Fokusverlagerung: GO Audax

Audax unter Fernando Diniz gilt in Brasilien schon länger als Hipstermannschaft, wegen eines barcelona-esken Ballbesitzspiels und konsequenter Torwart-Einbindung in der Tiefe. Dieses Jahr feiert das Team große Erfolge in der Staatsmeisterschaft São Paulos.

Seit etwas mehr als zwei Jahren schon gilt Grêmio Osasco Audax unter Fernando Diniz in Brasilien als exotische Hipstermannschaft. Manche tauften ihren Stil „tiki-taka paulista“ und sahen ihn als Weiterführung der Spielidee Barcelonas. Insbesondere die aktive und konsequente, vom Trainer immer wieder betonte wie geforderte Torwarteinbindung als zusätzlichem Feldspieler in Aufbauzonen erregte Aufsehen. Der Verein ist erst gut 30 Jahre alt und hat – etwas seltsame Klubgeschichten gibt es in Brasilien häufiger – bereits mehrere Umbenennungen und eine Übernahme hinter sich.

Wichtig für diesen Zusammenhang ist dabei eigentlich nur, dass sie sich auf nationaler Ebene in diesem Jahr zum ersten Mal überhaupt für die vierte brasilianische Liga qualifiziert haben. In der Staatsmeisterschaft von São Paulo spielt Audax seit einigen Jahren erstklassig, machte dort punktuell von sich reden, fuhr ansonsten ordentliche Ergebnisse ein, ohne aber groß durchzustarten. Diese Einordnung in Bezug auf die grundlegenden Kräfteverhältnisse hört sich nun erst einmal extrem an, aber die Spielerqualität ist bei den kleineren Teams der Staatsmeisterschaft bisweilen schwankend oder zumindest kaum zu verallgemeinern:

So ist Audax eigentlich erst dieses Jahr im Bereich des Profifußballs angekommen, hat in seiner derzeitigen Stammelf aber mehrere Akteure, die in der Vorsaison in der ersten Liga aktiv waren. Damit ist eine grundlegende Konkurrenzfähigkeit gegeben, wenngleich die Kaderqualität trotzdem weit unter der der großen Teams des Bundesstaates liegt. Bei der diesjährigen Ausgabe der Campeonato Paulista drängte sich Audax jedoch ins Rampenlicht: Zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte schafften sie es bis in die K.O.-Runde und gelangten durch einen furiosen 4:1-Sieg gegen São Paulo FC – einen der großen Vier – direkt ins Halbfinale.

Dort duellierten sie sich mit den Corinthians – dem brasilianischen Vorjahresmeister, der sich auch 2016 schon wieder in guter Form zeigte und als Topfavorit auf den Regionalmeistertitel gehandelt wurde. In einem komplexen Match errang Audax jedoch ein 2:2 und setzte sich letztlich im Elfmeterschießen durch – ein fast sensationeller Erfolg. Als Finalgegner wartete mit Santos ein weiteres Schwergewicht und außerdem der Titelverteidiger. Das Hinspiel fand bereits am vergangenen Wochenende statt: Vor heimischem Publikum gab es ein 1:1 – ein beachtliches Resultat. Nun steht für den Außenseiter am kommenden Sonntag das zweite Match an: Die Chancen auf den überraschenden Titelgewinn sind noch absolut intakt, es wird also wieder interessant.

In erster Linie ist das Team von Fernando Diniz für die konsequente und spielerische Zirkulation im Aufbau samt der Torwarteinbindung bekannt. Verschiedene übergeordnete Prinzipien, die diese Dinge regeln und auch stilistische Fragen berühren, gelten als das Herzstück seiner Philosophie. So sprach der Trainer schon Ende 2014 davon, dass man auch in der Tiefe und auch unter Druck den Ball laufen lassen sollte, mit vielen Positionsrochaden agieren und vor allem den Torwart konstant einbinden wolle:

„Es gibt keine Mannschaft, weder in Brasilien noch in der Welt, die so nachdrücklich spielt wie wir, was diese Taktik der Torwart-Linie angeht. (…) Der Torwart ist aktiver  ins Spiel eingebunden als der Torwart von Deutschland und spielt mehr mit dem Ball als irgendein anderer. Meine Mannschaften spielen so, weil ich glaube, dass das die beste Art und Weise ist, wie man das Spiel spielen kann.“

