Türchen 7: René Higuita

René Higuita wurde sich selbst und seinem Trainer zum Verhängnis wegen seiner Spielweise. Gleichzeitig war es auch das Fundament der gemeinsamen Erfolge. Und die Verkörperung einer gesamten Fußballkultur.

Trainer Francisco „Pacho“ Maturana dürfte (hierzulande) kaum jemandem bekannt sein; dabei war sein Anspruch mithilfe eines „schönen Fußballs“ den kolumbischen Fußballstil zu verändern und weltweit bekannt zu machen. Schlüsselrolle: Higuita. In einem Interview bei „Conmebol.com“ sprach Maturana wie folgt:

“We set out to be the protagonists, to be the owners of the ball, to have our own style and that gave us a distinct personality both on and off the pitch.”

In den frühen 90ern galten die Kolumbianer allerdings als eine der stärksten Mannschaften der Welt. Jupp Heynckes sprach damals sogar von den Kolumbianern als dem womöglich taktisch interessantesten Team bei der WM 1990, was Tim Rieke in diesem Artikel auch nachvollziehbar argumentierte.  Ein Grund dafür war – neben Ballbesitzfußball, Raumdeckung- und Pressingansätzen – wie erwähnt der Torhüter. René Higuita ist womöglich der extremste Prototyp der Torwartkette und des Torwartliberos, der auf allerhöchstem Niveau starke Leistungen zeigte. Und teilweise gilt er als Witzfigur.

Ein Fehler als falsches Symbolbild

Wenn am Stammtisch der Name Higuita fällt – und ja, auch Spielverlagerungsautoren sitzen gelegentlich an solchen – sind es meist die etwas älteren, die amüsiert den „komischen Kauz“ nennen und den Fehler bei der WM 1990 erwähnen. Einen langen Befreiungsschlag der Kameruner fing Higuita wie üblich circa 35 Meter vor dem eigenen Kasten ab. Er spielte mit dem rechten Innenverteidiger einen Doppelpass, wobei der Rückpass unerwartet kam; Higuita hatte sich bereits leicht abgewendet.

Entsprechend seines üblichen Stils versuchte Higuita den Ball mit dem rechten Fuß zu stoppen; wäre er technisch noch besser gewesen, dann hätte er dies womöglich mit dem linken Fuß gemacht. Die Körperhaltung war unangenehm abgewandt vom Gegner, der ihn sofort unter Druck setzte. Womöglich hätte Higuita jetzt einen Kurzpass spielen können, doch Milla befand sich im richtigen Abstand und Tempo, um diesen Pass durchaus abfangen zu können. Higuita entschied sich den Ball zurückzuziehen und Milla auszuspielen. Wegen der unpassenden Körperhaltung und der Anlaufdynamik Millas mündete dies jedoch in einem folgenschweren Ballverlust, der in der 109. Minute zum Ausscheiden Kolumbiens führte.

Higuitas Dribbling, wo er sich den Ball hinter der Sohle zurückzog und in die andere Richtung legte, sonst sehr effektiv bei zugestellten Innenverteidigern, funktionierte gegen Milla nicht.

Higuitas Dribbling, wo er sich den Ball hinter der Sohle zurückzog und per Innenrist in die andere Richtung legte, sonst sehr effektiv bei zugestellten Innenverteidigern, funktionierte gegen Milla nicht.

Higuita wurde zur Lachnummer und erhielt bei der nächsten Weltmeisterschaft nicht einmal die Möglichkeit diesen Fehler für die Weltöffentlichkeit zu korrigieren. Seine Errungenschaften vor und zwischen den beiden Weltmeisterschaften wurden dadurch vergessen.

Verrückter mit Konzept

Nach einem Jahr bei CD Los Millonarios wechselte René Higuita zu Atlético Nacional Medellin, wo er zur Vereinslegende wurde. Bei Nacional gewann er die Copa Libertadores 1989, die Copa Interamericana im Folgejahr und kam 1995 nochmal ins Finale der Copa Libertadores. Dabei war Higuita in der Jugend noch Mittelstürmer gewesen, bevor er ins Tor ging. In seiner Karriere erzielte er gar 44 Tore nach Freistößen und Elfmetern, was Testament seiner technischen Qualität ist.

In jener Zeit war Higuita einer der wenigen Torhüter, der konstant mitspielte – mit und ohne Ballbesitz. Immer wieder bewegte er sich aus dem Strafraum heraus, um gegnerische Angriffe abzufangen oder den Ball zu verteilen. Francisco Maturana, der damalige kolumbianische Nationaltrainer, erkannte darin eine nahezu einmalige Chance.

“With Rene as sweeper, we have 11 outfield players. The Holland keeper in 1974, also operated as a sweeper – with a difference: The Dutchman came out just to boot the ball into the stands. Higuita can do much more.”

Zwischen 1990 – wo Higuita zu einer globalen Lächerlichkeit wurde – und 1994 verlor man nur 1x in 34 Spielen und qualifizierte sich als Gruppenerster für die Weltmeisterschaft in den USA. Darunter gab es sogar ein 5:0 in Buenos Aires, die erste WM-Qualifikationsheimniederlage der Argentinier in deren Nationalmannschaftsgeschichte. Zwischen 1987 und 1995 landete man bei fünf Copa America gleich vier Mal unter den letzten Vier.

