:10
Da hat sich ein Tippfehler versteckt: „Leverkusen viel durch eine sehr gute erste Hälfte auf,“
Tommer 7. April 2013 um 11:43
Wieder einmal ’ne sehr interessante Analyse, danke!
Habe das Spiel gestern nicht gesehen, verfolge Leverkusen aber schon länger. Was mMn schon auffällig ist: Bayer schafft es so gut wie nie, auch gegen schwächere Gegner (wie bspw. Fürth) über 90min offensiv zu dominieren und Chancen herauszuspielen. So auch gestern wieder. Mich würde mal interessieren, wo deiner Ansicht nach die Ursachen dafür liegen. Weil letztlich ist das wohl auch der Schritt, der zur absoluten Top-Mannschaft fehlt.
DAF 7. April 2013 um 12:58
Meiner Meinung nach hängt es damit zusammen, dass es im Bayer – Mittelfeld keinen echten Kreativspieler wie früher Renato Augusto mehr gibt und das Mittelfeld vor allem sehr defensiv – und pressingstark ist. Auch die Außenstürmer sind eher schnelle Konterspieler, die nach einem Ballgewinn schnell in den Angriff umschalten, als Spielmacher, die einen tiefstehenden Gegner knacken können.
Naturgemäß führt das dann dazu, dass es gegen defensive Gegner die Bayer den Ballbesitz überlassen, teilweise größere Probleme gibt als gegen dominante Teams, obwohl diese auf dem Papier zumeist die schwerere Aufgabe sind.
Tommer 7. April 2013 um 13:53
Diese Antwort ist auf jeden Fall die nahe-liegende, seh ich auch so. Frage mich nur, ob Bayer nicht auch mit dem gegebenen System/Spielermaterial angesprochenes Ziel erreichen könnte…