„Wir nutzen viel mehr den Torwart im Aufbauspiel, wir wagen mehr.“

„Die häufige Ballberührung/der häufige Ballbesitz ist, denke ich, die beste Art und Weise, um Fußball zu spielen.“

Diese Prinzipien hat Fernando Diniz seit jeher schon bei einigen kleineren Stationen in unteren oder peripheren Ligen vertreten und sie prägen nun auch seit einigen Jahren seine – zwischenzeitlich kurz durch einen Zwischenstopp bei Paraná unterbrochene – Arbeit bei Audax. Diese Mannschaft steht damit als das größte Beispiel für die oft als alternativ, teilweise auch als skurril dargestellte Spielweise des Trainers, der teilweise am Spielfeldrand wild herumhüpft und -schimpft.

Auch wenn, ebenso in den Eigenaussagen, immer wieder davon gesprochen wird, dass der Grad der Torwarteinbindung so enorm sei und man dadurch eine zusätzliche Linie schaffen wolle, ist jedoch zur genauen Differenzierung eines klarzustellen: Es handelt sich nicht um eine hohe Torwartkette, die Audax dort praktiziert. Der Keeper wird zwar im ersten Drittel sehr konstant und aktiv eingebunden, läuft sich frei und spielt zahlreiche Pässe. Allerdings geht er kaum einmal mehr als zehn oder fünfzehn Meter aus seinem Strafraum heraus.

Eine höhere Ballzirkulation, wo der Keeper – etwa wie gelegentlich bei Kolumbien in den 90er-Jahren mit Higuita – nahe der gegnerischen Hälfte weiterhin als zusätzliche Station beteiligt würde, findet in jener Form nicht statt. Die tiefe Torwartkette bei Audax ist aber tatsächlich sehr konsequent ausgeprägt und soll vor allem dazu dienen, die Gegner im Pressing herauszulocken, um Raum – gegebenenfalls auch für schnelle Direktangriffe – öffnen zu können. Die beiden Keeper Sidão, aktuell als Nummer eins, und Felipe Alves zeigten schon viele spektakuläre Aktionen, spielerische Lösungen, riskante Pässe und Dribblings.

Aufrückendes, konsequentes Freilaufen

Zu den zentralen Eigenheiten, die in Zusammenhang mit Audax immer wieder genannt werden, gehören unermüdliche Freilaufbewegungen und der beliebte Begriff der „Positionswechsel“. Ersteres kann man in der tiefen Zirkulation sehr gut am ballfernen Halb- und teilweise Flügelverteidiger erkennen. Wird von der anderen Seite zum Keeper zurückgespielt und es gibt nicht besetzte Räume bzw. Lücken im Mittelfeldzentrum, halten die Verteidiger nicht zwangsläufig ihre breit aufgefächerte Positionierung, sondern rücken mutig in diese Zonen nach vorne. Das Freilaufen in den hinteren Zonen ist also nicht einfach dogmatisch in die Breite gerichtet, sondern attackierend, suchend und konkreter orientiert.

audax 2016 freilaufen

Hypothetische Aufbausituation: Die Spieler der zweiten Linie könnten sich so freilaufen, wie mit den grauen Pfeilen dargestellt. Sind diese aber zugestellt oder könnten besser unter Druck gesetzt werden, greift Audax oft zum raumnutzenden Aufrücken aus der ersten Linie. Der Spieler halbrechts sucht nicht den seitlichen, breiten Raum (blauer Pfeil), sondern erkennt die vertikale Möglichkeit und stößt vor.

Grundsätzlich setzt sich dies in die höheren Bereiche hinein fort. In guten Phasen hat Audax eine konsequente und bewusste Raumnutzung, wo viele Teams in vorgefertigten Passmustern denken und dadurch zu hohen Fokus auf Verlagerungen oder direkten Drang in die Spitze legen. Entsprechend sind ihre Aufrückbewegungen oft sehr gezielt und spielen eine wichtige Rolle für die Positionswechsel: Teilweise stoßen Verteidiger weit nach vorne, übernehmen spontan einen offensiven Posten, während der dortige Spieler sich weiter hinten einordnet. Diese Umformungen geschehen aber oft eher wild und wirken teilweise mechanisch. Nicht immer werden wichtige, frei werdende Räume stabil neu besetzt. Viel besser sind dagegen jene Bewegungen, die sich aus der konkreten Rollenverteilung ergeben.

