Die Niederlande in der Krise? Ein Kommentar
Im vergangenen Monat verpassten die Niederländer das Ticket für die Euro 2016. Das Testspiel gegen die deutsche Nationalelf am heutigen Dienstag kann für Oranje also nicht als Probe oder Vorbereitung mit Blick auf die Endrunde, sondern maximal als Anfang eines Neuanfangs dienen. Zur Lage in den Niederlanden stellt sich die Frage: War das Scheitern in der EM-Quali ein Fehltritt als Einzelfall oder steckt mehr, steckt eine größere Krise dahinter?
Das Ausscheiden der Niederländer in der EM-Qualifikation hat im Oktober hohe Wellen geschlagen, speziell vor dem Hintergrund des aufgestockten Teilnehmerfeldes. Die heimische Presse ging mit dem Team hart ins Gericht, die internationalen Stimmen fielen erschüttert aus. Manche wollten größere Veränderungen und sprachen von der Notwendigkeit einer „Rettung“ des niederländischen Fußballs, andere blieben irgendwie unaufgeregt oder gaben zu Protokoll, dass Oranje, so der Tenor, „immer noch eine starke Mannschaft“ hätte.
Das gesamte Thema steht in einer Zwischenposition, gleichzeitig alleine für sich und gleichzeitig auch in einem größeren Kontext. Das trifft sowohl auf das sportliche Geschehen selbst als auch die Reaktionen, die das Verpassen der EM ausgelöst hat, zu. Der Zusammenhang betrifft das internationale Abschneiden der Elftal und der Vereinsmannschaften in den letzten Jahren. Lässt man den dritten Platz bei der WM 2014 heraus, der aber ohnehin wegen des 5-3-2 nicht immer als typisch oder repräsentativ gewertet wird, ergibt sich eine nicht allzu rosige Bilanz: Gruppenaus bei der EM 2012, geringe Erfolge der Klubs in Champions League und Europa League, durchwachsene Ergebnissen bei den Turnieren der U-Nationalmannschaften – und jetzt auch noch das Desaster in der EM-Quali.
Konkret: Nur für eine der letzten vier U21-EMs und keine der letzten fünf U20-WMs waren die Niederländer qualifiziert. Ajax hat zum Beispiel in den vergangenen Jahren oft das Achtelfinale in der Königsklasse verpasst, wurde stattdessen Dritter und schied nach teils vollmundigen Ankündigungen für die Europa League schnell aus. Dass die anderen Teams mal weiter kamen als ins Achtelfinale, war selten – stattdessen mussten die Niederländer ihre Vertreter zunehmend schon in den Play-Offs verabschieden, ob nun Groningen, Vitesse oder Feyenoord. Diese bisherigen Vorfälle haben das Vertrauen in die eigene Wettbewerbsfähigkeit ein Stück weit erschüttert und dazu geführt, dass bei Misserfolgen die allgemeine Tendenz zur Krisenbestimmung nicht weit entfernt liegt.
So lässt sich das Quali-Scheitern nicht komplett losgelöst für sich betrachten. Trotzdem ist den Untergangsszenarien für den niederländischen Fußball – ohne vorhandene Probleme beiseiteschieben zu wollen – zunächst einmal entgegen zu halten, dass das Quali-Aus, das nun zum Sinnbild einer Generalkrise wurde, andererseits auch ein Einzelphänomen ist. In dieser Hinsicht gibt es manche Faktoren, die spezifisch an der Mannschaft von Guus Hiddink und Danny Blind festzumachen sind, aber nicht oder nicht in dem Maße als allgemeingültig für die Situation des niederländischen Fußballs gelten können. Zu Hiddinks Zeit sollen an dieser Stelle gar nicht mehr so viele Worte verloren werden, da die Zweischneidigkeit dieser Phase schon einmal angeklungen ist.
