Aspektanalyse: All-In.

2:1

Der Gegner bekommt in der 41. Minute einen Elfmeter zugesprochen. Der Übeltäter muss mit rot vom Platz. Der Elfmeter wird verwandelt. Knapp 50 Minuten in Unterzahl. Spiel gelaufen. Oder etwa nicht?


Wie Holstein Kiel grundsätzlich Fußball spielt und was daran so besonders (verrückt) ist, wurde an dieser Stelle bereits ausführlich dargelegt. Die Störche zählen damit zweifelsohne zu den außergewöhnlichsten Mannschaften im professionellen Fußball.

4:0-Niederlagen wie in der vergangenen Woche beim 1.FC Köln können da schon mal vorkommen. Wie sehr gewisse Prinzipien und der Mut an sich zur Identität von Holstein geworden sind, zeigte sich aber nie so eindrücklich wie gegen den FC St. Pauli – und das insbesondere im 10 gegen 11.

Pressing: Verändern, ohne eigentlich etwas anders zu machen

Die (nicht unumstrittene) Hinausstellung des linken Innenverteidigers Thesker erfolgte nur wenige Minuten vor dem Halbzeitpfiff. Durch die Verzögerungen im Zuge der Ausführung wäre ein Wechsel zwar möglich, aber entsprechend wenig sinnvoll gewesen. Viele Mannschaften hätten hier in der Regel erst einmal auf eine konservative Umstellung gesetzt – sowohl was Herangehensweise als auch was Formation angeht. Sich in die Halbzeit retten und dann schauen, was noch möglich ist.

Kiel tat aber einfach so, als wäre Thesker noch irgendwie mit dabei. Jedenfalls wurde aus dem standardmäßig genutzten 4-Raute-2 einfach ein 3-Raute-2. Van den Bergh kümmerte sich neben Wahl vermehrt um die Verteidigung des Zentrums, sodass die linke Abwehrseite zunächst ein wenig vakant blieb. Sie wurde nun eher von Achter Meffert mit aufgefüllt. Van den Bergh stellte Gleichzahl gegen die Angreifer St. Paulis her.

St. Pauli wurde weiterhin früh angelaufen. Einer der Stürmer lenkte einen der Innenverteidiger auf eine Seite, während der andere Stürmer dort darauf lauerte, den anderen Innenverteidiger oder auch den tiefen Außenverteidiger zu attackieren. Lee deckte derweil als Zehner den tieferen der beiden Sechser St. Paulis. Die Folge: Lange Bälle unter Druck.

Torhüter Brodersen erwies sich jedoch als durchaus guter Fußballer und brachte etwa in der unten dargestellten Szene den Ball auf den offen gelassenen Rechtsverteidiger Carstens. Von dort sollte direkt zur Gleichzahlsituation an der (Rest-)Kette Kiels weitergespielt werden. Dehm gelang es den entsprechenden Pass noch in letzter Sekunde abzufangen.

In der Pause veränderte Tim Walter die Formation seiner Mannschaft etwas, ohne aber einen personellen oder strategischen Wechsel vorzunehmen. Sein Team startete nunmehr aus einer Ausgangsposition im 3-4-2.

Van den Bergh, Wahl und Dehm bildeten eine weiträumig agierende, „echte“ Dreierkette. „Echt“, da die Flügelspieler davor, Okugawa und Mühling, sich kaum einmal mit zurückfallen ließen. Die Doppelsechs bestand mit Meffert und allen voran Karazor, der ein herausragend gutes Spiel machte, aus zweikampfstarken Akteuren. Vorne gaben Lee und Honsak ein bewegliches Sturmduo.

Aus dieser Formation blieb das Pressing betont aktiv. Die Flügelspieler sollten früh auf die Außenverteidiger pressen, während die Stürmer weit zur Ballseite herüberschoben und der ballferne von beiden den tieferen Sechser aufnehmen konnte. Der seitliche Spieler der Dreierkette sollte dann direkt auf den Flügelspieler St. Paulis gehen.

Dadurch verhielten sich diese seitlichen Verteidiger phasenweise wie Außenverteidiger in einer Viererkette, während Wahl wie der zentrale Innenverteidiger einer Dreierkette agierte und sich vor allem im Duell Mann gegen Mann mit Alex Meier messen musste.

Die Herangehensweise hatte dahingehend Erfolg, dass St. Pauli nun tatsächlich unkontrollierte lange Bälle schlagen musste, die von der Abwehrkette antizipiert und erlaufen werden konnte, sodass eine Sicherung des Ballbesitzes möglich wurde.

Nachdem Holstein Kiel das Spiel durch den daraus resultierenden Ballbesitz, der gleich noch ausführlich behandelt wird, gedreht hatte, wurde das 3-4-2 nunmehr im klassischen Sinne auch mehr als ein solches gespielt.