3-4-3-hafte Mischformation nicht immer leicht zu kategorisieren

audax 2016

Grundformation in der K.O.-Phase

Die viel zitierten Grundprinzipien übersetzen sich in dieser Spielzeit in formativer Hinsicht –die im Falle von Audax weit weniger bekannt ist oder thematisiert wird – häufig in eine Mischanordnung. Grundsätzlich könnte man von einem 3-4-3 sprechen, das aber von klaren Asymmetrien geprägt ist und wandelnde Umformungen erlebt. In dieser Terminologie wären Tchê-Tchê auf rechts und Bruno Paulo auf links die Flügelläufer, wobei Letztgenannter höher und offensiver ausgerichtet ist. Teilweise wirkt er fast wie der Flügelstürmer seiner Seite, wo Juninho enger und auch schon mal tiefer agiert als Mike. So gibt es Annäherungen in Richtung eines 4-3-3 mit Tchê-Tchê als Rechtsverteidiger, wobei dieser sich auch häufig im zentralen Mittelfeldbereich bewegt.

Dafür fällt gelegentlich einer der Sechser zurück, um die ohnehin wechselnd besetzte Abwehr aufzufüllen. Diese weist gegen den Ball neben Viererkettenphasen sowohl Fünferreihen-Staffelungen mit tiefen Flügelspielern als auch klare Dreierlinien auf. Dass das Gebilde „defensiv zum 5-4-1 wird“, wie es immer so schön heißt, muss also nicht zwangsläufig der Fall sein. In anderen Phasen agieren die Flügel eher auf Mittelfeldhöhe, wie oft bei Schuberts Gladbachern oder früher Sampaolis Chile. Manchmal ist die Grundordnung bei Audax gar nicht klar benennbar, sondern eine Zwischenformation, die mal mehr zu jener und mal mehr zu jener Telefonnummer tendiert, auch je nach aufgebotenem Personal. Zuletzt wurde das 3-4-3 wieder sehr viel schärfer, zuvor war es vermischter und verschwommener.

Spezifische Aufbaustaffelungen

Aus dieser Mischformation heraus erzeugt Audax häufig spezifische Aufbaustaffelungen, die gelegentlich asymmetrisch verschoben, vor allem aber an die Einbindung des Torwarts angepasst wird. Zunächst einmal ist es oft wichtig, dass Bruno Silva als nomineller Zentralverteidiger nach vorne rückt. So kann der Keeper zusammen mit den drei Defensivspielern eine Raute bilden, in der er den hintersten Punkt einnimmt. Dabei bietet sich Sidão sehr aktiv im Strafraum an, kann sich in bestimmten Konstellationen auch tendenziell stärker auf eine Seite orientieren. In einigen Partien etwa suchte er eine etwas nach rechts versetzte Positionierung, wofür  Velicka – als eigentlich offensiverer Halbverteidiger, der bei den Viererkettenübergängen nach außen rutscht – teilweise fast auf die Grundlinie zurückfiel.

Umgekehrt rückt der nominell etwas tiefere André Castro nicht nur gelegentlich nicht nur sehr hoch auf, etwa im Zuge der Positionswechsel, sondern sucht oft auch stärker die Breite als sein Pendant. Dies erlaubt es Tchê-Tchê, immer wieder – vom Muster ähnlich, wie es Philipp Lahm bereits bei den Bayern tat – ins Zentrum einzuschieben. Dort bewegt er sich sehr frei, spielmachend und rückt punktuell spontan bis nach halblinks nach. Der etwas höhere Flügelspieler Bruno Paulo agiert in seiner Ausrichtung dribbelnder und sehr viel vertikaler, pendelt über lange Strecken zwischen Offensiv- und Defensivzonen. Diese Grundstruktur, in deren Mitte die Sechser sich sehr flexibel bewegen können, bietet der Mannschaft gute Voraussetzungen zum Vorwärtsspiel.

