Türchen 3: Seitlich verschobene Mittelfeldspieler mit oder gegen die Verschiebebewegung
Eine sehr vielschichtige Szene rund um die Mittelfeldeinbindung im Übergangsspiel diesmal nicht aus der laufenden Saison, sondern von der letzten EM.
Auf dem Weg zum EM-Titel 2021 sorgte Roberto Mancinis Italien durch die Nutzung des asymmetrischen Dreieraufbaus über einen der beiden Außenverteidiger für Aufsehen. Als Besonderheit kam in vielen Fällen die stark zu einer Seite verschobene Position der Doppel-Sechs in der 3-4-2-1-Ballbesitzstruktur hinzu, wie auch in dieser Szene.
Zunächst trieb Verratti von halblinks gegen die Belgier an, die aus ihrem 5-2-3 heraus zurückhaltend verteidigten und ihre Flügelläufer in der hintersten Linie hielten. Insigne konnte im Zwischenraum hinter de Bruyne und Tielemans gut angespielt werden.
Indem der belgische Halbverteidiger allerdings sofort auf ihn herausrücken konnte, stellte sich für Italien, so einfach das Überspielen des gegnerischen Mittelfelds auch gelungen war, die Frage der Fortsetzung. Das Herausrücken aus Belgiens Fünferkette unterband eine offensive Anschlussaktion und zwang Italien zum Rückpass.
Ein kleines Detail stellt die kompakte Nähe zwischen beiden italienischen (Ballbesitz-)Sechsern dar: Jorginho lief direkt neben Verratti quasi mit diesem mit, ebenfalls im linken Halbraum statt im Zentrum. Wie wäre die Szene verlaufen, wenn Verratti tatsächlich die Kombination mit Jorginho gesucht und ihm beispielsweise den Ball leicht diagonal nach rechts in den Lauf gespielt hätte, zumal bei einer gleichzeitigen Einrückbewegung Insignes (oder eventuell einer kurzen Bewegung des Stürmers)?
Für das belgische Mittelfeld wäre es eine besondere Herausforderung gewesen. Gerade die Kürze der Abstände machte die Lösung aber für Verratti ohne Gewöhnung etwas unintuitiv. Eine Einbindung Jorginhos hätte in der weiteren Entwicklung erleichtert, mehr Personal nach vorne zu bringen, was nach dem Anspiel auf Insigne einen Teil des italienischen Problems darstellte: Die Logik der ganzen Szene basierte darauf, dass Verratti sie aus dem Raum vor der ersten gegnerischen Linie heraus einleitete. Ein Sechser dribbelte hier an, eben nicht die Verteidiger. Diese blieben aus der Aufbauaktion ausgeschlossen und so blieben drei Akteure plus praktisch auch Jorginho hinter dem Ball.
Der notwendige Rückpass von halblinks endete einige Sekunden später bei Bonucci, dem zentralen Mann der Staffelungen im Aufbau. Immerhin hatten die Italiener durch das Anspielen über Verratti und Insigne den Gegner auf jene Seite ziehen können, auch wenn der ursprüngliche vertikale Raumgewinn schnell wieder verloren gegangen war.
Der entscheidende Punkt aus belgischer Perspektive betraf im folgenden Moment das Verhalten des ballfernen Offensivspielers. Doku musste sich entscheiden, ob er versuchen sollte, Bonucci anzulaufen, aber dann eigentlich mit der Notwendigkeit, ihn auf die andere Seite zurückzudrängen, oder ob er die Kompaktheit nach hinten halten sollte, womit sein Team gegen den nächsten Pass nach außen aber wahrscheinlich würde zurückweichen müssen. Letztlich ging Doku auf Bonucci raus, aber die Abstände waren etwas zu groß, um wirklich Druck machen zu können. Der flache Rechtsverteidiger di Lorenzo war eine sichere Ausweichoption für den italienischen Abwehrroutinier.