Doch die Störche vermieden es, sich passiv am eigenen Strafraum zu verschanzen. Vielmehr wurde aus einem (hohen) Mittelfeldpressing agiert. Gleichwohl gab es weiterhin einzelne Momente hohen Anlaufens. Diese Rhythmuswechsel sollten verhindern, dass St. Pauli überhaupt erst zu einem Spielfluss findet.

Die Formation passte zudem ziemlich genau zur Herangehensweise der Gäste. Diese besetzten zunächst die vorderen Flügelzonen nahezu überhaupt nicht. Die Außenverteidiger blieben tief oder schoben etwa bis zur Mittellinie hoch. Die dribbelstarken Außenspieler Sobota und Möller Daehli rückten ins Zentrum ein. Somit konnten sich Van den Bergh und Dehm ebenfalls auf die Verteidigungsarbeit in der Mitte konzentrieren.

St. Pauli verpasste es die Dreierkette auseinanderzuziehen oder zumindest vor tatsächliche Entscheidungen zu stellen. Auf Verlagerungen in Richtung Flügel und das dynamische Vorstoßen eines Außenverteidigers konnte aufgrund der Klarheit der Aktion im Zweifelsfall auch noch der Flügelspieler reagieren.

Erst mit der Einwechslung von Zehir für Buballa und der damit einhergehenden Umstellung auf eine Art 3-Raute-3 blieben sowohl Möller Daehli als auch Sobota vermehrt breit, während das Zentrum ohnehin vielzählig besetzt war.

Die Störche waren bemüht, diesen Bereich des Feldes ebenfalls kompakt zu halten und der Dreierkette dann nur leicht vorausschaubare Pässe zum Flügel spielen zu lassen. Dabei ergaben sich situativ auch einmal Staffelungen im 3-3-3.

Durch die Anpassung von St. Pauli bekamen die Sechser eine noch entscheidendere Rolle. Sie füllten vermehrt die Lücken zwischen Wahl und den seitlichen Verteidiger. Etwa wenn Knoll zu einem seiner Tiefenläufe von der Sechserposition aus ansetzte. Gleichzeitig konnten sie auch Wahl gegen Meier unterstützen.

Kiel versuchte es zudem situativ einmal, die Gäste bewusst ins Zentrum zu lenken und von der tatsächlichen Nutzung der Breite abzuhalten. Durch die wenig strukturierte Positionierung der eigentlich vorhandenen numerischen Präsenz im Zentrum, erschien dies durchaus vielversprechend. Zumeist suchte St. Pauli dann aber sowieso direkte Verlagerungen. Erst spät gelang es ihnen so, wie wahnsinnig gegen den Ball arbeitende Kieler, zurückzudrängen…

Ballbesitzspiel: Aus 4 mach 3+1

Möchte man beschreiben, was Kiel im Vergleich zur Hinrunde mit Ball noch besser macht, lassen sich grob drei Punkte nennen:

  1. Noch größeres Repertoire an Rotationen, die auch nicht mehr so dominant vom Hochschieben der Innenverteidiger getragen werden wie phasenweise zuvor. Diese sind weiterhin ein entscheidender Teil, aber eben nur einer von vielen.
  2. Mit Schindler und Kinsombi fehlen zwei Schlüsselspieler, doch deren Abstinenz fällt häufig kaum auf, da sich die Spieler aus der zweiten Reihe (Okugawa, Honsak, vor allem Karazor) stark verbessert zeigen und nunmehr fast unumstrittene Stammspieler sind. Währenddessen haben auch ohnehin etablierte Kräfte wie Dehm noch einmal zugelegt
  3. Vermehrte Einbindung des Torhüters in höherer Position als Rückpassoption, um den Ballbesitz effizienter zu sichern, während die Möglichkeit einer schnellen Verlagerung besteht

Alle Punkte ließen sich beim Ballbesitzspiel im 10 gegen 11 in der Phase um die beiden Tore eindrücklich beobachten. Durch das Wegfallen von Thesker wurde insbesondere Torhüter Kronholm nun deutlich aktiver ins Ballbesitzspiel einbezogen. Die drei Spieler unmittelbar vor ihm zeigten sich flexibel in der Positionsfindung – allen voran Dehm. Dabei besetzte Kiel die letzte Linie weiterhin vielzählig und versuchte zunächst in seitlichen Zonen vorzustoßen. Siehe folgendes Beispiel:

Der Elfmeter zum Ausgleichstreffer lieferte zudem in vielerlei Hinsicht hervorragendes Anschauungsmaterial. Nach einem Freistoß hatte Kronholm den Ball zunächst von der Mittellinie erneut nach vorne befördert. Doch auch der zweite Versuch landet schließlich wieder an der Stelle, wo zuvor alles begann.

Kiel bildet also kurzerhand eine Dreierkette aus Van den Bergh, Kronholm und Wahl. Dehm bleibt vorne im Zentrum, das noch von vier weiteren Spielern massiv besetzt ist. Okugawa und Mühling halten auf unterschiedlicher Höhe die Breite.

