Türchen 7: N’Golo Kanté
In der Saison 2018/19 hat sich der FC Chelsea bei der Trainersuche besonders lange Zeit gelassen. Es war zwar frühzeitig klar, dass es mit Antonio Conte nicht weitergeht, bis Contes präsentiert wurde ist jedoch viel Zeit verstrichen. In der Mannschaft und bei den Fans machte sich Unsicherheit breit und erst am 14. Juli wurde Ex-Napoli Trainer Maurizio Sarri als neuer Manager bestätigt.
Doch Sarri kam nicht alleine, mit aus Neapel nahm er seinen „Regista“ Jorginho mit. Nachdem Sarri keinen Hehl daraus machte, dass das 4-3-3 ,welches er bei Napoli jahrelang implementiert hatte, seine präferierte Formation war, wurde schnell klar, dass Jorginho die Position des Ankersechsers bekleiden würde. Was wiederum die Frage aufwarf: Wo sollte Chelseas großer Held, N’Golo Kanté, spielen? Sarri hatte hierfür schon seine Pläne geschmiedet, diese kamen jedoch im Umfeld der Blues schlecht an.
In sehr, sehr, sehr vielen Medien wurde Sarri dafür kritisiert, dass er N’Golo Kanté als rechten Achter aufstellte, was laut den kritischen Stimmen entgegen des Naturells des Weltmeisters sein sollte. Immerhin wurde, laut diesen Experten, N’Golo Kanté als Sechser Weltmeister und zweifacher Premier-League-Sieger. Dementsprechend müsste N’Golo Kanté ja der geborene Sechser für das System Sarri sein. Doch stimmte das überhaupt?
Halbraumrandale und Ausweichen am Flügel
Bei seinen bisherigen Stationen bekleidete Kanté stets den offensiveren Part einer Doppelsechs. Von da aus hatte er einerseits alle Freiheiten nach vorne und konnte große Räume abdecken. Andererseits war er dank des defensiveren Sechser nicht allzusehr in den Spielaufbau eingebunden. Bei Leicester war das Drinkwater, bei Chelsea Nemanja Matic und in der französischen Nationalmannschaft mit Abstrichen Paul Pogba.
„Es kommt darauf an wie man den Fußball sieht. Auf der Sechser-Position brauche ich einen sehr technischen Spieler, mit vielen Ballkontakten und vielen Pässen. Das ist nicht unbedingt N’Golos größte Qualität.“
Maurizio Sarri
Hinzu kam, dass die bisherigen Trainer von Kanté auf eine vergleichsweise reaktive Spielweise gesetzt haben und der strukturierte Spielaufbau dementsprechend nicht dermaßen im Vordergrund stand. Bei Sarri war die Sechs das Herzstück und der Startpunkt jedes Angriffes. Jorginho agierte die meiste Zeit mit dem Rücken zum gegnerischen Tor und stand dadurch stets unter hohem Druck durch das gegnerische Pressing. Diese Rolle traute Sarri dem athletisch-wuchtigen und durchschlagkräftigen Publikumsliebling offenbar nicht zu. Wurde Jorginho rausrotiert, ersetzte ihn zunächst Cesc Fabregas, später Matteo Kovacic.
N’Golo Kantés neue Position war jedoch nicht nur aus der Not geboren, weil der Franzose die notwendigen Anforderungen für die Sechserposition nicht mitbrachte, sondern vielmehr dem Umstand geschuldet, dass Kantés Qualitäten eine Etappe weiter vorne viel wertvoller waren.
Kanté mag zwar in geschlossen Situationen, welche in einem geordneten Spielaufbau im ersten Drittel stattfinden große Schwierigkeiten haben, doch in chaotischeren Umschaltsituationen im ersten und zweiten Drittel blüht der kleine Franzose regelrecht auf. Durch immense Wucht und bemerkenswertem Timing im Gegenpressing, kommt er immer wieder an den Ball und kann diesen dann unter Druck sehr gut behaupten. Hierbei wird klar, dass Pressingresistenz als Qualität und Begriff dehnbar ist.