Schwache Ergebnisse unter Danny Blind
Danny Blind startete mit drei Niederlagen aus vier Partien enttäuschend in seine Zeit als Cheftrainer. Aus der schwierigen Ausgangslage konnte er die Play-Offs nicht sichern und musste die Türkei in der Tabelle vorbeiziehen lassen. Im ersten Duell gegen Island erzeugten seine Schützlinge mit einer im Verlauf klarer werdenden Dreierkettenasymmetrie im Aufbau zwar Dominanz und spielten das recht sauber aus, aber zu eng gestaffelt. So ließen sie den Ball hinten laufen, konnten aber nur inkonstante Verbindungen über das im Freilaufverhalten zu passive Mittelfeld nach vorne finden. Dort gab es einzelne raumöffnende Mechanismen oder Pärchenbildungen, aber insgesamt war die Spielanlage etwas zu breit, flügelorientiert und auf die Außenstürmer fokussiert.
Auffällig war auch, dass das Bewegungsspiel und Positionierungsverhalten bei Umformungen immer ein bisschen willkürlich wirkte, was sich in den folgenden Partien weiter durchziehen sollte. Aus der Vergangenheit mitgebracht, schuf das teils zu weite und wenig mit gegenläufigen Positionsveränderungen ausgeglichene Zurückfallen Sneijders Probleme. Schon zur Zeit der WM war das eine entscheidende Problemstelle, die die Präsenz nach vorne verringerte, die Strukturen vorhersehbarer machte, die Raumfreiheit des übrigen Mittelfelds einschränkte und nebenher dazu beitrug, dass die in diesen Zonen beginnenden Ansätze immer ein wenig aus den zentralen Bereichen heraus drängten. Zumindest zwei der vier Partien waren offensiv aber nicht ganz so schlecht, wie sie gemacht wurden.
Gegen die Türkei und später gegen Tschechien brachten die Niederländer ein simpel flügelorientiertes 4-3-3 auf den Platz, das insbesondere in Konya oft nur harmlose Flanken zu bieten hatte. Auch die erste Halbzeit gegen Tschechien war von zu hoher Weiträumigkeit geprägt, die Hektik, überfrühte Verlagerungen und zu viele direkte Pässe hinter die Abwehr mit sich brachte. Diese Mittel waren in ihrer Ausführung wenig erfolgsstabil und führten zu partiellem Strukturverlust. Hinten wurden die schon zuvor prägenden Mannorientierungen zu radikal und unflexibel ausgespielt, was die tschechischen Angriffe mit der Zeit aufdeckten. So wirkte die niederländische Defensive instabil, kam einige Male ins Wackeln und musste schon nach 35 Minuten einem 0:2 hinterherlaufen. In der Endphase wurde konsequent und extrem gebolzt, taktisch nicht unklug angelegt, nachher medial kritisch betrachtet.
Erwartungen nur in Ansätzen erfüllt
Die Eindrücke aus Blinds kurzer Zeit als Ajax-Trainer um 2005 hatten Besseres erwarten lassen. Zwar spielte jenes Team damals mit vielen langen Bällen und breiten Außenstürmern, hatte zudem einen hohen Anteil an Distanzabschlüssen, aber die Raumnutzung im Aufbau und die gut abgestimmten, füreinander raumöffnenden Rochaden wussten zu gefallen. Kritisch könnte man anmerken, dass – trotz der guten Grundsystematik – es damals noch, zumal gegen die Mannorientierungen, einfacher fiel, nach kleinen Halbraumüberladungen im zweiten Drittel horizontal Raum für nachstoßende Mittelfeldbewegungen zu öffnen. Kurze Momente des kleinen Zentrumsspiels nach Direktpässen auf den Mittelstürmer gehörten aber nun auch bei der Elftal zu den Positivpunkten, die es – bei aller Kritik – gab.