audax 2016 aufbaustaffelung

Tiefe Raute im Aufbau, eine der wichtigsten Staffelungen bei Audax: Bruno Silva rückt vor, Tchê-Tchê kann einschieben. Wird dies fortgesetzt, gibt es häufig auch Anpassungen in Richtung einer Art Viererkette vor dem Keeper, dann etwa mit Bruno Silva und Yuri am tiefsten (graue Folgepfeile). Die Zirkulation im zweiten Drittel wird übrigens klarer in der verbleibenden Dreierkette abgespult, mit einzelnen Asymmetrien, Viererkettenbildungen und helfenden Sechsern, aber nur in geringem Maße umformend.

Zwar gibt es nicht die eine klare, spezifische Aufbaustaffelung, zumal vieles durch die verschiedenen positionellen Übernahmen beeinflusst wird, aber zwei zentrale Muster sind erkennbar. Neben der Systematik, die auf der Torwartraute mit aufgerücktem Bruno Silva basiert, gibt es noch ein viererkettenähnliches Szenario mit Fokus auf die Rochaden auf rechts zwischen André Castro, Yuri und Tchê-Tchê. Dafür fällt ein Sechser in die letzte Linie und baut mit Bruno Silva auf, zu Jahresbeginn tat dies teilweise gar der für Juninho spielende Rodrigo Andrade. Das Muster kann so aussehen: Schiebt Tchê-Tchê mal wieder in den Sechserraum ein, rückt André Castro seitlich auf und Yuri geht in die letzte Linie.

audax 2016 aufbaustaffelung2

Aufbaustaffelung mit Viererkettenähnlichkeit und Rochade auf rechts

Grundsätzlich versucht Audax, die Aufbauaktionen auch unter Druck aufrechtzuerhalten. Manchmal verlieren sie aber das Gefühl für das Risiko, versuchen Strukturen auszuspielen, auf die der pressende Gegner schon Zugriff hergestellt hat. Zwischendurch kommt es daher um den eigenen Strafraum herum schon mal zu massiven Patzern und Ballverlusten, die vereinzelt Gegentore kosten. Das liegt nicht an einem „Naturrisiko“, sondern daran, dass ihre Aufbauqualität noch nicht durchgehend erfolgsstabil ist. Teilweise fallen beide Sechser zu  flach in die Aufbaulinie zurück. Gelegentlich sind unverbundene, nicht genug abgesicherte und dadurch anfällige Staffelungen dabei, in denen man auch nicht mehr über tiefe Präsenz gegenpressen kann. Die Gefahr: Der Gegner ist nah am Tor, man selbst hat praktisch keine Sicherheitslinie mehr.

Weniger Risiko und Vertikalanbindungen gegen die Corinthians

Gegen die Corinthians im Paulista-Halbfinale interpretierte Audax die eigene Aufbauspielweise in den tiefen Zonen nicht so extrem wie sonst. Fraglos gab es immer noch zahlreiche Momente, in denen Sidão konsequent eingebunden wurde und man sich auch unter Druck spielerisch zu befreien versuchte. Doch insgesamt machte das intelligente Aufrücken ins Angriffspressing der Corinthians dem Außenseiter das Leben schwer. Ein Ballverlust des Keepers hätte beinahe ein Gegentor bedeutet und vor allem wurde eine ungewohnt hohe Anzahl an Szenen nicht weiter konsequent ausgespielt, sondern auch mit überdurchschnittlich vielen längeren Bällen – die sie übrigens nie ganz vermeiden – aufgelöst.

Selbst in diesen Szenarien schlugen sie die Zuspiele aber unter Druck nur selten wild und möglichst weit nach vorne, sondern suchten gezielt bestimmte Zonen. Mehrheitlich waren es betont halblange Pässe, die anscheinend bewusst ins tiefe zweite Felddrittel gespielt werden sollten. Überwiegend wurde der halbrechte Bereich fokussiert, in dem durch das Einschieben Tchê-Tchês womöglich Raum geöffnet werden sollte. Tatsächlich gelang es einige Male, etwa die zurückfallenden Mike oder seltener Ytalo mit Lupfer-ähnlichen Pässen recht sauber in jener Zone zu bedienen. Das Problem bei dieser Spielweise blieb in letzter Instanz aber die folgende Vertikalanbindung an die restliche Offensive.

