TEs Bundesliga-Check: Die Spielzerstörer der Liga
Nicht immer wird Fußball gespielt. Manchmal wird er auch zerstört. TE stellt in seiner Bundesliga-Kolumne zwei der größten Spielzerstörer der Liga vor: den Hamburger SV und den FC Ingolstadt.
Spielverlagerung-Autor TE sucht sich nach jedem Bundesliga-Spieltag zwei bis drei Aspekte heraus, die er kurz und knackig analysiert. TEs Bundesliga-Check ist der Analysehappen für Zwischendurch – eine Spielwiese für taktische Beobachtungen, die in den “langen” Spielanalysen keinen Platz finden.
Diese Woche starten wir wieder mit einem Klassiker: der Spielstil-Statistik. Oder besser gesagt: der bereinigten Passquoten-Statistik. Sie misst, wie sich die durchschnittliche Passgenauigkeit eines Teams zur durchschnittlichen Passgenauigkeit des Gegners verhält. Erzielt eine Mannschaft durchschnittlich eine höhere Passgenauigkeit, als ihre Gegner sonst gegen andere Teams zulassen? Beispiel: Durchschnittlich haben die Gegner des BVB eine Passgenauigkeit von 70%. Die Bayern hatten am Wochenende 92% – 22% über dem Durchschnitt. Diese Differenz berechnet man für jeden Gegner, am Ende ergibt sich ein Mittelwert. Dies nimmt man für die eigene und die gegnerische Passgenauigkeit. Ersteres sagt etwas über den Spielstil mit Ball, letztere über das Spiel ohne Ball (wer erfolgreich früh presst, senkt meist die Passquote des Gegners).
Oben links befinden sich die Bayern und der BVB, zwei Teams, die ihre Spiele mit Ballbesitz und Pressing dominieren. Links befinden sich die Leipziger mit ihrem aggressiven Pressing, das die gegnerische Passquote drückt. Im Quadranten oben rechts sind diejenigen Teams, die nicht aggressiv pressen, aber den Ball halten – also Hoffenheim, Hertha und Gladbach. Unten rechts, im Spielverweigerer-Quadranten, sitzt einsam der SV Darmstadt.
Ich möchte heute in meiner Kolumne den Blick auf den Quadranten unten links richten: den Spielzerstörer-Quadranten. Hier tummeln sich die Teams, die selber ungenau spielen, aber auch den Gegner dazu zwingen, ungenau zu spielen. Und hier fallen zwei Teams im Vergleich zum Rest der Liga extrem aus dem Rahmen.
Markus Gisdols Hamburger: Stress pur
Etwas überraschend tummelt sich der Hamburger SV ganz unten links. Die Statistik wird sogar noch etwas gemildert durch die eher orthodoxe Spielweise zu Beginn der Saison, als Bruno Labbadia die Mannschaft trainierte. Betrachtet man nur die Spiele unter Markus Gisdol, läge der Wert bei durchschnittlich -10,92% für die eigene Passgenauigkeit und -2,49% für die gegnerische. Betrachtet man nur die (bislang erfolgreiche) Rückrunde, ergibt sich ein extremer Wert von -10,92% (eigen) zu -5,3% (gegnerisch).
Die Zahlen belegen die Strategie des HSV: Stress. Und zwar für das eigene Team wie auch für den Gegner. Markus Gisdol ist ein Meister darin, die Spieldynamik zu zerstören. Der Gegner soll durch ein aggressives Gegenpressing dazu gebracht werden, den Ball möglichst schnell nach vorne zu bolzen. Gleichzeitig schickt der HSV den Ball ohne Umschweife wieder in die gegnerische Hälfte zurück. Dauerdruck, viele Zweikämpfe und ständige Duelle um Abpraller und zweite Bälle sind die Folge.
Konkret sieht der Hamburger Spielplan vor, in allen Spielphasen möglichst kompakt zu agieren. Das beißt sich mit der klassischen Lehre des Ballbesitzspiels. Hier soll ich das Feld „so breit wie nötig“ machen, wie der DFB es ausdrückt, um den Ball zu verlagern und den Gegner zum Verschieben zu zwingen. Der HSV macht das Feld in der Offensive aber so eng wie möglich. Die Außenstürmer sind praktisch Halbraumzehner, die neben dem echten Zehner agieren. Die Mittelfeldspieler rücken extrem nach, sodass die Hamburger teilweise sechs Mann in einem geballten Zentrum stehen haben.
Das Ganze hat mehrere Folgen: Die Hamburger können allein durch ihr zahlenmäßig starkes Zentrum enorm erfolgreich zweite Bälle erobern. Nebeneffekt dadurch ist, dass der Gegner sich zusammenzieht, um das Zentrum zu kontern, und sich somit Räume für die vorstoßenden Außenverteidiger öffnen. Der wichtigste Grund für diese geballte Kompaktheit des HSV ist aber ein simpler: Wenn ich viele Spieler um den Ball habe, kann ich sofort ins Gegenpressing übergehen. Und wenn ich sofort ins Gegenpressing übergehe, kann der Gegner nicht zum eigenen Spielaufbau finden. Ständiger Druck ist das oberste Gebot der Hamburger.