In der zweiten Halbzeit gegen Island konnte Blinds Team den Fokus schon überraschend gezielt auf das Zentrum verändern und versuchte es dort mit einigen Kombinationen, wenngleich nicht so gut abgestimmt. Beim Match in Kasachstan begann man nach dem verflachten Anfangsschwung ab Mitte des ersten Durchgangs auch dort, Vertikalpässe von Bruma auf Huntelaar und Ablagen ins Mittelfeld zu forcieren. Nach direkt anschließenden Schnittstellenpässen von Daley Blind auf die durchstartenden Flügelstürmer gab es so einige Chancen. Gegen Tschechien passierte das allerdings seltener und undynamischer. Überhaupt passen solche Momente, in denen – wie 2005 auch bei Ajax – die zentralen Akteure nach kurzen vor- oder rückstoßenden Bewegungen in von den breiten Flügeln aufgezogenen Bereichen zusammenspielen, eigentlich besser zu Blinds Spielweise aus aktiver Zeit.
In den 90ern zeigte er als Ajax-„Libero“ viele aufrückende Läufe, teilweise bis in den Strafraum, und band sich auf diesem Wege in die druckvollen Vertikalkombinationen der Mannschaft ein. Vereinzelt bestanden in genau in solchen oder ähnlichen Momenten nun die Lichtblicke der von ihm trainierten Elftal. In den Fernsehinterviews seit seiner vorzeitigen Ernennung zum Cheftrainer wirkte er insgesamt recht analytisch und kam einige Male auf kleine taktische Aspekte zu sprechen. Das erste Tor unter seiner Leitung, durch Wijnaldum gegen die Kasachen, gab ein Beispiel für die Nutzung flacher, diagonaler Andribbelaktionen der Außen mit Folgesupport. Trotzdem, letztlich waren gerade die Partien gegen die Türkei und Tschechien nicht besonders überzeugend und zeigten eine Reihe an Instabilitäten und Achillesfersen.
Zwei Hauptprobleme
Nun gilt es die andere Seite der Medaille zu betrachten – und die sieht so aus, dass die Schwächen der Nationalmannschaft in den letzten Partien über Phasen außergewöhnlich schwerwiegend waren, aber grundsätzlich schon auf allgemeine Problemstellen hindeuten. Dies sollte man aber wiederum nicht zu weit spannen: Der niederländische Fußball steckt nicht in einer Generalkrise. Die Auftritte in der EM-Qualifikation bildeten die Problemlage nicht authentisch ab, sondern ließen die Situation schlimmer wirken, als sie ist. Aber vom Prinzip wurden die thematischen Kernpunkte deutlich. Es sind vor allem zwei entscheidende Probleme, die den Niederländern innerhalb ihres ansonsten nicht schlechten Grundkonzeptes aktuell – in verschiedenen Kontexten, mal mehr, mal weniger – Schwierigkeiten machen.
Diese beiden Punkte lassen sich eigentlich auch schnell umreißen und bedürfen keiner besonders ausführlichen Erklärung. Es sind nicht sonderlich komplexe oder ambivalente Dinge. Zum einen geht es um zu viele und zu klare Mannorientierungen, zum anderen um die Fokussierung und Einbindung des Flügelspiels und des „hohen“ Spiels. Vor etwa zwei Jahren gab es in einer unserer Ballnah-Magazin-Ausgaben einen Artikel über die speziellen Eigenheiten der niederländischen Eredivisie, die – verkürzt gesagt – eine Liga der Fluidität und der Aufrückbewegungen, der Mannorientierungen und langen Bälle ist. Die meisten dieser Aspekte sind auch prägend für den gesamten niederländischen Fußball und dessen – wie man sie häufig nennt – Philosophie.
