Türchen 24: Carlos Tévez

Über viele Spieler haben wir in der Planung des Adventskalenders diskutieren müssen: Ist das ein Risikospieler? Passt der wirklich? Inwiefern passt der in das Thema? Hinter dem 24. Türchen steckt ein Kandidat, der unstrittig war. Bei Carlos Tévez war klar: Der muss rein, der passt perfekt. Wenn einer ein Risikospieler ist, dann er.

Die Naturgewalt

Es ist beinahe filmisch, wie Tévez in seiner Spielweise zu seinem Erscheinungsbild passt. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein „Krieger“ – und er spielt exakt so. Kaum einer ist in seinem ganzen Spiel derartig aggressiv und rabiat wie Tévez, ohne dabei schlichtweg ungeschickt oder ungestüm zu werden. Der Argentinier bringt in alle seine Aktionen eine extreme Energie und Risikobereitschaft.

Tévez spielt keine Verlagerungen, er schießt den Ball auf die andere Seite. Tévez geht nicht in die Balleroberung, er springt in den Gegenspieler rein. Tévez kommt nicht zum Abschluss, Tévez knallt den Ball auf’s Tor. Tévez dribbelt nicht, Tévez tankt sich durch. Er „geht durch“.

Tévez vereint einen niedrigen Körperschwerpunkt mit einer massiven Robustheit, ein sehr offensives Denken mit einem herausragenden Kampfgeist, eine körperliche Spielweise mit der notwendigen Technik, um daraus konstant, immer wieder, aus allen möglichen Situationen Durchschlagskraft zu erzeugen.

Risikobereitschaft mit und gegen den Ball

In der Offensive wirkt Tévez manchmal wie ein Jugendspieler, der als Frühentwickler der Star seiner Mannschaft ist: Er fordert sehr viele Bälle, nimmt extrem viele Dribblings und Schüsse und kommt dabei überraschend oft auch dann durch, wenn man denkt, dass das eigentlich nicht möglich sein sollte. Er ist wie eine Ein-Mann-Armee – tatsächlich aber, ohne dass er dabei Mitspieler ignoriert oder egoistisch spielt.

Vor allem wie er in Engstellen und körperliche Duelle mit dem Ball reingeht, ist phänomenal. Er versucht, vor allem mit Gesicht zum Tor, nicht, dem gegnerischen Druck aus dem Weg zu gehen, sondern versucht ihn immer zu durchbrechen. Er dribbelt direkt auf Gegner zu, in Engstellen hinein, nimmt Körperkontakt bewusst selber auf, statt ihm auszweichen, er tunnelt, schiebt sich durch, holt versprungene Bälle zurück.

In der Defensive spekuliert er immer wieder auf die Balleroberung. Er spielt Pressing nicht nach Dienstvorschrift, sondern inkonstant aber intensiv: Wenn er anläuft, dann im Sprint, nicht um den Gegner ein bisschen zu leiten, ein bisschen zu verunsichern, sondern um den Ball zu erobern. So stoppt er oft auch nicht vor dem Gegner, sondern läuft einfach mit vollem Risiko durch. Dadurch wird er oft ausgedribbelt, aber bei einem Fehler des Gegners kann er den Ball direkt gewinnen. Wenn Gegenspieler den Ball wegschlagen, versucht er immer noch den langen Ball irgendwie zu blocken. Solange er eine Chance hat, geht er mit Vollgas rein.

Die notwendige Spielintelligenz und Technik

Extrem körperliche und energiereiche Spieler neigen oft dazu, dass ihre Aktionen unüberlegt werden und an Effizienz verlieren. Teilweise entwickeln Spieler sogar einen Kampfgeist, weil sie technische oder taktische Defizite kompensieren müssen. Bei Tévez gilt das nicht. Tévez wirkt im Vergleich zu anderen Spielertypen hier und da simpel oder gar kopflos, trifft aber eigentlich sehr konstant Entscheidungen, die unter dem Strich Sinn ergeben. Er weiß genau, wie er sich ins Spiel bringen muss.