Die Sturmreihe Audax´ agiert zwar horizontal häufig sehr geschlossen und zeigt insgesamt vielseitige Bewegungsmuster. Doch abgesehen von situativen, häufig eher individuell gestalteten Zurückfallbewegungen positioniert sie sich schon frühzeitig hoch. Gerade bei einer solch umfassenden und fokussierten Nutzung des ersten Drittels verliert sich dadurch gelegentlich die Präsenz in den Übergangsbereichen. Durch gutes Nachrücken des Kollektivs im geordneten Angriffsvortrag lässt sich das im Idealfall kaschieren. In diesem konkreten Match funktionierte das bei jenen halblangen Pässen ins zweite Drittel aber nicht so gut, so dass einige Angriffsversuche in mittleren Zonen ins Stocken gerieten.

Auch diese kleinen Nachlässigkeiten in den stabilen Vertikalanbindungen tragen zu den angesprochenen Schwächephasen bei, die im Aufbau gelegentlich auftreten. Kommt zu Momenten mit etwas zu hoher Sturmreihe noch eine unbalancierte Zurückfall- oder eine unsaubere Ausweichbewegung zu viel hinzu, kann das schwerwiegende Folgen haben. Dann läuft Audax Gefahr, die Präsenz in den  mittleren Verbindungsbereichen zu verlieren und dort keinen Zugriff mehr finden zu können. Im zweiten Drittel wird die Aufbaulinie bisweilen ebenfalls zu flach. Gegen Santos gab es im Hinspiel einige Phasen mit Kontrollproblemen, die auch beim Gegentor zum Ausgleich einwirkten und Audax unsauberer machten als sonst.

Stil und Ausspielen ambivalent

Stilistisch ist Audax mit der Begriffsprägung des „tiki-taka paulista“ in eine klare Richtung gerückt worden. Wie passend ist diese Charakterisierung? In Bezug auf die höheren Zonen ergibt sich ein ambivalentes, differenziertes Bild ihres Spiels. Zunächst einmal muss man sagen, dass Audax nicht für eine total kleinräumige Ausrichtung über zahlreiche Stationen samt flacher Kombinationswut steht. Sie haben auch viele weiträumigere Elemente oder Schnellangriffe dabei, kommen manchmal stärker über quantitative Offensivpräsenz, suchen nicht immer die kollektive Lösung, sondern zum Tor hin auch oft Kleingruppenaktionen von zwei bis drei Spielern. Selten verzetteln sie sich sogar in Flanken oder Einzelaktionen.

Grundsätzlich legt das das Team von Fernando Diniz bei alledem aber einen prinzipiell konstruktiven Charakter an den Tag und zeigt zwischendurch spielerisch schöne Ansätze. Im zweiten Drittel lassen sie das Leder sehr geduldig in den angepassten Dreierkettenstaffelungen laufen. Nach dem Aufrücken in oder ans Angriffsdrittel bildet Audax aus der vielseitigen Formation heraus oft ansehnliche Grundstaffelungen. Gerade der halblinke Angriffsraum tut sich dabei mit viel Präsenz hervor, durch die offensive Rolle von Bruno Paulo und das häufige Einrücken Tchê-Tchês. So bringen sie in der Regel – Nachlässigkeiten gibt es aber auch hier – gute horizontale Kompaktheit in ihre Angriffsversuche, haben prinzipiell viel Personal für Überladungen und sorgen entsprechend für einige ansehnliche Spielzüge über diese Zone.

Nicht immer zielen sie etwa bei jenen Linksüberladungen darauf ab, die gesamte Überzahl voll auszunutzen. Ein wichtiger Teilaspekt ihrer Herangehensweise besteht auch darin, dass über die Vielzahl der zu verteidigenden Optionen der Gegner dazwischen einen kleinen Raum lassen könnte, den einzelne Spieler attackieren. Zudem wird die Zentrumspräsenz bisweilen für das Anlocken und anschließende Wechselpässe nach außen in die hoch besetzte Angriffslinie genutzt. Dass Audax oft viele Spieler an der letzten Reihe ballt, kann als Beispiel für die gewisse spielerische Zwiespältigkeit dienen. Manchmal fokussieren sie diese Präsenz zu stark und simpel, neigen dann auch zu einigen plumpen Staffelungen.

