Die Raute als Euphoriebremse

3:0

Tabárez findet das passende Rezept gegen Russlands lange Bälle. Im eigenen Ballbesitz ist die neue Anordnung aber noch unkoordiniert. Die Abschlussverwertung bringt Uruguay auf die Siegerstraße.

Auf die Effektivität, die Russland im Eröffnungsspiel zum hohen Erfolg verholfen hatte, und die in vielen Details sehr wirksame Nutzung langer Bälle, wie bei der zweiten Partie des Gastgebers gegen Ägypten zu sehen, antwortete Uruguays Trainer Óscar Tabárez mit einer formativen Umstellung auf eine Art 4-3-1-2. Im Pressing bewegte sich Bentancur als Zehner zwischen den gegnerischen Sechsern und rückte gelegentlich, wenn die beiden Stürmer vorne sich etwas breiter formierten, auch in 4-3-3-0-Staffelungen vor, mit den russischen Mittelfeldkräften in seinem Deckungsschatten.

Enge Raute gegen lange Bälle

Ähnlich dürfte auch die Idee hinter dem Einsatz der beiden Achter gewesen sein: Sie stärkten die Halbräume für zusätzliche Präsenz gegen die zusammengezogenen Ballungen bei weiten Bällen bzw. den potentiell darauf folgenden Duellen um Abpraller. So wurde das kompakte Einrücken der russischen Offensivspieler ein Stück weit gekontert, Nández und Vecino versuchten ebenfalls per Deckungsschatten die Anbindung zu diesen zu verhindern. Insgesamt ging dieser Ansatz der Uruguayer gut auf: Bis auf eine einzige Szene in der Anfangsphase mit einer guten Ablage Dzyubas auf den geschickt nachstoßenden Cheryshev entstand über diese Route keine nennenswerte Gefahr.

Gegen den russischen Mittelstürmer konnte potentiell Torrerira durch Rückwärtsbewegungen helfen. Die vorrückenden Außenverteidiger der Russen wurden nach langen Bällen durch das ballnahe Herausschieben ihrer Pendants von uruguayischer Seite aufgenommen, ansonsten handelsüblich vom herausschiebenden Achter gepresst mit einer verbleibenden 2-2-Mittelfeldstaffelung. Nach zweiten Bällen, die gegen die enge Raute nach außen durchrutschten, konnte sich der Gastgeber über diese Positionen aber etwas Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte verschaffen. Von der Außenbahn aus versuchten sie häufig das Spiel über ein weites ballnahes Einschieben der umtriebigen und manchmal in ihren Verbindungen zu losen Doppel-Sechs dort zu verankern und mit dieser hohen Präsenz abzusichern.

Es ergaben sich in der Folge häufig kleine Doppelpassstrukturen direkt am Flügel, aus denen gerade Gazinsky rechts dann weiträumige diagonale Anschlussläufe startete, um in die Lücke hinter – in diesem Fall – dem gegen den eigenen Rechtsverteidiger herausgerückten Laxalt zu stoßen. Auch das bekam Uruguay aber weitgehend kontrolliert: Im Zweifel rückte Godín umsichtig heraus, meistens ließen sich diese Läufe über kurze Mannorientierungen des ballnah tiefer gebliebenen Achters aufnehmen. Aus dem defensiven Mittelfeld musste Torreira selten eingreifen, da normalerweise zunächst Bentancur die russischen Sechser lose verfolgte: In einer solchen Situation zog es ihn also mit nach außen, so dass er anschließend punktuell am Flügel in der Verteidigung mithelfen konnte.

Weniger ausgereift zeigte sich das Konzept mit der Rautenformation bei eigenem Ballbesitz. In der Grundstruktur bewegte sich Torreira als tiefster Sechser um die beiden ersten gegnerischen Pressingspieler herum, Bentancur als Zehner im Dunstkreis der gegnerischen Sechser und die nominellen Achter starteten aus den Schnittstellen der Mittelfeldkette Russlands, wobei sie sich punktuell vor deren Flügelspieler fallen ließen. So hätte Uruguay viel Präsenz und Optionen ins Zentrum bringen und wirksame Überzahlen gegen das 4-2-3-1/4-4-2 des Gastgebers schaffen können, sie bekamen diese aber kaum genutzt. Die einzelnen Bewegungsmuster fanden zu individualisiert aneinandergereiht statt und wurden nicht systematisch genug ausgespielt, vor allem nicht strategisch genug in Entscheidungs- und Positionsfindung.

