HOW TO IMPLEMENT GEGENPRESSING – Die 4 Phasen der Gegenpressingentwicklung Liverpools 2015-2019
Die Entwicklung des Gegenpressings
Die 4 Phasen der Gegenpressingentwicklung:
Auch wenn es schwierig bis unmöglich ist die Entwicklung des Gegenpressings in klare Phasen einzuteilen – sind Häufigkeiten von Verhaltensweisen der Liverpool Spieler und taktischen Ideen von Klopps Trainerteam ersichtlich. Diese Etablierung und Entwicklung des besten Spielmachers der Welt – dem Gegenpressing – wird im Folgenden Artikel erklärt werden. Dabei sind die Verhaltensweisen und Prinzipien natürlich nicht nur in den Phasen ersichtlich + die Einhaltung dieser war grad anfangs sehr schwankend, wobei ein Grundsatz Liverpool unter Klopp prägte: Stabilität für Entwicklung!
Phase 1: Implementierung der Gegenpressing Idee – Individueller Impuls
Phase 2: Organisation des Rausrückens und Druckhaltens
Phase 3: Auf der Suche nach der Balance zwischen Druck und Stabilität
Phase 4: Kollektiver Impuls – Liverpools Gegenpressingmaschine
Phase 1: Implementierung der Gegenpressing Idee – Individueller Impuls
Im allerersten Spiel unter Jürgen Klopp war bereits eine erste Anlage von Gegenpressing erkennbar. Die letzte Abwehrkette sicherte dabei priorisierend die Tiefe, wodurch große Kompaktheitslücken zwischen Mittelfeld und (Rest-)Kette entstanden. Um das Gegenpressing nicht mit einem langen/tiefen Pass überspielen zu lassen, war es für Liverpool wichtig, Tiefe zu schließen/Konterräume hinter der letzten Abwehrlinie dem Gegner wegzunehmen, auch wenn dies zu Kosten der vertikalen Kompaktheit ging. Ebenfalls gab es noch kein Durchdecken oder Halbstehen von den Außenverteidigern, die eine klassische, positionstreue Position inne hatten. Das Gegenpressing war lenkend und sollte Rückpässe erzwingen und war zunächst oft der Impuls Einzelner. Den Start bildete eine doppelte Zehn in Ballbesitz und Pressingformation, die mit ihren Deckungsschatten das Spiel leiten konnte. Die erste Gegenpressingbewegung eines Spielers war ballorientiert, anschließend erfolgte das klassische Lenken zum Flügel. Lucas Leiva agierte als extrem weiträumig zuschiebende „deep6“ mit gutem Verständnis für die Deckungsschatten seiner Zehner. Während die hinteren Spieler (Innenverteidiger und Außenverteidiger) eher positionstreu und absichernd agierend, waren in Gegenpressingsequenzen die ballnächsten Spieler eher mannorientiert. Die Balllinie wurde dabei teilweise nicht konsequent geschlossen, sodass ein vertikales Ausspielen des Konters möglich blieb – zwar nicht immer tief (aufgrund der Tiefensicherung der Kette), aber in Zwischenräume. Besonders bei einer schnellen Kombination über einen dritten Spieler, der sich vor die Abwehr schob, war Liverpool anfällig. Aufgrund der Unkompaktheit versuchte Liverpool zu Beginn per Impuls (der sich auch noch nicht bei allen Spielern durchgesetzt hatte) den Ball bei Ballverlust direkt wiederzuerobern, da sie ein länger andauerndes (Gegen-)Pressing aufgrund ihrer weiten Abstände zueinander nicht erfolgsversprechend aufrecht erhalten konnten. Wenn dies nicht geling, der Ballverlust offen-weit war oder sich zügig zu einem offen-weiten Ballverlust entwickelte (bspw. weil der Gegner einen freien Spieler außerhalb des Drucks finden konnte), zog man sich schnell und kompakt ins Abwehrpressing zurück, wählte also schnell und häufig einen 0 Moment: Mit dem Fokus enge Abstände in eigener Tornähe herzustellen
Da bspw. bei einem offen-engen Ballverlust im Halbraum ein einfaches Rausspielen zum gegnerischen Außenverteidiger reichte, um Liverpool – da sie noch nicht kompakt genug und mit Mittelfeldspielern oder Außenverteidiger zum Flügel durchjagten – nach hinten zu drücken, kam es zu vielen 0 Momenten in Klopps Anfangszeit. Eroberte Liverpool also nicht den Ball unmittelbar nach Ballverlust (+3), endeten die Umschaltphasen fast ausschließlich in 0 oder +1 Momenten. Offen-weite Ballverluste wurdne beinah ausschließlich als Signal für ein 0/+1 Momente gewertet. Bedeutet, Mittelfeldspieler Liverpools schlossen konsequent offene Zwischenräume, die durch die prioriserte Tiefensicherung eher langsameren Innenverteidiger Kolo Toure, Sakho oder Lucas Leiva entstanden sind. Abzuleiten daraus ist, dass besonders Stabilität und die Minimierung negativer Gegenpressingmomente, die zu gegnerischen Torchancen führen, für Klopp fundamental waren.