Die Mannorientierungsthematik
Das eine große Problem bzw. eher Problempotential liegt also in den weit verbreiteten Mannorientierungen, teilweise Manndeckungen. Diese bedingen, dass man tendenziell zu einer direkten Verteidigung des einzelnen Gegners neigt, logischerweise. Das zieht Aufmerksamkeit von anderen Komponenten weg und bringt stattdessen eine eher reagierende Rolle – auf das, was der Gegner macht, wie gut oder auch schlecht dieser spielt. Ein Reagieren, bei dem die Verantwortung quasi einzeln aufgeteilt wird, kann kaum wirklich kollektiv und vielseitig sein, sondern wird auf die individuelle Ebene verlagert. Letztlich bedeutet das in der Folge, dass geschickte Teams sich den Gegner zurecht legen, ihn mit den entsprechenden Läufen aufreißen, fast machtlos machen und sich selbst große Lücken schaffen können.
Potentiell erleichtern Mannorientierungen der angreifenden Mannschaft, schnelle und simple Abläufe beispielsweise am Flügel durchzubringen oder Raum und Löcher zu öffnen. So kassierten die Niederländer das 0:2 gegen die Tschechen, als sie bei einem Einwurf mannorientiert herausgezogen wurden. In der Eredivisie sieht man häufig den Fall, dass durch das Wegziehen einzelner Mannorientierungen große Aufrückräume aufgehen, die nicht kollektiv zugeschoben werden, so dass Verteidiger manchmal über 30 oder 40 Meter hinein dribbeln und mehrere Linien überwinden können. Letztlich kann es also passieren, dass diese Zuordnungen – wie in der zweiten Grafik unten zu sehen – die Raumsicherung schädigt, damit die Organisation und den Zugriff.
Damit ist nicht gesagt, dass Mannorientierungen immer schlecht sind, und es liegt im Übrigen kein Allheilmittel darin, bei defensiven Problemen von mehr oder weniger stark mannorientierten Teams – prinzipiell haben ohnehin fast alle Mannschaften einen leichten Zug davon in ihrem Spiel – vor allem über die Nachteile dieser Zuordnungen zu reden. In einem gewissen Rahmen können diese sogar ein wirksames und gutes Mittel sein. Bei der WM haben die Niederländer dieses Mittel – wenngleich etwas wackelig und nicht immer ideal bespielt – durch gute Ausführung zum Erfolg bringen können. Man denke auch an Heckings Nürnberger vor einigen Jahren, an Elemente des Bayern-Pressings unter Heynckes, Möglichkeiten des Herausrückens oder an das verstärkte Wiederaufkommen nach einem zwischenzeitlichen „Verschwinden“ der Mannorientierungen.
Im ersten Spiel unter Blind gegen Island wurden die losen Mannorientierungen des Mittelfelds mit den etwas engeren und passiveren Grundpositionen der Außen verbunden. Das war in dieser Zusammenstellung auch noch in Ordnung und funktionierte über weite Strecken der Partie entsprechend problemlos. Wenn die Mannorientierungen aber überhandnehmen – wie schließlich bei der Partie gegen Tschechien – oder, so geschehen bei der Szene aus der Partie zwischen Dordrecht und Twente, aus einer falschen Grundausrichtung unbewusst oder unaufmerksam heraus gespielt wird, können die potentiellen Schwächen und Abhängigkeiten, die damit theoretisch verbunden sind, unter diesen Umständen schnell mal sehr gefährlich zutage treten. Eine Nebenerscheinung: Wenn man immer mannorientierte Gegner hat, ist die Logik des Offensivspiels irgendwann auch etwas zu sehr darauf gepolt, so etwas zu knacken.
Zwischen Flügelbreite und weiten Bällen
Das zweite Kernproblem betrifft die offensive Ausrichtung der Außenstürmer des klassischen 4-3-3. Die niederländische „Schule“, soweit man einheitlich davon sprechen kann, legt seit jeher Wert auf eine breite, auf Dribblings orientierte Spielweise. Das kann allerdings hemmend wirken, wenn dadurch der Flügel gegenüber anderen Zonen zu sehr fokussiert ist und gleichzeitig Synergien wie Verbindungen von der gestreckten Anordnung eingeschränkt werden. Vor allem in den Jugendauswahlteams war das Problem einer zu breiten und zu dribblingorientierten Einbindung zuletzt einige Male sichtbar, teilweise auch in manchen Vereinsnachwuchsteams.