Andererseits können die kombinativen Aktionen darin eingefügt sein. Gelegentlich wirkt die Präsenz auch bewusst, um Ablagen effektiver anbringen zu können oder durch die vorderen Akteure den Rückraum für die Mittelfeldmannen und dortige Aktionen einzelner Kollegen freizublocken. Gerade die Sechser und Tchê-Tchê sind – mit Unterstützung des weiterleitenden Ytalo – sehr kombinativ ausgerichtet. Schon mehrmals positionierten sie sich am Ende lang vorbereiteter Zirkulationsphasen geduldig in eine gute Ausgangslage dafür und gingen schließlich in schöne Angriffe durch das Zentrum über, bei denen sie die geschaffenen Strukturvorteile im richtigen Moment ruhig und elegant ausspielten.

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Extrem präsent besetzte linke Seite in einer Szene gegen die Corinthians: Die Staffelung ist zwar leicht unausgewogen, aber doch vielversprechend, hätte zuvor noch etwas konsequenter genutzt werden können. Hier löst Yuri die Szene mit einem Lupfer auf den durchstartenden Bruno Paulo, während Mike und Juninho Gegner blocken.

Die gesamte Ambivalenz verweist allgemein darauf, dass Audax günstige Voraussetzungen nicht immer zuverlässig nutzt. So gibt es noch viele Momente, in denen sich die Spieler zwar zunächst gut positionierten, die Staffelungen aber etwas zu unsauber bilden und dann vor allem zu unsystematisch ausspielen. Sie treffen schlechte Entscheidungen, schätzen den Wert der jeweiligen Anordnung nicht, wechseln den Raum oder werden ungeduldig. Das ist noch ein generelles Problem, das auch tiefer im Aufbau und der Torwarteinbindung auftritt und dort ebenso gelegentlich als Schwachstelle wirkt. Möglicherweise mag dies auch damit zusammenhängen, dass der taktische Fokus auf „viele Positionswechsel und Rochaden“ manchmal nicht weit genug über diese Unkonkretheit hinausgeht.

Verbesserungen der Defensivarbeit

Einen wichtigen Fortschritt hat Audax zu dieser Saison in der Arbeit gegen den Ball gemacht, die zuvor phasenweise improvisiert und unsauber wirkte. In der diesjährigen Staatsmeisterschaft zeigten sie verbesserte Kompaktheit, kluge Raumorientierung und bewegten sich recht geschlossen sowohl in die vorderen als auch die tieferen Zonen. Aus ihrer asymmetrischen Grundordnung können sie auch in diesen Momenten situativ mit der Bildung von Zwischenformationen auf bestimmte Situationen reagieren. Zunächst einmal starten sie im Pressing meistens mit ihrem kompakten Fünferblock – Sechsern und eng in den Halbräumen formierten Stürmern – über dem Zentrum.

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Audax im 3-4-3 gegen den Ball (mit potentiellen Verschiebebewegungen nach links), hier gegen Santos

 

Prinzipiell ist das eine gute Basis, um den gegnerischen Aufbau nach außen zu leiten. In diesem Zusammenhang kann die leichte Grundasymmetrie einwirken, wenn sich Juninho noch etwas enger positioniert als Mike. Dahinter kann Bruno Paulo vertikal schnell aus den tieferen Linien nachrücken, um bei Pässen zur Seite den gegnerischen Außenverteidiger zu pressen. Bei dieser und bei vergleichbaren Aufrückbewegungen agiert die Mannschaft in der Folge grundsätzlich harmonisch im Übergang nach außen und zwischen den Pressingzonen. Gerade beim Herausrücken kommt ihnen wiederum ihr vielseitiges Bewegungsspiel mit den Mischrollen – und etwa punktuell mal vorstürmenden Innenverteidigern – zugute.