Zusätzlich bot sich ihm gleich eine zweite Passmöglichkeit diagonal im Rücken Dokus: Barella wich als nomineller Achter bzw. im 3-4-2-1 Zehner diagonal seitlich in die Zone neben der belgischen Doppel-Sechs aus. Für Belgien stellte sich als nächste Entscheidung, ob entweder Vertonghen oder Thorgan Hazard dagegen vorverteidigen sollten. Mit etwas Verzögerung schob letztlich Hazard als Flügelläufer auf Barella nach vorne.
Dieser hatte sich bei seiner Ausweichbewegung gut verhalten und sein Sichtfeld frühzeitig nach innen gedreht. Damit verhinderte er das, was ansonsten bei vergleichbaren Ausweichbewegungen zur Seite so häufig geschieht: Der betreffende Spieler hat nicht mehr im Blick, was im Halbraum und im Zentrum passiert und ob gegebenenfalls ein Auf- bzw. Eindrehen gegen die Verschiebebewegung möglich wäre, sondern nur noch den Blick nach außen – und wird effektiv meistens mit genau jener gegnerischen Verschiebebewegung einfach mitspielen. Kurioserweise war diese Szene mal eines der eher seltenen Gegenbeispiele, aber dann ausgerechnet in einem Fall, in welchem die (eigentlich „gute“) Ausnahme doch gar nicht so gut war, weil Italien die Aktion schnell außen um Hazard herum hätte durchspielen können.
Grundsätzlich gelang es Barella, die Situation über die Kollegen aus dem Mittelfeld, also wieder gegen die Verschiebebewegung, weiterzuspielen: Das Herausrücken Thorgan Hazards gegen ihn kam zu spät und er konnte rechtzeitig wieder nach innen auf Jorginho klatschen lassen, der sich mit einer enorm aufwendigen Bewegung von halblinks zum Ball hinter der ersten belgischen Pressinglinie freilief. Lukaku nahm sich im Verschieben eher zurück, de Bruyne versuchte das tendenziell aufzuwiegen, hatte aber den weiteren Weg als sein Mittelstürmer, den er quasi überholen musste, und kam nicht schnell genug in den anderen Halbraum.
Hinter Thorgan Hazard hatte sich auch Vertonghen auf Sprung befunden, erst kurz nach vorne, dann kurz zur Seite, ehe er sich letztlich – im Gesamtbild wahrscheinlich passenderweise – gegen ein Herausrücken entschied, eine nachteilige Position gegenüber dem auf den tiefen Ball lauernden Chiesa aber nicht mehr vermeiden konnte. Jorginho spielte nach der Ablage Barellas den hohen Ball hinter Vertonghen zu seinem Flügelspieler.
Einerseits kam Italien damit fast zur Grundlinie durch und auch in den Strafraum hinein, letztlich mit Ballbesitz Chiesas direkt am Schnittpunkt zwischen Sechzehner- und Torlinie. Andererseits war der Pass durch die angehobene Flugkurve vergleichsweise lange unterwegs und letztlich so lange, dass Vertonghen den kleinen Rückstand aufholen und Chiesa schließlich stellen konnte. Vielleicht wäre für Italien die Fortsetzung von Barella über außen statt über Jorginho noch etwas wirksamer gewesen?
Der entscheidende Knackpunkt betraf allerdings die Rolle des Außenverteidigers, die im ganzen Angriff eigentlich wenig Effekt hatte – manchmal bei Verlagerungssituationen der potentielle Nachteil im Dreieraufbau über den flacheren Außenverteidiger. Durch Hazards Zögern hätte Italien di Lorenzo in dieser konkreten Szene wahrscheinlich nicht einmal gebraucht und Barella hätte bei ausreichend breiter Position Chiesas den gegnerischen Flügelläufer selbst im 2gegen1 überspielen können.