Im konkreten Fall von Oranje bot in den erfolglosen Quali-Partien die Rolle von Memphis Depay Anlass zur Kritik: Er wurde sehr breit angespielt, nicht gut unterstützt und sollte frühzeitige Aktionen in die Spitze einleiten. In diesem Fall dribbelte er gar zu wenig, sondern brachte nur zahlreiche scharfe, druckvolle, aber zu alternativlose, mechanisch eingebundene und in den Situationen wenig vielversprechende Flanken in Richtung des zweiten Pfostens. Letztlich waren das vielleicht die bisher ineffektivsten Partien seiner Profi-Karriere. Auch in den Begegnungen unter Hiddink stellten die Rollen der Außenstürmer oft ein Problem dar, im Fall von Depay dann zu breit und zu sehr auf das Dribbling bezogen, außer wenn das gut genutzt wurde.
Die Ausbildungsrichtlinien, speziell beim KNVB, propagieren einerseits den flachen und gepflegten Stil, sowie andererseits, das Spiel breit und gestreckt zu halten. Dass dies klassisch, sauber, systematisch wirkt, vermittelt bisweilen den Eindruck eines Qualitätskennzeichen und einer besonders konsequenten oder professionellen Umsetzung von Richtlinien und durchstrukturiert angelegten Konzepten. Manchmal scheint das auch eine Trennlinie zu „gewöhnlichen“, durchschnittlichen Bereichen darzustellen, also zu Mannschaften aus der unteren Hälfte der Eredivisie oder unterklassigen Teams. Dort sind gegenüber der systematischen Lehre der Raumaufteilung beispielsweise lange Bälle häufiger und lassen sich primär dort verorten.
Manchmal wirkt es bei Spielen der Eredivisie oder der zweiten Liga erstaunlich, wie viele dieser weiten Zuspiele dort vorkommen und wie selbstverständlich manche Teams bisweilen solch schnelle Pässe in die Spitze suchen. Auch dort kann Flügelspiel bedeutsam sein, aber eher für die präsente Überladung oder auch mal das Spiel auf Abpraller und weniger im Zuge konzeptioneller Gesamtraumbesetzung. Das konsequente, breite, systematisch aussehende Ballbesitz- und Positionsspiel, das sehr hoch gehalten wird und auf das man vielleicht manchmal etwas zu viel Wert legt, ist demgegenüber tendenziell ein Elite-Zeichen. Nur kann aber die zu rigide oder übertriebene Ausführung dieses Prinzips zu großen Problemen führen.
Saubere lange Bälle in Zwischenräume
Gelegentlich kommen die langen Bälle aber auch in diesen Kontexten vor, gewissermaßen in konstruktiverer Deutung. Es handelt sich um eine konzeptionell und schematisch angelegte Systematik langer Bälle, um einen Zweittypen. Die Idee dahinter ist weniger eine kollektive, kampfstarke Nutzung über Abpraller oder Flügelüberladungen, sondern die Einbindung in die saubere, strukturstarke Raumaufteilung. Lange Zuspiele auf einzelne Durchstöße hinter die Abwehr oder – lupferartig als Mittel zum Aufrücken – in Freiräume zwischen den Linien sind im niederländischen Fußball schon in früheren Zeiten verbreitet gewesen. Bei van Gaals Ajax gehörten sie ebenso zu beliebten Mitteln im Aufbau für die Übergangsmomente wie in einigen wichtigen Teams der 80er-Jahre.