Auch die etwas enger stehenden Flügelstürmer beteiligen sich in symmetrischen Szenen gut. Agieren sie tiefer und 5-4-1-hafter, schieben sie oft im richtigen Moment diagonal im Halbraum heraus, machen kurz Druck auf die gegnerischen Aufbauversuche, versperren schnelle Aufrückwege nach außen und provozieren die abermalige Rückzirkulation. Die genauen Abläufe unterscheiden sich im Detail je nach Anordnung, denn im Grunde genommen wechselt Audax innerhalb einzelner Begegnung die Defensivformation: Mal im schiefen 3-4-3, mal 5-4-1-hafter, dann wieder stärker 4-3-3-orientiert oder auch mal 4-4-2-ähnlich. Zuletzt blieb man wieder klarer im 5-4-1/3-4-3, außer im sehr vielseitigen Halbfinale.

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Audax im tieferen 5-4-1, mit Herausrücken zum Zurückdrängen, hier gegen Palmeiras

Gute Rückzugsbewegung, aber vertikale Schwächen

Die Rückzugsbewegung zum Strafraum hin erfolgt diszipliniert und ist gut auf die Wiedererlangung der stabilen Grundkompaktheit gepolt. In der letzten Linie greifen die Spieler häufiger auch mal auf situative Mannorientierungen zurück, um einzelne gefährliche Gegner schärfer kontrollieren zu können. Dies gilt übrigens nicht nur in Strafraumnähe, sondern zu einem geringeren Grade auch allgemein. Die Sechser bleiben im Normalfall strikt raumsichernd vor der Abwehr, müssen aber gelegentlich die letzte Linie auffüllen. In den Folgemomenten verlieren sie dadurch teils die Ordnung und eventuell etwas Präsenz im eigentlich gut besetzten Rückraum, kommen nicht schnell genug wieder heraus.

Das wird aber potentiell durch einzelne sehr weite, lückenstopfende Rückwärtsaktionen der Stürmer aufgefangen. In den seitlichen Zonen fällt zudem der jeweils ballferne Flügelläufer absichernd weit und schnell in die letzte Linie zurück. Neben horizontal einschiebenden Phasen agiert die Verteidigung im Abwehrpressing oftmals etwas breiter als das gestauchte, eng geschobene Mittelfeld. Allerdings koordiniert Audax die Lücken der Außen- zu den Halbverteidigern manchmal schlecht und ist dort dann anfällig. Gerade die vereinzelt tieferen Positionierungen der Sechser sorgen dann für weitere Unruhe.

Überhaupt hat Audax, neben einigen generellen Unsauberkeiten, am ehesten Schwierigkeiten mit der vertikalen Kompaktheit: Zuletzt rückten die Stürmer – gelegentlich auch die Sechser dann mannorientiert – zu früh und aggressiv auf, öffneten dadurch teilweise simple Passwege, etwa in seitliche Zwischenlücken. Daher waren sie insbesondere gegen lange Bälle anfällig. Die in der Abwehrreihe gelegentlich auftauchenden Mannorientierungen wirkten sich zusätzlich aus. Diese kleinen Schwachpunkte zusammen zeigen sich schließlich bei der Verteidigung tiefer, lockender Überladungen – die jedoch nur selten gezielt genutzt werden: Dagegen rückt Audax zwar vielseitig, aber eher ungeschickt, unaufmerksam und in den umliegenden Zonen etwas mannorientiert heraus, kann dann lokal simpel überspielt werden.