Jorginho ist im ersten Ballvortrag definitiv der pressingresistentere Spieler, doch Kanté ist weiter vorne auf seine Art und Weise wohl einer der pressingresistentesten Spieler Europas. Und obwohl Kanté mit dem Rücken zum gegnerischen Tor seine Schwächen hat, konnte er als rechter Achter das Spiel seiner Mannschaft immer wieder nach vorne antreiben.
Sarri sah für Kanté vor, dass er einerseits durch seine Dynamik im Halbraum durchbrechen sollte, andererseits sollte er als rechter Achter auch immer wieder auf den rechten Flügel ausweichen um den Raum im Rücken des gegnerischen Außenverteidigern Platz auszunutzen.
Die Ballmitnahme von Kanté wirkt auf den ersten Blick technisch oft unsauber, suboptimal getimt und insgesamt schlichtweg unkonventionell. Es verspringen ihm oft Bälle und er stürzt sich dadurch gleich ins nächste Umschalt-Duell. Dies dürfte in einer tieferen Aufbauzone wohl keineswegs erwünscht sein, doch in der gegnerischen Hälfte ist Kanté dadurch eine Waffe. Wenn er den Ball in einer offenen Stellung zugespielt bekamt, schaffte er es dynamisch in den Halbraum aufzudrehen und überbrückte damit sehr schnell den Raum und war für den Gegner vor allem wegen seiner unsauberen Ballbehandlung schwer zu stoppen. Es kam nicht selten vor, dass der Gegner am Ball vorbeihaute, wenn er von Kanté vorher unsauber verarbeitet wurde. Die Flugkurve und Dynamik des Balles schien für den Gegner zufällig und unvorhsehbar zu sein, doch Kanté konnte abschätzen wo der Ball als nächstes aufspringen wird. Dadurch konnte er entweder gleich an den Gegner vorbeisprinten oder vorzeitig ins Gegenpressing gehen.
Diese Stärken wurde auf der Acht natürlich besonders betont. Kanté hielt sich fast durchgehend im offensiven rechten Halbraum auf und Chelsea konnte von dort aus sehr vertikal durch die Halbspur ins letzte Drittel kommen.
Wie eingangs erwähnt, sollte Kanté vom langwierigen und peniblen Aufbauspiel Sarris im ersten Drittel verschont bleiben. In erster Linie unterstützten die tiefen Außenverteidiger und Jorginho die beiden Innenverteidiger der Blues. Nachdem der progressive Ballvortrag für Sarris Teams schlichtweg nicht zur Debatte stand, hatten sich rasch alle Gegner in der Premier-League auf „Sarri-Ball“ eingestellt und setzten Jorginho in Manndeckung und die Außenverteidiger stark unter Druck, im Bestreben den Spielaufbau der Blues zu unterbrechen.
Um darauf reagieren zu können, hatte Sarri zwei Mechanismen implementiert. Einerseits ließ sich einer der beiden Achter zu Jorginho zurückfallen und bildete dynamisch eine Doppelsechs um die Mannorientierungen auf Jorginho aufzubrechen, andererseits agierten die Außenverteidiger leicht eingerückt, was wiederum den Flügelstürmern die Möglichkeit gab als sehr tiefe Breitengeber einen weiteren Ausweg im Spielaufbau zu bieten.
Der unterstützende Achter war dabei bemerkenswerterweise fast immer der linke Achter (Kovacic, Loftus-Cheek oder Barkley) und praktisch nie Kanté. Hinzu kam außerdem, dass der tief-breitangebende Flügelstürmer selber schnell unter Druck geriet, weil der gegnerische Außenverteidiger ihn verfolgte. Das wiederum sollte Raum für Kanté öffnen.
Nachdem Sarris Mannschaften mit sehr vielen Spielern im ersten Drittel das Spiel aufbauten, war der Gegner entsprechend gezwungen viele Spieler ins Pressing zu schicken um den Spielvortrag zu unterbrechen. Für Sarri war es daher wichtig, dass seine Spieler über dritter-Mann-Läufe hinter den pressenden Gegner rochieren konnten. Hierfür war bei Chelsea in erster Linie Kanté zuständig. Auch hier half ihm seine enorme Dynamik im Besetzen von Räumen um als freier, dritter oder vierter Mann immer wieder hinter das Pressing des Gegner zu kommen.