Eine breite, stabile, durchdachte und konsequente Raumverteilung auf Basis des Positionsspiels soll, so der Gedanke, das gegnerische Defensivgerüst destabilisieren und damit Zwischenräume öffnen. Diese wiederum versucht man mit einzelnen Direktpässen zu bedienen, um einen sich aus der Ordnung dorthin lösenden Offensivspieler in Szene zu setzen. Neben dem flachen Vertikalzuspiel erfolgt das alternativ über solche weiten Lupfer. Es wäre zu überlegen, ob die niederländische Vorliebe für Raum und Systematisierung zu einem Fokus geführt hat, dem Einzelnen die Freiheit, sich „auszudrücken“, geben zu wollen, indem man ihn mit guter mannschaftlicher Arbeit in die Situation dafür bringt.
Diese Idee ist jedoch problembelastet. Zum einen vertraut ihre gleichförmige Methodik stark auf ausgeglichene individuelle Klasse der einzelnen Angriffsspieler, die hohe Zuspiele in klar abgegrenzten Situationen sauber verarbeiten müssen. Wenn solche breitflächige individuelle Qualität nicht gegeben ist, wird die Umsetzung schwierig. Zum anderen haben sich Kompaktheit und kollektives Verschieben als Gegenkräfte über die letzten Jahre verbessert. Gelingt das Öffnen von freien Zwischenräumen, ziehen sich die Gegner nun schneller wieder zusammen. Nur im ersten Moment ist für die ballbesitzende Mannschaft also das Auffächern nötig, ehe man den Kollegen ballnah unterstützen muss. Das geschieht in einigen niederländischen Teams dann zu inkonsequent.
Zwei Einschränkungen oder Anmerkungen sind an dieser Stelle noch zu machen. Auf der einen Seite stehen die beiden exemplarisch behandelten Probleme nicht allein, sondern man könnte noch weiteres hinzufügen. Dabei handelt es sich gegenüber diesen beiden Kernaspekten aber um Detailphänomene, wie sie eigentlich in allen Ländern irgendwie vorkommen. Auf der anderen Seite soll noch einmal betont werden, dass die in den letzten Absätzen vielleicht negativ wirkenden niederländischen Ausbildungskonzepte, Nachwuchsförderung usw. auch zahlreiche vorbildhafte Stärken tragen. Das reicht u.a. von der spielorientierten Trainingsmethodik über Modelle wie TIC, den starken Fokus auf Pass- und Zusammenspiel oder Kaatsers (Klatschen lassen und Ablagen), die Wichtigkeit von Problemlösungen im Spiel bis zur Organisation und der konstruktiven Individualförderung.
Keine Stars mehr?
Während der großen Diskussionen in den niederländischen Medien nach dem Quali-Scheitern wurde als einer der Kritikpunkte auch das Spielermaterial genannt. Der These, dass Oranje einfach nicht mehr so gute Fußballer habe wie einst, sei an dieser Stelle entschieden widersprochen. Zwar gibt es derzeit nur wenig absolut herausragende Topstars und einige nicht ganz so starke Jahrgänge, doch andererseits sind auch weiterhin zahlreiche tolle Kicker für die Nationalmannschaft verfügbar ebenso wie es auch in vielen Juniorennachwuchsteams vielversprechende Talente gibt oder – für einige sehr hoffnungsvolle Kandidaten wirkte der Übergang zu den Profis zuletzt auch erfolglos – gab.
An dieser Stelle ist es wichtig zu bemerken, dass die Niederländer derzeit im halb-jüngeren bis mittleren Profialter wenige Spieler haben, die individuell sehr stark und dabei weitgehend komplett veranlagt sind, die außerdem auch noch auf spektakuläre und in entscheidenden Einzelszenen aufscheinende Weise spielen, wie es ein Robben oder van Persie für eine frühere Generation sind und im internationalen Bereich Leute wie Pogba verkörpern würden. Bei den Niederländern hat man aktuell einige unscheinbare, einige inkonstante und viele kollektivabhängige Spieler, für die die konkrete Einbindung sehr wichtig ist und die dann – wenn das gegeben ist – in der mannschaftlichen Unterstützung enorm aufblühen können. Es sind keine klassischen Stars, nicht mit absoluter Topqualität, aber es gibt viele Niederländer auf mindestens gutem internationalem Level.