Fazit

Durch die diesjährigen Erfolge in der Staatsmeisterschaft hat Fernando Diniz mit Audax in Brasilien einiges an Hype abbekommen. In mancherlei Hinsicht ist dieser etwas übertrieben, denn die tiefe Torwartkette hat keine Entsprechungen in höheren Zonen, das „tiki-taka“ wird nicht absolut konstant durchgehalten und es gibt kleinere taktische Schwächen, etwa in den Bereichen vertikale Anschlusskompaktheit, Staffelungsstabilität, Absicherung von Positionswechseln. Trotzdem ist die Mannschaft insgesamt absolut positiv zu betrachten und für ihre Spielweise zu loben. Fernando Diniz hat sich für eine durchaus beeindruckende Philosophie entschieden und konnte diese in ein taktisch sehr gutes Fundament überführen. Zwischendurch zeigt sein Team starke Momente in Aufbauspiel mit Torwarteinbindung, Zirkulation, Kombinationsspiel und Defensivkompaktheit. Es gilt nun, diese Ansätze in stärkere Konstanz zu gießen und Aspekte wie die Entscheidungsfindung oder die positionellen Rochaden noch zu schärfen. Die weitere Entwicklung von Audax und Fernando Diniz wird interessant sein, ebenso die zukünftige Rolle dieses extrem wirkenden Coaches im Geschäft. Dass sie am Sonntag gegen Santos den überraschenden Staatsmeister-Titel erringen können, wäre ihnen als erste Belohnung zu wünschen.

Bernhard 9. Mai 2016 um 21:43

Reine Interessensfrage: Kannst du, TR, Portugiesisch?
Da du immer wieder Aussagen von Trainern und/oder Spielern einfügst, gehe ich eigentlich davov aus.
Eine Antwort würde meine Neugier befriedigen. 😉

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TR 30. Mai 2016 um 21:54

Hallo, ohje, da habe ich doch vor lauter EM-Vorschau-Aktivität ganz vergessen, hier kurz zu antworten, sorry: Also, ich würde mich jetzt nicht als Experten in Portugiesisch bezeichnen, aber Grundkenntnisse sind so weit vorhanden, dass ich zumindest geschrieben und teilweise auch gesprochen das Meiste mitkriege. Also prinzipiell kann ich Portugiesisch, jo, aber nicht super fließend.

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Fabian 9. Mai 2016 um 10:04

Sehr spannender Artikel! Gibt es irgendwo gutes Videomaterial wo man sich das ganze anschauen kann?

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TR 9. Mai 2016 um 18:42

Hi, ich hatte leider vergessen, unter den Artikel noch den kleinen Verweis zu setzen, dass das Final-Rückspiel, wie schon zahlreiche Partien vorher, bei laola1.tv gestreamt wurde. Es kann sein, dass dort eventuell manche Spiele noch als Aufzeichnungen online sind. Auf jeden Fall konnte man sich über diesen Anbieter viele Begegnungen live anschauen.

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Pano 8. Mai 2016 um 18:07

Ok. Werd mir das Spiel heute ansehen.

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TobiT 7. Mai 2016 um 14:11

Schade dass die Paulista schon wieder fast vorbei ist, das hört sich nach einer sehr interessanten Mannschaft an.

Welchen Stellenwert haben die Staatsmeisterschaften denn in Brasilien? Sind das Vorbereitungsturniere oder nehmen das alle wirklich ernst?

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TR 9. Mai 2016 um 18:40

Die in den letzten Jahren häufig zu hörenden Bewertungen, dass die Staatsmeisterschaften massiv an Wert verlieren würden, kann ich so aus meiner Sicht nicht teilen. Sicher wird da zwischendurch nicht jedes Spiel mit voller Personalstärke angegangen, gerade in den ersten Runden gibt es viel Rotation und Spieler aus der zweiten Reihe oder Jugend dürfen sich versuchen. Aber bei den großen Teams laufen dann spätestens ab den K.O.-Phasen die besten Elf jeweils auf. Medial ist das Ganze außerdem präsent, schwache Ergebnisse in den Regionalmeisterschaften können auch mal schnell zu den in Brasilien häufigen Trainerentlassungen führen. Ein leichter Bedeutungsverlust bei den Zuschauern ist vielleicht festzustellen, aber nicht wirklich deutlich, so wie ich es empfinde. Was allerdings einzuschränken ist: Verglichen mit der brasilianischen Meisterschaft etwa sind die Staatsmeisterschaften nun leicht untergeordnet. In rückblickenden Gesamtbetrachtungen des Jahres haben sie keine ganz so hohe Strahlkraft wie die ab Mai bestimmende nationale Meisterschaft. Vielleicht könnte man daher sagen, dass Mannschaften in den regionalen Titelkämpfen eine Saison nicht wirklich retten, aber durchaus ein wenig beschädigen oder gar zerstören können.

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