Türchen 23: Florian Neuhaus

Innerhalb von zwei Jahren ist Florian Neuhaus vom Zweitligaspieler zum Nationalspieler geworden. So wie seine Karriere zuletzt steil nach oben ging, ist auch seine Spielweise sehr direkt und vertikal. Der Gladbacher Mittelfeldspieler verkörpert, was manche als „vertikales Tiqi-taca“ bezeichnen: ein technisch versiertes, flaches Ballbesitzspiel, in dem man aber sehr direkt Richtung Torerfolg spielt und weniger Seiten wechselt und den Gegner bewegt.

Augenfällig sind Neuhaus‘ technische Fähigkeiten: Er kann mit seinen Dribbelfähigkeiten hervorragend in engen Spielen, hat ein sehr gutes Passspiel, eine hervorragende Ballverarbeitung. Wie er diese Fähigkeiten aber taktisch nutzt, unterscheidet ihn von vielen anderen Spielmachern. Er ist fokussierter im Fordern der Bälle, wartet weniger, bindet Gegenspieler mehr mit dem Ball als ohne.

Ballforderungsverhalten statt Freilaufverhalten

Das Wort „Freilaufen“ bezeichnet zwei Aspekte: Explizit sagt der Begriff, sich so zu bewegen, dass man „frei“ wird, dass also der Gegner die Deckung aufgibt, man offenen Raum findet. Im Kern geht es beim „Freilaufen“ aber darum, eine Anspielstation zu bieten.

Insofern suggeriert der Begriff, man müsse vom Gegner wegkommen, man müsse in offene Räume kommen, um eine Anspielstation zu sein. Das muss man aber gar nicht, wie beispielsweise Florian Neuhaus eindrucksvoll unter Beweis stellt: Man kann auch unter gegnerischer Deckung, auch in kleinen Räumen eine Anspielstation bieten.

Insofern ist für Neuhaus‘ Bewegungen ohne Ball der Begriff „Ballforderungsverhalten“ zutreffender als „Freilaufverhalten“. Wenn seine Mitspieler unter Druck sind und Passoptionen rar werden, kommt er immer wieder zum Ball, auch wenn er selber unter Druck ist, auch wenn mehrere Gegenspieler um ihn herum den Raum eng machen. Wichtig dabei: Er joggt nicht einfach nur Richtung Ball, aus dem ungefähren Gefühl, helfen zu müssen – ein häufiger Fehler von Mittelfeldspielern –, sondern kommt in gutem Tempo mit Lösungsidee, versucht dabei eine günstige Position zum Gegenspieler zu bekommen und fordert den Ball auch verbal und mit seiner Körpersprache.

Nicht zufällig hat Neuhaus daher nach Kimmich, Witsel und Bellingham die meisten Pässe pro 90 Minuten unter den zentralen Mittelfeldspielern der Bundesliga; deutlich mehr als alle, die nicht für Bayern, Dortmund oder Leipzig spielen.

Auflösen und Durchspielen von Drucksituationen

Das Risiko, das Neuhaus‘ extremes Zulaufen mit sich bringt, sind offenbar Ballverluste in einer sehr offenen Mannschaftsstellung nah am eigenen Tor mit wenig Absicherung. Durch die Bewegung in Richtung Ball kommt man als Mittelfeldspieler auch häufig in eine schlechte Körperposition mit schlechtem Sichtfeld, kann schwer wahrnehmen, aus welcher Richtung man Druck bekommen oder in welche Richtung man offene Optionen finden kann.

Neuhaus ist aber herausragend gut darin, diese Drucksituationen erfolgreich aufzulösen, nicht nur aufgrund seiner technischen Fähigkeiten. Er hat ein herausragendes Gespür dafür, wie die Gegenspieler um ihn herum sich bewegen und wann er von wo angelaufen werden kann, auch wenn es außerhalb seines Sichtfelds stattfindet. Er ist im Anlaufen des Balles und der Ballverarbeitung sehr schwer zu lesen, kann zum einen aus einer Körperposition in viele Richtungen gehen und hält außerdem seine Körperbalance meistens so, dass er sie sehr schnell ändern kann, falls Gegenspieler darauf reagieren, ein bisschen wie ein Seiltänzer.