Ballverlust und kein direkter Ballgewinn – statt die Überzahl im Zentrum oder in der letzten Linie zu nutzen, wählt Liverpool eher den sicheren 0 Outcome und verteidigt nicht durch (weder mit Can noch mit Moreno)
Phase 2: Organisation des Rausrückens und Druckhaltens
Als erster großer Didaktikschritt wurde darauf Wert gelegt, dass die vertikale Balllinie (besonders bei offenen Ballverlusten) so nah wie möglich geschlossen wird und die ballnächsten Spieler die innere Linie zwischen eigenem Tor und Ball schließen. Rück- oder Querpässe sowie eine Verzögerung des Spieltempos wurde dabei in Kauf genommen und meistens verfolgt. So kam Liverpool häufiger in +1 Momente. Darauf aufbauend konnte man an den einzelnen Prinzipien (https://spielverlagerung.de/2025/08/12/how-to-implement-gegenpressing-liverpools-gegenpressingprinzipien-im-detail-in-phase-2-druckentwicklung/) arbeiten, um +2 Momente herzustellen.
Als nächster Entwicklungsschritt wurde am Herausrücken und Schwimmen einzelner Spieler gearbeitet: Doch was bedeutet das?
Aus einem Matchplan, einer Formation heraus, kommt man aus dem Ballbesitz regelmäßig in ähnliche Über- oder Unter- oder Gleichzahlsituationen. Sichert man beispielweise aus einem 4-3-3 mit +1 hinten in der letzten Linie ab, wird man im Mittelfeld – zentral, meistens aber seitlich – Unterzahl haben. Diese Überzahl so zu nutzen, dass ballnah ein Spieler aus der ursprünglichen Überzahl rausrücken kann und sich an der Druckentwicklung oder Staffelungsfindung beteiligen kann, dass Druck aufrecht erhalten, ist im Gegenpressing wichtig und notwendig. Liverpool rückte als Entwicklungsschritt (ca. Nach 1-2 Monaten) nicht mit den Innenverteidiger raus (Priorität ist Tiefe sichern ! – einfache Tore nicht zulassen), sondern mit den Außenverteidigern. Diese standen in Ballbesitz höher und sollten bei Ballverlust nun entweder ihre Position im 0/+1 Moment einnehmen oder selbst mit durchjagen (+2). Die Außenverteidiger hatten Schwierigkeiten, ihre Rolle zu finden – zwischen Druckentwicklung und Positionstreue, pressten sie häufig zu früh/extrem oder zu tief/spät. Kollektive Staffelungen im Gegenpressing waren jedoch noch selten, meist dominierten individuelle Gegenpressingreaktionen. Wurde das Gegenpressing mit zu vielen Spielern in enger Schlagdistanz ohne gute Druckentwicklung gestartet – insbesondere bei offenen Ballverlusten –, resultierte das in langen Bällen in ein unkompaktes Liverpool, das dann mit wenig Personal große Räume verteidigen musste oder in Dribblings, die Liverpool nur schwer zu verteidigen wusste.
Phase 3: Auf der Suche nach der Balance zwischen Druck und Stabilität
Zudem traten, dadurch dass Liverpool immer mehr versuchte die Graustufen zwischen direkten Ballgewinn (+3) und Umschalten in Abwehrpressing (0) zu füllen, auch erste Abstimmungsprobleme in Gegenpressingsequenzen auf: zwischen dem Aufnehmen von Laufwegen und dem Halten von Position zur Druckentwicklung. Wer übernimmt aus dem Ballverlustort weglaufende Gegenspieler oder wie/auf welche Art verteidigt man diese? Im Laufe der Entwicklung wurde diese Rollenaufteilung klar den Außenverteidigern zugeschrieben, die so auf der einen Seite eine klare Verantwortung haben und auf der anderen Seite nicht mehr in Schwierigkeiten für ihr Herausrücktiming kamen.
Nach ca. Einem halben Jahr war Liverpool extrem darauf bedacht, auch bei offenen Ballverlusten durchzujagen und Gegendruck zu erzeugen. Dies ging auf Kosten der Zentrumsabsicherung. Besonders im League-Cup-Finale gegen ManCity fiel Liverpool immer wieder klug getimten Kontern durchs eigene Zentrum zum Opfer, weil City geschickt Liverpools erste (und dann einzige) Druckwelle überspielen oder überdribbeln konnte.