Wollte der Gegner den tief entgegen-kommenden Flügelstürmer der Blues anpressen musste der Außenverteidiger tief in die gegnerische Hälfte pressen und Kanté konnte durch gutes Timing in den Rücken des Außenverteidigers und ließ sich durch seinen unkonventionellen First-Touch auch nicht so leicht durch einen durchsichernden Innenverteidiger aufhalten. Kanté verstand es sehr gut auf den richtigen Moment abzuwarten bevor er den Tiefenlauf startete. Seine großen Stärken in Antizipation und Durchschlagskraft sieht man auch im nächsten Beispiel.
Tiefenläufe und Pressing
Freilich versuchten nicht alle Gegner von Chelsea ihr Heil im Offensivpressing. Viele Gegner führten den Spielaufbau der Blues ad absurdum indem sie sich mit Mann und Maus in der eigenen Hälfte verschanzten und darauf verzichteten Sarris Team anzupressen.
Um den tiefen Block zu knacken betonte Sarri immer wieder wie wichtig es sei den Ball laufen zu lassen und abseits des Balles immer in Bewegung zu bleiben. War der Ball schnell unterwegs, so war ein kurzer Flachpass auf Kanté oft ein Entschleuniger für den Spielfluss der Blues. Entsprechend wenig wurde Kanté im Spielfluss eingebunden. Doch in den Läufen abseits des Balles hatte Kanté große Stärken. Durch sein strategisches Denken konnte er einerseits immer wieder Raum für seine (ballsichereren) Mitspieler aufreißen, andererseits attackierte er immer wieder direkt den Raum hinter der letzten Linie des Gegners und bot sich damit immer wieder für einen der Lupfer-Ball Jorginhos hinter der Abwehr an.
Durch die starken Mannorientierungen entstanden bei den Gegnern im tiefen Block oft Sechserketten in der letzten Linie, was wiederum dazu führte, dass auch im Zentrum die Spieler mannorientiert verteidigt wurden. Durch die tiefen Stürmer des Gegners landetet Jorginho somit oft in einem regelrechten Käfig. Freilich sind solche engen Situationen nicht unbedingt die Kernkompetenz von Kanté. Mehrere Ballwechsel kann sich das hochstehende Team von Sarri gegen solche Gegner nicht unbedingt leisten, Kanté unterbrach immer wieder den Spielfluss seiner Mannschaft und hinter dem verteidigenden Gegner befand sich naturgemäß wenig Raum zum Ansprinten.
In solchen Situationen kamen wieder die strategischen Stärken von N’Golo Kanté zum Vorschein. Er erkannte immer wieder den Schlüsselspieler in den eigenen Reihen, welcher in einem bestimmten Setting die besten Möglichkeiten hatte den öffnenden Pass zu spielen. Hatte Kanté das Ziel, also den potenziell freizuspielenden Mann, erstmal identifiziert, setzte er alles daran diesen aus dem festen Griff des Gegners zu befreien. Im Beispiel gegen Arsenal war dieser Zielspieler wie so oft Jorginho.
Zwischen Torreira, Guendozi, Iwobi auf der einen Seite und Aubameyang und Özil auf der anderen Seite waren Kanté und Jorginho im „Arsenal-Käfig“ gefangen. Kanté startete einen Bogenlauf in die Schnittstelle zwischen gegnerischen Außen- und Innenverteidiger. Arsenals Mittelfeld „musste“ diesen Lauf aufnehmen um zu verhindern, dass Kanté entweder direkt von Azpilicueta oder über Breitengeber Pedro wieder durch den rechten Halbraum randalieren konnte. Torreira nahm den Lauf Kantés auf und öffnete dadurch unfreiwillig einen kleinen diagonalen Kanal für Azpilicueta. Jorginho lief sich in diesen frei und bekam das ideal getimte Zuspiel und konnte sich sofort Richtung Cech aufdrehen.