Auf diese Weise vermeidet er hervorragend, dass er Druck auf den ersten Ballkontakt bekommt, am Ball wie auch am Körper. Dadurch kann er den ersten Kontakt meistens sauber und ungestört nehmen. Oft nutzt er das für Direktpässe in offene Räume. So kann er Pressingfallen auflösen und Spieler anspielbar machen, die zuvor im Deckungsschatten waren, eine taktische Grundfähigkeit, um Pressingstrukturen auszuhebeln und gegen einen anlaufenden Gegner konstant weiter auf den freien Spieler zu kommen.

Falls die direkte Anspielstation geschlossen ist, muss der Gegner weniger Absicherung im Rücken von Neuhaus haben, was er ebenfalls erkennt und bespielen kann. Nach dem ersten Kontakt kann er mit zahlreichen Dreh- und V-Bewegungen und auch komplizierteren Dribblingbewegungen auf das gegnerische Pressing reagieren, löst sich dadurch sehr häufig schon früh gegen den ersten Gegenspieler, behält dabei eine enge Ballkontrolle und kommt in der Folge auch gegen weitere Gegenspieler gut durch.

Kombinationsspiel und Folgebewegungen

Neben seinen Dribblings kann er auch kleinräumige Kombinationen nutzen, um die Drucksituationen durchzuspielen. Insbesondere wenn der Gegner nicht in enger Zuordnung verteidigt, gelingt ihm oft, in seiner Ballverarbeitung mehrere Verteidiger auf sich zu ziehen und damit Freiheiten für die Mitspieler in seiner direkten Umgebung zu schaffen.

Über saubere, kurze Ablagen kann er diese dann einsetzen. Herausragend sind hierbei seine Folgebewegungen. Nach Kurzpässen bewegt er sich immer mit gutem Timing und guter Richtung weiter, um gegenseitiges Blockieren zu verhindern, Gegenspieler weiter zu binden und für Folgepässe anspielbar zu werden.

Auch hier wiederum ist ein gewisser Risikofaktor, weil die sinnvollste Folgebewegung aus Engen meistens nach vorne gerichtet ist, daher kann es passieren, dass die Position vor der Abwehr verwaist und Neuhaus dann im Falle eines Ballverlustes nicht von der Sechs aus nach vorne verteidigen kann, sondern sofort überspielt ist.

Seine Dribbel- und Kombinationsfähigkeiten sind desweiteren auch in höheren Positionen äußerst nützlich. Daher schaltet er sich regelmäßig in offensiven Räumen ein und kreiert Situationen im Angriffsdrittel, kann generell auch auf höheren Positionen als der Sechs spielen. Auch das ist im Rahmen der Sechserposition natürlich potentiell ein Risikofaktor, macht sein Offensivspiel aber noch kompletter und effektiver. Potentiell kann man ihn dadurch auch als freien Überladungsspieler in die Offensive einbinden.

Später Pass nach außen

Auch unter geringem Druck hat Neuhaus eine relativ risikobereite Spielweise, versucht zusätzlichen Raum für seine Mitspieler und direkte Angriffe anzuleiten, spielt seltener Verlagerungen, nur um den Gegner zu bewegen. So priorisiert er nicht unbedingt den freisten Mitspieler, sondern auch den tornächsten und zentralsten, spielt also mehr durch die Mitte als andere. Gerade in Verbindung mit einem hervorragenden Ablagenspieler wie Stindl und der generellen Gladbacher Spielanlage mit vielen Gegenbewegungen in der Spitze, kann er dadurch immer mal wieder sehr schnelle, direkte Spielzüge durch die Mitte auslösen.

Falls der Gegner auf diese Ansätze reagiert und sich massiv in der Mitte zusammenzieht, öffnet sich zusätzlicher Raum auf dem Flügel. So kann wiederum der Außenverteidiger direkter nach vorne spielen, weil dessen Gegenspieler in engere Position, eventuell sogar in Körperposition und Bewegung nach innen gezwungen werden, den Raum vor dem Außenverteidiger dadurch später und langsamer schließen können.

Für den mannschaftsstrategischen Kontext bemerkenswert ist dabei, dass die Elemente seiner Spielweise ziemlich stringent sind. Er kann aus Drucksituationen heraus, aber auch als freier Spieler eine ähnliche Spielweise anleiten. Das macht es leichter, die Spielweise und die Besetzung der Offensive zu planen, und macht es schwieriger für den Gegner, spezifisch auf Neuhaus zu reagieren, indem man ihn etwa passiver verteidigt als die anderen Mittelfeldspieler.