Unter Druck kann auf Higuita verlagert werden. Er spielte dann nicht nur Pässe nach vorne, sondern begann Dribblings in offene Räume und lockte Gegenspieler heraus.

Unter Druck kann auf Higuita verlagert werden. Er spielte dann nicht nur Pässe nach vorne, sondern begann Dribblings in offene Räume und lockte Gegenspieler heraus.

Kolumbien galt nicht nur als eine der offensivstärksten Mannschaften der Welt, sondern auch defensiv als eine Rarität – und vielleicht jene Nationalmannschaft, die den Idealen Sacchis und Cruijffs in den Vereinsmannschaften in dieser Zeit am nächsten kam. Dieser Trend startete allerdings schon in den 80ern und verblüffte nicht nur Jupp Heynckes, sondern auch andere Europäer:

After a 1-1 friendly draw with England at Wembley in 1988, then-manager Bobby Robson said: „He left his penalty area five times during the game. He’s come out to the touchline to tackle Gary Lineker; he’s shown Peter Beardsley the ball and beaten him before taking it back into the box and picking it up.“ Robson had asked midfielder Steve McMahon what he made of the Colombians after the game, to which the Liverpool star shook his head and replied: „Different world, boss.“ – von Espnfc.com

1994 galt man also nicht grundlos als einer der Geheimfavoriten auf die Weltmeisterschaft – ähnlich der Chilenen bei der WM 2014, möchte man meinen. Doch es war eine der Hintergrundgeschichten der damaligen Zeit, welche den Traum von Higuitas globaler Rehabilitation zunichte machte. Higuita hatte bereits Probleme mit dem Gesetz, als er sich privat mit dem Drogenbaron Pablo Escobar traf (damaliger Vereinsbesitzer Nacionals!) und über seinen Anwalt diesen als „Robin Hood“ bezeichnete.

Nach einer Vermittlung bei einem Kidnappingfall zwischen den Drogenbaronen Esobar und Molina, wo Molinas Tochter freikam, wurde er wegen Beteiligung an kriminellen Aktivitäten verurteilt. Ursache: Eine Provision für das Vermitteln, obgleich dies nur als Vorwand für Informationen zu Escobar gilt. Proteste der Bevölkerung und ein Hungerstreik sorgten für Higuitas Entlassung aus dem Gefängnis, doch zur Weltmeisterschaft 1994 konnte er nicht fahren. Ohne ihn fehlte es Kolumbien an den Fähigkeiten den Spielaufbau mit einem spielstarken Torhüter zu verbessern und die offenen Räume hinter der Abwehrreihe zu sichern.

Higuita fängt einen langen Ball ab, seine Mitspieler stehen tief. Er geht ins Dribbling, sie sichern ab. Er spielt per Außenrist einen gefährlichen Pass. Konter.

Higuita fängt einen langen Ball ab, seine Mitspieler stehen tief. Er geht ins Dribbling, sie sichern ab. Er spielt per Außenrist einen gefährlichen Pass. Konter.

In Erinnerung blieb sein Fehler. Sein Trainer Francisco Maturana kommentierte diesen wie folgt:

„There was no point in anger because he was expressing the Colombian soul.“

Für Interessenten der kolumbianischen Nationalmannschaft gibt es hier das 5:0 in Buenos Aires in voller Länge. Empfehlenswerte Zusammenschnitte von Higuita finden sich hier, hier und hier.

HK 8. Dezember 2015 um 10:30

Ein Artikel über Higuita ohne den Skorpion?
Das hättet ihr ihm schon noch gönnen können ((-;

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luckyluke 7. Dezember 2015 um 13:41

Auch wenn ich diese Frage eigentlich hasse: Wie gut war der Mann denn auf der Linie? Oder eher in den „klassischen“ Torwartaufgaben?

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Gh 7. Dezember 2015 um 15:42

Soweit ich mich erinnere sehr gut. Im Strafraum bei Flanken trotz geringer Groesse ziemlich sicher, wie alle kleinen Torhueter (1,75 oder so) dabei etwas unorthodox (rauslaufen, erkennen, man kommt nicht ran, schnell wieder reinlaufen). Auf der Linie sehr stark im Antizipieren natuerlich extrem stark. Wie seht ihr in dem Zusammenhang eigentlich Jorge Campos?

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Jimbo 7. Dezember 2015 um 01:00

Eine dieser Hätte/Wäre/Wenn-Fragen, aber wäre Higuita das Missgeschick 1990 nicht widerfahren, wäre es plausibel, daß wir Neuer-gegen-Algerien-esques Torwartspiel schon 2-3 Weltmeisterschaften eher gesehen hätten?

Was in dem Artikel keine Erwähnung fand: bei dem WM 1990 hatten die Kolumbianer eine starke Blockbildung. Higuita, sowie drei Mann der Viererkette spielten zusammen bei Atlético Nacional.

Bezüglich der WM 1994 kann ich jedem nur die ESPN ’30 for 30′ Dokumentation „The Two Escobars“ dringend ans Herz legen — die vielleicht zweitbeste Sportdokumentation aller Zeiten gleich nach „Hoop Dreams“.

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victorolosaurus 7. Dezember 2015 um 00:56

Erster.

Im Ernst: Im Seitentitel steht noch Türchen 5.

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