Umsetzungsprobleme in Ballbesitz

Im Wesentlichen ergaben sich drei mögliche Szenarien aus dem uruguayischen Aufbauspiel heraus: Erstens lief sich der ballnahe Achter bei Ballbesitz des Außenverteidigers nach außen frei, um eine seitliche Anspielstation zu bieten. Er tat das aber oft etwas zu früh und wurde auch selten von den Kollegen unterstützt, so dass sich die Uruguayer in diesen Szenen mit zwei Spielern entlang der Außenlinie gegen das solide russische Nachschieben festliefen. Zweitens neigten die Uruguayer bei kleinen Problemen oder Verzögerungen im Aufbau schnell dazu, sich etwas zurückfallen zu lassen und tiefer anzubieten, aber damit auf die dieselbe Höhe, in der das Spiel gerade stockte.

So fielen im Endeffekt mehrere Spieler nacheinander zurück und die Aufbaustaffelungen wurden zu flach, nur selten erfolgten in diesem Kontext von den anderen zuvor eingebundenen Kollegen neue ergänzende Bewegungen. Mit den drei nominellen Offensivspielern des 4-2-3-1 konnte Russland die drei hinteren Akteure des 4-3-1-2 sehr einfach aufnehmen und zurückdrängen, diese jeweils zum Abdrehen in die Horizontalen und zum Querpass auf den nächsten Kollegen zwingen, der potentiell aber schnell auf ähnliche Weise unter Druck zu geraten drohte.

Am Ende solcher Stafetten landete der Ball häufiger beim Außenverteidiger, auf den wiederum dessen russisches Pendant mit ausreichend Vorbereitungszeit weiträumig pressen konnte. In diesen Situationen blieben fast nur noch direkte Flügellinienpässe auf ausweichende Bewegungen von Cavani und Suárez, die das Leder an der Seitenlinie festzumachen versuchten. Zwar gelang das punktuell, aber selbst dann brachte es maximal etwas Aufrückraum ein. Grundsätzlich sah die Schwierigkeit ähnlich aus wie beim ersten Szenario: Russland konnte auf außen zuschieben und erst einmal alle gefährlichen Räume blockieren, teilweise auch in Überzahl den Ball erobern.

Direktpässe mit Entscheidungsproblemen

Wenn Uruguay in den ersten Aufbauzonen etwas mehr Ruhe hatte, versuchte es gerade Cáceres mit vielen aggressiven Zuspielen auf die Stürmer, dann in Form von scharfen Diagonalpässen in Richtung der Halbräume. Solche Zuspiele stellten für die Uruguayer ein häufiges Mittel dar, wurden insgesamt aber zu überambitioniert und früh in Szenen gespielt, in denen Suárez und Cavani mit wenig Offensivpräsenz (noch) weitgehend auf sich alleine gestellt waren. Drittens gab es gelegentlich noch Szenen, in denen der ballnahe Achter etwas zu forsch in die Offensive aufrückte.

Unter diesen Voraussetzungen spielte Uruguay aus den tiefen Zonen heraus – auch ohne akuten Gegnerdruck, wiederum mit am häufigsten in Person von Cáceres – einige vorschnelle Bälle auf den am nächsten stehenden und im direkten Umfeld verbleibenden Bentancur auf der Zehn. In solchen Situationen angespielt zu werden, war nicht besonders günstig, da er sich hier gegen die russische Doppel-Sechs in Unterzahl befand und die Bälle somit selten sichern konnte. Dies war eine Quelle für Ballverluste, von denen es aus den etwas wilden Freilaufbewegungen heraus bzw. durch in jenen Konstellationen unvorsichtige Pässe ohnehin einige gab.

Insgesamt hatte also Uruguay zahlenmäßig wenige Szenen in den Offensivszenen, dementsprechend wenig Torchancen und traf zwei Mal nach dem ruhenden Ball. Wegen der Ballverluste wurde Russland nun eher über Konter gefährlich, nachdem Uruguay sie bei den langen Bällen ausgeschaltet hatte. Im Ausspielen der Umschaltszenen hatte der Gastgeber schon zum Auftakt gegen Saudi-Arabien viel liegen gelassen und auch gegen Uruguays Endverteidigung um Godín konnten sie diese Gelegenheiten nicht beim Schopf ergreifen.