Dabei nutzt Kanté diese raumgewinnenden Freilauf-Movements vor allem wenn die Blues über die linken Seite das Spiel aufbauten. Dies würde wiederum darauf hinweisen, dass diese Spielzüge von Maurizio Sarri vorgegeben waren und das Freilaufverhalten abseits des Balles eingeschliffen wurde. Auch in diesem Beispiel startete der Angriff auf der linken Seite und erst als Alonso und Hazard durch den zurückfallenden Mkhitaryan in einer Sackgasse landeten, wurde das Spiel verlagert und Kanté lief wiederum erneut den rechten Halbraum durch.
Neben dem Bestreben Kantés Stärken in Ballbesitz adäquat einzubinden, ist N’Golo Kanté in erster Linie für seinen Fleiß in der Arbeit gegen den Ball bekannt. Die ganz große Qualität von Kanté sind seine tadellos getimte Zweikampfführung und seine scheinbar unendliche Ausdauer. Auch hier passte das 4-3-3 sehr gut zu Kantés Spielweise. Einerseits konnte er, wie eingangs erwähnt, eine Etappe weiter vorne ins Gegenpressing nach Ballverlust gehen und somit etliche Umschalangriffe für sein Team kreieren.
Andererseits wurde Kanté auch im geordneten Pressing sehr gut eingebunden. Unter Maurizio Sarri war das Pressing ein essentieller Teil des Spieles. Die Offensivreihe war angehalten den Gegner stetig anzulaufen und ihm dauerhaft Stress zu machen. Dabei versuchte der Solo-Neuner oft den Gegner auf die Außenbahn zu leiten. Öffneten sich neben dem Mittelstürmer Räume ins Zentrum, mussten die Achter aus der Formation „stechen“ um den Gegner in der Mitte unter Druck zu setzen. Diese Rolle war wie gemacht für Kanté, der im Anlauf- und Pressingverhalten eine unheimliche Präzision hat. Vor allem in unübersichtlicheren Situationen wusste Kanté stets in welchem Moment er ins Pressing gehen muss, entwickelte dabei sehr schnell Topspeed was es dem Ballführenden sehr schwer machte noch auszuweichen. Trotz seiner kleinen Große konnte sich Kanté, wahrscheinlich dank eines tiefen Körperschwerpunktes, vor dem Gegner breit machen und ihn an jeglichem Weiterkommen hindern. Durch das Vordecken und Rausstechen von Kanté konnte Chelsea mehrere hohe Ballgewinnne verzeichnen.
Fazit
Sarri musste für viele seine Personalentscheidungen zurecht Kritik einstecken. N’Golo Kanté als rechten Achter zu bringen machte jedoch durchaus Sinn. Mit dem Ball entsprechend seinen Stärken eingebunden, die Schwächen wurden kaschiert. Auch gegen den Ball war Kanté im 4-3-3 eine Waffe.
Am Ende sprang nicht nur der Europa-League Sieg heraus, sondern auch der dritte Platz in der Premier League, hinter Manchester City und Liverpool aber noch vor Pochettinos Tottenham. Und ganz nebenbei erwähnte Kanté schließlich diese Saison, dass Neo-Blues-Manager Frank Lampard ihn diese Saison nicht unähnlich einsetzt.
2 Kommentare Alle anzeigen
tobit 7. Dezember 2019 um 15:03
Da hat mich das Frankreich-Wappen Mal völlig verwirrt. Aber zwei Chelsea-Wappen so kurz hintereinander wären auch schräg gewesen.
Viele Dinge klingen nach der alten Thomas Müller Schule, nur umgemünzt auf einen defensiven Mittelfeldspieler. Beide werden dann gerne auf ihre entscheidenden Aktionen in direkter Ballnähe reduziert während der Rest ihres Spiels (der viel wertvoller für das Team ist) vergessen wird.
AG 7. Dezember 2019 um 14:48
Fantastischer Spieler mit einem wahnsinnigen Zugriffsradius.