Im Normalfall wäre aber die Einbindung des Außenverteidigers notwendig geworden, um seitlich und flach um den Gegner herum auf die Flügelstürmerposition zu umspielen. Bei Außenverteidigern begegnet häufig die Problematik, dass sie Vertikalpässe auf etwas breiter stehende Mittelfeldkollegen nicht gut lesen und ziemlich passiv werden statt auf das Zuspiel hochzuschieben und gegebenenfalls auch etwas nach innen. Vom Prinzip machte das di Lorenzo hier sogar überdurchschnittlich gut, rückte weiter auf, aber hätte das nur noch diagonaler mit klarerer Orientierung auf Barella und Hazard machen können und vor allem etwas früher.
Wenn man in einer solchen Szene di Lorenzo auf den Pass zu Barella sehr zügig in die Unterstützung bringt und beide Spieler ein grundsätzlich sauberes Timing finden, lässt sich der Flügelverteidiger enorm effektiv locken und am Ende außen überspielen. So wäre schon di Lorenzo an Hazard vorbei gebrochen, hätte dann Raum angreifen können und Chiesa wäre noch als weiterer Spieler hinzugekommen. Potentiell bestand also die Möglichkeit eines sehr sauberen Durchspielens. Voraussetzung ist natürlich auch, die Restverteidigung weiter sauber zu organisieren – also situativ mehr Absicherung durch Jorginho und Verratti, gegebenenfalls auch ballfernes Zurückfallen des nominell höheren Außenverteidigers für den einzelnen Moment. So wie die Szene verlief, „verlor“ Italien aber ein Stück weit einen Spieler durch seinen Rechtsverteidiger, der nicht entscheidend in den Angriff eingreifen und keine wirkliche „Funktion“ ausüben konnte.
Eine letzte Alternativmöglichkeit hätte es noch gegeben, um die von Barella tatsächlich gewählte Fortsetzung gegen die Verschieberichtung anders zu nutzen: Jorginho hätte einfach nicht zwingend nach der Ablage den Ball mit dem ersten Kontakt tief spielen müssen. Seine intuitive Reaktion bot sich natürlich erst einmal an, weil er wahrnahm, dass Vertonghen zumindest kurzzeitig nach vorne verteidigte, und sich daher für ein Zeitfenster der Raum dahinter für Chiesa bot. Um diesen sofort einzusetzen, musste er allerdings einen Ball mit technisch sehr anspruchsvoller Ausführung eingehen.
Zwischen de Bruyne und Witsel hätte Jorginho letztlich genug Platz gehabt, um aufzudrehen bzw. in dem Fall diagonal nach vorne mitzunehmen – bei noch etwas saubererer Orientierung. Dann hätte er den Ball beispielsweise zunächst kurz weiter vorwärts treiben können, oder relativ zügig Immobile mitnehmen, der in jener Szene ziemlich nah entgegenkam und sich dadurch großen Abstand zu den Verteidigern verschaffte. In dem Ausmaß war das eine interessante Bewegung des Stürmers, die in der konkreten Umgebung ihn sowohl zu einer Anspielstation machte als auch überhaupt die Bedingungen für Jorginhos Lösung des hohen Balles hinter die Kette wesentlich vereinfachte, indem Vertonghen in dessen Dilemma zusätzlich auf den sich in sein Sichtfeld bewegenden Mittelstürmer achten musste und gleichzeitig Vermaelen horizontal nicht so einfach weiter durchschieben konnte.
Kleiner Nachteil für Immobile: Da der Ball letztlich direkt von Jorginho auf Chiesa ging, hatte er selbst einen langen Weg zum Nachrücken in den Strafraum. Zumindest reagierte er gut darauf, indem er anschließend den Rückraum suchte, während Insigne das wiederum geschickt erkannte, nicht von halblinks einfach linear nachrückte, sondern das Sturmzentrum übernahm bzw. nachher sogar den diagonalen Weg bis in Richtung des ersten Pfosten durchzog. Bei den Belgiern wiederum nahmen die Verteidiger dagegen eine gute Zuteilung auf die Gegenspieler im Strafraum an, um auch dies nicht unerwähnt zu lassen.
1 Kommentar Alle anzeigen
blub 3. Dezember 2023 um 01:15
Jo ich glaube dieser Artikel ist aus dem Türchen auf die Hauptseite verrutscht.