Ballkontrolle in Überzahl gegen gute Defensivarbeit

Erst nach der Gelb-Roten Karte für Smolnikov Ende der ersten Halbzeit und der russischen Unterzahl kam Uruguay mal wirklich zu höherem Ballbesitz, zuvor hatte es quantitativ nur äußerst wenige Momente von Offensivpräsenz gegeben. Gegen das 4-4-1 des Gastgebers war das Aufrücken durch die offenen Räume neben dem alleinigen Stürmer nun ruhig und kontrolliert bis in die Übergangszonen möglich. In dieser Konstellation zeigten sich aber häufiger die Probleme, die Uruguay weiterhin im Offensivspiel hat: Zwar konnte nach der Umstellung in der Raute die Abstimmung sicherlich noch nicht so ausgeprägt sein, aber selbst in den Ansätzen wirkten die Bewegungsmuster und Abläufe unverbunden und unstrukturiert.

Allerdings machten hier wiederum die Russen ihre Sache in der Defensivarbeit gut. Vor allem die Mittelfeldreihe überzeugte im Verschieben und im Einsatz des Deckungsschattens, die Sechser hatten einige gute Momente in der gegenseitigen Absicherung und die Flügelspieler hielten sich sehr eng, füllten bei breiterem Herausrücken ihres jeweiligen Hintermannes konsequent die Anschlussräume daneben auf. So gelang es ihnen ziemlich häufig, die Passwege für Uruguays Mittelfeldakteure in die Offensive zu verschließen. Speziell im Abwehrpressing machte sich die Unterzahl ohnehin nicht so stark bemerkbar, da Uruguay die Angriffsräume meist nur mit drei Spielern besetzte, die sich zwar sehr eng staffeln, auf die sich das defensive Mittelfeld der Russen in der Positionsfindung aber klar konzentrieren konnte.

Abschließende Eindrücke und Ausblicke

Grundformationen in der Schlussphase mit Russlands 4-4-1/4-3-1-1

Im Allgemeinen dürften diese Eindrücke aus der Unterzahl-Phase dem russischen Team Zuversicht für die anstehenden Aufgaben geben. Ein interessantes Element waren in der zweiten Halbzeit bei den Uruguayern die breiteren Bewegungen und Positionierungen von Nández von der rechten Acht aus, demonstrierten sie doch die potentielle Möglichkeit, wie einfach man aus der Rautenformation durch einen zur Seite gehenden Mittelfeldmann und eine asymmetrische Außenverteidigerbesetzung – hier mit dem schon oft als Halbverteidiger eingesetzten Cáceres und dem offensiven Laxalt – in ein 5-3-2/3-5-2 umformen könnte – zumindest für den Hinterkopf sicherlich nicht so schlecht zu wissen.

Auf russischer Seite sorgte schließlich die Einwechslung von Smolov noch für eine erwähnenswerte Notiz: Gegen den Ball ordnete sich der neue Mann zwar häufig links im 4-4-1 ein, gerade mit Ball agierte er aber sehr frei und zentraler. Verspätet fand Trainer Cherchesov somit eine passendere, 4-3-1-1-artige Rollenverteilung für die stärkere Nutzung der typischen Rechtsüberladungen um Mário Fernandes´ Ankurbeln: Entweder Dzyuba ließ sich als Wandspieler weit nach außen fallen, auch Smolov ging zu jener Seite und der ballferne Mittelfeldmann füllte bei Bedarf die andere Seite auf; oder Samedov agierte als ballnaher Achter sehr breit, Smolov rückte herüber und Dzyuba setzte sich im Strafraum ballfern gegen Cáceres ab. Asymmetrische Alternativumstellungen können für ein Turnier immer hilfreich sein.

Fazit

Eine gelungene Gegneranpassung und Effektivität im Abschluss bringen Uruguay den Sieg und damit auch den ersten Platz in der Gruppe. Durch den passenden Einsatz der Raute gegen den Ball muss man sie noch mehr als Mannschaft der Defensivstabilität wahrnehmen. Das Offensivspiel lässt aber weiterhin zu wünschen übrig. Nichtsdestotrotz macht es die Mannen von Tabárez zu einem unangenehmen Gegner, dass sie als pragmatisches, standardstarkes Team sehr schwierig zu bespielen sind – für die K.O.-Runde und den Turniermodus vielleicht gerade die richtige Eigenschaft. Primär dieser Aspekt könnte den Uruguayern ein starkes Abschneiden ermöglichen. Russland musste mit der klaren, aber zu hoch ausgefallenen Niederlage nun einen ersten Dämpfer hinnehmen, hat sich allerdings gut geschlagen und macht insgesamt einen ordentlichen Eindruck: sie sind stabiler als zu erwarten und gutes Bewegungsspiel innerhalb ihres recht spezifischen Stils besorgt eine konsequente Umsetzung desselben. Das Achtelfinale dürfte für sie also zumindest kein aussichtsloses Unterfangen sein, auch wenn einiges zusammenpassen müsste für einen erfolgreichen Ausgang.

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