Aus dem obigen Graphen lässt sich auch erkennen, gegen welche Teams das Rezept besonders gut funktioniert: nämlich Teams, die selber eigentlich positiv bei der eigenen Passgenauigkeit abschneidet, also Teams, die durchaus das Spiel ruhig aus der Abwehr eröffnen wollen. Der HSV lässt dies aber nicht zu. Gegen Gladbach, Leverkusen, Hertha und Hoffenheim holten die Hamburger je drei Punkte, gegen den BVB verkauften sie sich trotz 0:3-Niederlage teuer. Einzig das 0:8 gegen den FC Bayern fällt (extrem) aus dem Rahmen.
Fazit: Der Hamburger SV ist ein Spielkultur-Zerstörer. Und das macht sie so erfolgreich.
Ingolstadts Neun-Punkte-Woche
Der zweite Verein, der sich ganz unten links in der Grafik befindet, ist der FC Ingolstadt. Hier hat die Spielzerstörung quasi Tradition. Unter Ralph Hasenhüttl spielten sie im vergangenen Jahr eine sensationelle Saison. Damals hieß das Motto: „Pressing, Pressing, Pressing“. Nach einigem Irren und Wirren zu Beginn der Saison sind sie jetzt zu diesem Weg zurückgekehrt.
Das Spiel der Ingolstädter unterscheidet sich dennoch etwas vom HSV. Während beim HSV die extremen Werte in der obigen Statistik durch die Hektik geschaffen werden, sind die Ingolstädter unter Maik Walpurgis eine relativ klassische „Hoch eröffnen, zweiten Ball erobern, aggressiv pressen“-Mannschaft. Extreme Lokalkompaktheiten wie der Hamburger SV haben die Ingolstädter zwar auch zu bieten, sie sind aber eher Folge des Systems und nicht der Fokus der gesamten Spielanlage.
Der Aufschwung der Ingolstädter in der Rückrunde hat nicht zuletzt mit der Formation zu tun: Walpurgis lässt seine Mannschaft in einer Mischung aus 5-4-1 und 5-2-3 agieren. Der Clou der Formation ist, dass im Mittelfeld keine klassischen Außenstürmer agieren, sondern zwei „Halbzehner“. Sie besetzen die Halbräume hinter dem einzigen Stürmer. Ingolstadt hat durch die Formation somit eine hohe Präsenz im Zentrum. Der Gegner wird im Pressing in einem Fünfeck gefangengenommen:
Mit dieser Formation haben die Ingolstädter die für sie so wichtigen Vorteile im Pressing und beim Kampf um zweite Bälle: Man steht im Mittelfeldzentrum enorm kompakt, kann den Gegner also auf die Flügel leiten. Zugleich kann man durch ein Aufrücken der Außenverteidiger leicht auf ein aggressives Pressing umschalten. Beim Kampf um zweite Bälle hat man eine ähnlich hohe Kompaktheit im Mittelfeldzentrum wie der HSV.
Im Vergleich zum HSV entsteht kein so hektisches Spiel, aber eins mit wenig klaren Passoptionen für den Gegner. Spielschwache Gegner werden durch das Pressing zum Bolzen gezwungen, die zweiten Bälle erobert Ingolstadt. Somit war es nicht die größte Überraschung, dass die derzeit angeschlagenen Mainzer, Augsburger und Darmstädter in dieser Woche keine spielerische Lösung gegen Ingolstadts kompakte Defensive fanden.
Der zweite Erfolgsfaktor der vergangenen Woche: Ingolstadt schießt endlich Tore! Es gehört zu den absurderen Details dieser Saison, dass Ingolstadt über ein Viertel (!) ihrer Saisontore in der vergangenen Woche erzielt haben. Die acht Treffer gegen die Konkurrenz im Abstiegskampf erzwang Ingolstadt zum Einen über Standards, die unter Walpurgis wieder eine Ingolstädter Stärke sind. Zum anderen können die Ingolstädter Situationen spielerisch besser lösen als in der Hinrunde. Sonny Kittel und Pascal Groß als Doppelzehn ist ein interessantes Kreativduo hinter den Spitzen, die beide den letzten Pass spielen können. So nutzt Ingolstadt das entstehende Chaos nach zweiten Bällen häufig dazu, ihre beiden Kreativspieler in den Halbräumen freizublocken. Die Folge sind mehr Torchancen als noch in der Hinrunde.
Fazit: Sieht gut aus in Ingolstadt. Die Spielzerstörer aus Bayern könnten tatsächlich den zweiten Klassenerhalt in Folge feiern.
1 Kommentar Alle anzeigen
felixander 10. April 2017 um 16:10
Gab’s da nicht sogar einen Experten im SV-Podcast, der die Schanzer noch nicht abschreiben wollte? Der Mann kennst sich wohl aus.