Tief spielen

Im klassischen Sinne „risikoreich“ ist auch seine Orientierung und sein Passspiel in die Tiefe. Ohne Druck kann man sehr gut beobachten, wie lange und aktiv er nach Optionen für „Risikopässe“ in der Tiefe sucht; aus Drucksituationen heraus kann man immer wieder beobachten wie schnell und hervorragend er in diesem Aspekt ist. Sehr oft kann er direkt aus Drehungen heraus oder mit schwierigem Sichtfeld Möglichkeiten für den tiefen Pass erkennen und ist daher manchmal sogar in der Lage, den Pass hinter die Abwehrlinie sogar flach durch das Mittelfeld durchzuspielen.

Auch aus Dribblings und Kombinationen heraus gelingt es ihm oft, sofort die Orientierung in die Tiefe zu finden. Das ist ziemlich schwer, weil man innerhalb einer komplexten, zentralen Drucksituation auf sehr viele Kleinigkeiten in den Mitspieler- und Gegenbewegungen der direkten Nähe achten muss, um das Risiko der Situation möglichst gering zu halten. Dadurch haben viele Fußballer Probleme damit, aus solchen kleinräumigen Situationen heraus dann wieder den Blick in die Tiefe und in ballferne Räume zu bekommen.

Seine Ballverarbeitungs- und Dribblingfähigkeiten helfen ihm hier auch dabei, sich sehr schnell Passoptionen zu öffnen, die die Verteidiger dann schwierig antizipieren können. Wenn der gegnerische Sechser gerade mit Rücken zum Tor unter Druck den Ball behauptet, rechnet man als Innenverteidiger normalerweise nicht damit, dass er nach der nächsten Drehung sofort tief spielen kann. Dadurch wird es für die Abwehrlinie auch schwieriger, rechtzeitig zurückzufallen. Dadurch ist Neuhaus ein wichtiges Puzzlestück in Gladbachs direkten Schnellangriffen, wovon Spieler wie Embolo und Thuram dann profitieren können.

Vorwärtsdenken im Defensivverhalten

Typisch für offensiv denkende Spieler ist auch eine gewisse Risikobereitschaft im Defensivverhalten. Bei manchen besteht das „Risiko“ schlichtweg in mangelnden Zweikampffähigkeiten oder mangelnder defensiver Beteiligung. Bei Neuhaus sind es eher Kleinigkeiten im Bewerten von Situationen und im Stil der Zweikampfführung.

Im Lesen der gegnerischen Angriffe ist er sehr gut und kommt daher recht oft frühzeitig in Balleroberungen. Mit mehr Schnelligkeit und einer typischen Pressingspieler-Athletik könnte er diese Fähigkeiten aber noch öfter und effektiver einbringen; in dieser Hinsicht ein klassisches Spielmacherprofil. Eher ungewöhnlich ist, dass Neuhaus aber athletische Defizite nicht durch Passivität kompensiert wie etwa ein Andrea Pirlo, sondern trotzdem oft aus der Position heraus nach vorne verteidigt. Dadurch ist er in der aktiven Balleroberung ein geringerer Risikofaktor (dem Gegner zu viel Zeit lassen) als manche ähnlichen Spieler, andererseits kann das Zurückkommen in die Position dann in manchen Situationen problematisch sein.

Außerdem neigt er dazu, eher die Balleroberung als einen gegnerischen Zweikampferfolg zu antizipieren, nimmt daher in schnellen, engen Situationen weniger absichernde Positionen ein, sondern positioniert sich eher auf das offensive Umschalten. Häufig ist das ein entscheidender Faktor in der Fortsetzung nach zweiten Bällen. Neuhaus‘ Interpretation ist ein Vorteil bei gewonnenen, ein Nachteil bei verlorenen Bällen, also ein klassischer Trade-off zwischen Risiko und Ertrag.

Unter’m Strich ist Neuhaus vor allem ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man Spielelemente, die gemeinhin als „zu riskant“ gelten, mit positiven Ertrag nutzen kann und auf diese Weise eine überlegene taktische Spielweise erzeugt. In einigen Aspekten bleibt dennoch einiges von diesem Risiko bestehen und erzeugt eine insgesamt offensivere Spielweise, die hier und da auch mal dem Gegner Möglichkeiten zugesteht.

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