Nun lassen die Störche etwas den Ball laufen. Wahl rückt ins Mittelfeld auf und zieht Buchtmann mit sich. Dehm geht kurzzeitig sogar so weit hoch, dass er auf halblinks der am höchsten postierte Spieler der eigenen Mannschaft ist. Kronholm wird halbrechts von Meier angelaufen. Mühling fällt unterstützend zurück und füllt die Position von Wahl auf. Lee setzt sich ebenfalls nach hinten ab, um für ein unmittelbares Zuspiel zur Verfügung zu stehen.

Kronholm spielt jedoch den sicheren Pass zu Mühling nach rechts, lässt sich anschließend zurückfallen und bekommt den Ball erneut. Im Zusammenspiel mit Van den Bergh bringt er den Ball nach links, wo eine Überladung erzeugt wurde. Van den Bergh spielt schließlich zu Okugawa. Die Überladung hat sich zwar aufgelöst, aber er hat ein wenig Raum für ein Dribbling.

Der Ball geht allerdings verloren. Doch Meffert presst unmittelbar gegen. Auch Karazor, Lee und Mühling schieben weit in Richtung Ball. Letzterer kann das Zuspiel von Carstens in Richtung Zentrum abfangen. In der während des Gegenpressings erzeugten Rautenstaffelung ist ein sofortiges Kombinationsspiel möglich, sodass der Ball über Karazor in den großen Raum vor St. Paulis Kette zu Lee gelangen kann.

Mühling setzt seinen Lauf ebenfalls dorthin fort. Honsak lauerte bereits an der letzten Linie und läuft ins Zentrum ein, als Mühling den Ball bekommt. Er wird genau auf der Strafraumlinie von Avevor gefoult. Elfmeter. 1:1.

Beim Treffer zum 2:1 stellt St. Pauli hoch zu. Buchtmann läuft Kronholm so an, dass Wahl im Deckungsschatten nicht anspielbar ist. Kiel hat allerdings weiterhin fünf Spieler in der gegnerischen Hälfte. Lee hält sich vor der Abwehr, Honsak in einer Position zwischen Hoogma und Buballa. Letzterer orientiert sich zudem leicht in Richtung von Mühling. Okugawa befindet sich im 1 gegen 1 mit Carstens. Dieses Duell visiert Kronholm mit einem langen Ball an. Carstens springt am Ball vorbei.

Okugawa kommt so ins 1 gegen 1 mit Avevor an der Strafraumkante. Honsak startet derweil bereits aus ballferner Position zum ersten Pfosten und zieht Hoogma mit sich. Lee sprintet in den so geöffneten Raum. Buballa kann nicht mehr rechtzeitig folgen. Etwas glücklich von Avevor abgefälscht landet der Ball bei Lee, der ihn ins Tor stochert. Dynamische Strafraumbesetzung – eine Kieler Stärke.

Das Spiel über die Zeit bringen

Mit der Führung im Rücken reagierte Walter in der 62. Minute schließlich noch einmal und nahm einen personellen Wechsel vor: Schmidt kam für Meffert ins Spiel. Somit ergab sich eine Ausrichtung im 4-2-3/4-4-1. Damit gewannen die Störche grundsätzlich an Stabilität, wurden aber auch weiterhin nicht passiv. Betrat St. Pauli ihre Hälfte, wurde weiterhin aggressiv gepresst.

Erst in der letzten Viertelstunde des Spiels, als St. Pauli noch zwei weitere Wechsel vollzogen hatte, und die Kräfte bei den Gastgebern fast gänzlich aufgebraucht waren, gelang es den Hamburgern endlich, sich tief in der Kieler Hälfte festzusetzen. Mit der Einwechslung von Allagui für Dudziak ergab sich zunächst eine Art 3-1-4-2. Als dann noch Miyaichi für Carstens kam, ging Knoll in die Abwehr zurück und es entstand so etwas wie ein 3-4-3/3-2-5.

Half aber alles nichts. St. Pauli fehlten die (gruppen-)taktischen Mittel und Prinzipien, um sich mit einem Mann mehr tatsächlich ein Übergewicht zu verschaffen. Kiel zeigte stattdessen gerade wegen der immergleichen Prinzipien eine denkwürdige Leistung im 10 gegen 11. Das teilweise Ignorieren der Unterzahl erwies sich somit als das ideale Mittel gegen sie.

Damit sind es nunmehr 3 Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz. Wenn man derart mutig auftritt, wird man wohl noch träumen dürfen…

tobit 8. April 2019 um 16:49

So wirklich ignoriert hat Kiel die Unterzahl ja eigentlich nicht. Walter hat nur fundamental anders reagiert als (fast) jeder andere Trainer. Statt einen Stürmer auszuwechseln hat er im Prinzip den Torwart runtergenommen und die gute alte „Letzter Mann hält“-Regel vom Bolzplatz auf die zweite Liga übertragen.

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