Zwar ist seine Spielweise nicht „strategisch“, aber schlau: Er ist sehr aktiv in der Orientierung und seinen Bewegungen, sodass er sich in den richtigen Momenten in die richtigen Räume bewegt, gute Auftaktaktionen am Ball hat, gute Entscheidungen trifft, seinem Team immer weiterhelfen kann. Wie sehr er selbst in schwierigen, undominanten Spielsituationen noch Bindung zu seinem Team aufbauen kann und Vorteile aus unvorteilhaften Szenen rausschlagen kann, ist eine spezielle und herausragende Fähigkeit. Und für seine scheinbar extreme Risikobereitschaft unterlaufen ihm überraschend wenig Fehler.

Auch Tévez‘ technische Fähigkeiten sind zwar nicht überragend, aber normalerweise gut genug und sehr konstant; ihm unterlaufen normalerweise keine technischen Schnitzer. Er demonstriert aber vor allem, wie stark Technik und Atlethik im Fußball verbunden sind: Kleiner Ungenauigkeiten in seinen Kontakten, gerade bei der Kontrolle halbhoher Bälle, werden normalerweise nicht bestraft, weil er dem Ball mit dem Körper sofort folgt. Aus dem Kontakt heraus folgt sehr schnell die Körperbewegung, um sich erneut in eine gute Position zum Ball zu bringen und den Gegner wegzublocken.

Rabiat gegen den Gegenspieler, rabiat gegen den Raum

Das ist möglicherweise sogar seine Schlüsselfähigkeit, von der er auch seine Dribblingfähigkeiten entwickelt. Er ist nicht als klassischer Dribbler bekannt, aber absolut herausragend durchsetzungsfähig mit dem Ball gegen einen und mehrere Gegenspieler. Dabei lebt er davon, dass er sich brutal „durchwühlt“, indem er immer wieder den Körper reinschiebt und den Ball in Positionen bringt, die der Gegner schlecht erreichen kann.

So geht er im Dribbling sogar oft gezielt „in den Gegenspieler“ rein, anstatt am Gegner vorbei in den Raum. Wenn der Gegner also zum Beispiel rechts von ihm ist, macht er einen Haken nach rechts, nicht nach links. Er spekuliert darauf, den Ball dabei an den Füßen des Gegners vorbeizuschieben, dann in der Folgebewegung eine bessere Position zu erreichen und mit Athletik am Gegner vorbeizukommen während dieser stoppen oder sich drehen muss.

Auch wenn er Raum zur Verfügung hat, wirkt seine Spielweise risikoreich. Er hält den Ball dann nicht so eng am Fuß wie möglich, sondern treibt ihn ziemlich weit vor sich, um seine Geschwindigkeit zu maximieren. Dabei ist er tatsächlich enorm geschickt darin, sich den Ball genau so weit vorzulegen, dass die Gegner gerade nicht rankommen können und vielleicht sogar fehlerhaft rausrücken. Aus diesem Ball-Treiben dribbelt er wiederum ziemlich oft auf den Gegner zu, anstatt nur zu versuchen, die Verteidiger im offenen Raum zu überlaufen. Er will, dass sie reagieren und er den Ball vorbeischieben und seine Physis nutzen kann.

Explosivität in allen Aktionen

Ein weiterer Aspekt, der es so schwer macht, Tévez zu verteidigen, und der zur „Wildheit“ seiner Spielweise beiträgt, ist, dass er sehr viele Aktionen quasi ansatzlos ausführt. Das gilt für Dribblings, Läufe und vor allem Pässe und Schüsse. Gerade bei Schüssen müssen bzw. wollen viele Stürmer den finalen Kontakt vorbereiten, um ihn dann möglichst sauber ausführen zu können, also den Ball zum Beispiel noch einmal kurz vorlegen, um dann mit ein bis zwei Schritten in den Ball einzulaufen und abzuschließen. Tévez schießt schneller, er schießt oft ansatzlos.

Das gleiche gilt für seine Pässe, sogar mittelweite Verlagerungen spielt er in ungewöhnliche Winkel fast wie aus dem Fußgelenk. Auch seine Vorwärtspässe kommen häufig sehr plötzlich aus der Dribbelbewegung heraus. Auch deswegen ist er in puncto Sauberkeit bzw. Präzision dann oft nicht überragend, bleibt aber normalerweise präzise genug und kann durch den Überraschungseffekt zusätzliche Vorteile erzeugen.