Erst nach diesem Spiel, in dem das Zentrum in Rückstand häufig luftig war, wurde es deutlich stärker gehalten – sowohl mit Ball als auch im Gegenpressing, insbesondere bei offenen, weiten Ballverlusten Nach diesem Finale konnte man kleinere Anpassungen beobachten, die darauf bedacht waren, dass zentrumssichernde Spieler wie deep6 oder weitere zentrale Mittelfeldspieler nicht um jeden Preis der Stabilität Druck auf offene Ballverluste geben. Vielmehr wurde verzögert Druck gemacht, um Zeit zu gewinnen für Mittelfeldspieler, die sich halb absichernd Richtung Zentrum oder verstärkt Druckgebend Richtung Ball bewegten. Auch deswegen wurde mehr Wert auf eine +1 Zentrumsüberzahl im Mittelfeld in Ballbesitz gelegt. Besonders Henderson oder Leiva als deep6 waren wieder mehr darauf bedacht, die vertikale Linie zum Ball zu halten anstatt sie auf den Ball durchzujagen. Durch diese Stabilität büßte Liverpool zwar an direkten Druck ein, die dazu gewonnene Stabilität verhalf Liverpool aber zu mehr Kontrolle und Balance. Schlechte erste Pressingaktionen führten somit nicht mehr zwangsläufig zu gefährlichen Szenen. Ergänzende Bewegungen erfolgten dann diagonal nach innen ins Zentrum, schwimmend von allen beteiligten Spielern – insbesondere dann, wenn unklar war, wie der erste zentrale Zweikampf ausgehen würde.

Liverpool verteidigt mit Milner aggressiv aus dem Zentrum, deckt mit Can und Henderson aggressiv zum Flügel durch, kümmert sich aber nicht um eine Zentrumsabsicherung – weder in Form eines rausrückenden besetzenden Innenverteidigers noch einem halbstehenden Sechser (Henderson bspw.) oder eines Einschiebens von ballfernen/höheren Spielern (Firminio, Coutinho)
Phase 4: Kollektiver Impuls – Liverpools Gegenpressingmaschine
Bis zum Finale 2016 war bereits auch eine klare Entwicklung erkennbar: mehr Rückwärtspressing, mehr Unterstützung der vorderen Reihen bei Ballverlust. In der Saison 2016/17 verschwanden abdrehende Laufwege weitgehend – es kam zur Reflexänderung und zu abgestimmten Bewegungen. Mit der Verpflichtung van Dijks im Januar 2018 und der Implementierung der lauf- und zweikampfstarken Außenverteidiger Robertson und TAA konnte Liverpool seine Gegenpressingmaschine weiter voranbringen. Alle Spieler wussten wann, wie und wo sie gemeinsam Tempo aufnehmen mussten, um aus dem Gegenpressing einen Bewegungsvorteil zu ziehen, statt einen Nachteil. Die Innenverteidiger deckten immer mehr durch, Außenverteidiger bewegten sich halbschwimmend. Die Flügel wurden halb aus dem Zentrum und halb von außen geschlossen. Alles war mehr halb-offen und druckentwicklungsorientiert. Das frühere Abschalten, Abdrehen oder Abwinken mancher Spieler im Ballverlustmoment wich ab ca. 2018 einem sofortigen kollektiven Impuls: alle Spieler bewegten sich unmittelbar in Richtung Gegenpressing, mit Höhepunkt des Champions-League-Titels 2019 sowie der Meisterschaft ein Jahr später.
Fazit:
Die Entwicklung von Liverpools Gegenpressing unter Klopp lässt sich trotz fließender Übergänge in klare Tendenzen fassen. Anfangs dominierten individuelle Impulse und strukturelle Lücken, ehe über die Organisation des Rausrückens und eine zunehmende Zentrumsabsicherung mehr Stabilität entstand. Mit jedem Schritt wuchs das Gleichgewicht zwischen aggressivem Druck und defensiver Stabilität. Durch gezielte Transfers wie van Dijk, Robertson und die Implementierung Alexander-Arnolds verwandelte sich das zunächst wechselhafte und lückenhafte Gegenpressing oder das Zurückfallen ins Abwehrpressing bei Ballverlust schließlich in ein kohärentes Gegenpressing mit kollektiven Impuls, der zum Markenzeichen wurde. Am Ende stand eine „Gegenpressingmaschine“, die auch spielbestimmendes Element war und ihren Höhepunkt in den großen Titeln 2019 und 2020 fand.
Ausblick:
Grundlagen des Gegenpressings (https://spielverlagerung.de/2025/07/27/how-to-implement-gegenpressing-ein-leitfaden-anhand-klopps-liverpool-2015-2018/)
Gegenpressingprinzipien im Detail (https://spielverlagerung.de/2025/08/12/how-to-implement-gegenpressing-liverpools-gegenpressingprinzipien-im-detail-in-phase-2-druckentwicklung/)
Entwicklung und Didaktik des Gegenpressings von Liverpool 2015-2018
Die Vorbereitung im Ballbesitz
HH ist als Schalke-Fan über den schwarzgelben Nachbarn unter Klopp zur Fußballtaktik gekommen. Nach Jahren als Jugendtrainer im Amateurbereich trainiert er mittlerweile in der Jugend bei NEC Nijmegen
LL hat durch Tuchels neue Denkansätze in Mainz seine Faszination für Inhalte im Fußball entdeckt. Im Umkreis der Narrenstadt ist er bereits im Amateur- und NLZ-Kontext tätig gewesen
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