Auch Freilaufbewegungen und Läufe in die Tiefe startet er oftmals mit maximalem Antritt. Viele Spieler machen diese Bewegungen aus mittelschnellem Lauftempo heraus, sodass sie schneller auf Sprintgeschwindigkeit kommen und für den Mitspieler leichter zu lesen sind. Der Nebeneffekt ist aber, dass auch die Verteidiger die Bewegungen leichter lesen können. Tévez ist im Spiel ohne Ball immer mal wieder kurzzeitig inaktiv, bleibt in ballfernen Räumen fast stehen, geht dann aber plötzlich und so spät wie möglich tief oder zum Ball, um den maximalen Geschwindigkeitsvorteil zu haben.

Seine Zielposition ist deshalb oft nicht optimal, was er durch seine wuchtigen Ballaktionen aber kompensieren kann; teilweise hilft ihm das sogar, weil Gegner auf ihn herausrücken müssen und nicht einfach nur zurückfallen können, wenn er etwa in der Mittelfeldlinie und nicht zwischen den Linien aufdreht.

Freirolle als Problem und Lösung

Eine gewisse Risikobereitschaft fordert Tévez auch von seinen Trainern, da man seine Aktionen kaum planen oder gar vordefinieren kann. Man kann auch kaum sagen, dass er in irgendwelchen Positionen oder Räumen besonders gut wäre, er kann eigentlich überall, von jeder Offensivposition aus Gefahr erzeugen. Tévez ist richtig aufgestellt und eingebunden, wenn man ihn einfach machen lässt.

Das macht es etwas schwierig, die Spieler und Rollen in seiner Umgebung zu wählen und Angriffsstrukturen sowie Angriffsverläufe auf die eigene Mannschaft oder den Gegner anzupassen, da man schwer vorhersehen kann, wie sich Schlüsselfigur Tévez genau verhalten wird. Dafür kann man sich aber ziemlich sicher sein, dass Tévez die richtigen Lösungen finden wird und auch in schwierigen Situationen noch irgendwelche Möglichkeiten findet, Angriffe zu initiieren.

Insofern ist diese wilde, ungeplante Spielweise potentiell sogar stabilisierend, weil Tévez sich permanent und on-the-fly an den Gegner und die Spielsituation anpasst und das so gut macht, dass er vielleicht sogar konstanter effektiv ist als das eine vorgeplantere Spielweise sein kann. Im Grunde versucht man als Trainer mit einer taktischen Idee ja zu helfen, die eigenen Fähigkeiten häufiger oder effektiver einsetzen zu können; Tévez nimmt einem das ab, weil er selbstständig so gut darin ist. Er verlangt diese Selbstständigkeit aber auch zum Teil von seinen Mitspielern, die schnell und passend auf seine Bewegungen und unorthodoxen Entscheidungen reagieren müssen.

Spielantreiber

Carlos Tévez ist ein Unikat, der keine Spielrollen und Positionen neu interpretiert oder weiterentwickelt hat, sondern seine eigene Spielweise, seine eigene Rolle und Position gefunden hat und damit auf höchstes Weltniveau gekommen ist. Er ist ein kompletter Stürmer, aber auch ein kompletter offensiver Mittelfeldspieler, er spielt beides gleichzeitig und spielt so, wie es kein anderer tut.

Er ist kein Spielmacher, aber hat so viel Einfluss wie ein Spielmacher. Er treibt das Spiel an, er drückt das Spiel durch und er finalisiert es. Er geht volles Risiko mit vollem Ertrag. Eine Naturgewalt.

Celtanapoli 13. November 2021 um 10:34

Gibt es heuer wieder einen Adventskalender? Würde mich sehr freuen.

Antworten

CE 19. November 2021 um 20:41

Die Planungen laufen – stay tuned. 🙂

Antworten

tobit 24. November 2021 um 20:28

Großartig. Da freut man sich doch gleich noch ein bisschen mehr auf den Advent.

Antworten

Schonschak 17. Februar 2021 um 13:03

Wirklich tolles Porträt über einen einzigartigen Spieler! Hab ihn so geliebt bei Juventus!
Viele Dank an euch Spielverlagerungsautoren, dass ihr es schafft, neben euren (Trainer)-Jobs so überragende Beiträge zu schreiben. <3

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