Zum anderen warten für die nächsten Jahre viele gute junge Spieler, so wie Riedewald, Ayoub, Rekik, Darri, Sinkgraven, Kishna, Fosu-Mensah, van de Beek, Bergwijn, usw. Allein wenn man sich am vergangenen Donnerstag die Aufstellung des U21-Teams in der Partie gegen den weißrussischen Nachwuchs anschaute, waren fast nur Spieler zu lesen, auf die man sich als Fußballbeobachter freuen kann – wegen der individuellen Qualität versprechen, von den Typen her oder beides. Hinzu kommt – aber das ist fast überall ein Problem – der Punkt, dass physische Probleme oder spezielle Einbindungsnotwendigkeiten für einige „gescheiterte Jungstars“ gesorgt haben. Während also jemand wie El Ghazi schneller durchstartet, blieb der große Durchbruch bei Spielern wie Achahbar oder Ebecilio bisher aus.
Sieg mit Fünferkette
Daran anschließend kann man nach der siegreichen Partie der Niederländer vom vergangenen Freitag in Wales festhalten, wie schnell sich die Dinge ändern können. Keinesfalls ist nun schon wieder alles in Butter bei Oranje, aber Stand Oktober hatte man doch für die weitere Zukunft kaum etwas erwarten und eher schwere Zeiten befürchten können, wohingegen die Eindrücke aus der Partie in Cardiff Hoffnung machen und als Startschuss für einen kleinen „Neuanfang“ taugen können. Danny Blind stellte auf ein 5-3-2 um, veränderte einige Personalien und richtete vor allem seine Mannschaft, gerade mit Ball, anders und besser aus – schon lief es viel erfolgreicher.
Zunächst ging schon mit der formativen Umstellung ein stärkerer Zentrumsfokus einher, mit vielen Angriffseinleitungen über die Mitte mit Pässen in den Block hinein auf „kapstok“ Bas Dost. Der Wolfsburger überzeugte mit teils einfallsreichen Weiterleitungen oder Ablagen. Während Arjen Robben zurückfallend durch die Mitte driftete, zeigte Quincy Promes als beweglicher Zehner situative Ausweichbewegungen, so in Richtung Flügel. Dafür rückte Sneijder als offensiverer Sechser nach vorne, kombinierte mit Robben oder sorgte zusammen mit Clasie für zum Halbraum verschobene Mittelfeldstaffelungen, wenn Robben die Bälle vom Flügel aufnahm und zu seinen Dribblings nach innen ansetzte.
So entstanden einige schöne Kombinationen, manchmal gab es sehr konsequente Seitenüberladungen mit den nach links gewichenen Offensivkräften und auch der Treffer zum 0:1 entstand aus einem zentralen Spielzug mit Folgeverlagerung auf Flügelverteidiger Janmaat. Überhaupt scheint die so interpretierte 5-3-2/3-5-2-Formation für Blinds Stil fast schon generell passender als das 4-3-3. Zu bedenken ist bei der Positivbeschreibung zwar die sehr passiven Interpretation der Kompaktheit der Waliser und die in tiefen Zonen nicht immer geschickte positionelle Reaktion ihrer Abwehrreihe auf die niederländischen Flügelverteidiger, andererseits aber auch die durchaus unangenehme, gut organisierte Grundsystematik der Briten im Pressing.
Fazit
Abschließend kann man zweierlei festhalten. Zunächst konkret in Bezug auf die Nationalmannschaft und ihr enttäuschendes Abschneiden in der EM-Quali: Das Verpassen der Endrunde 2016 war nach den schwachen Leistungen im Frühherbst die nicht unberechtigte Konsequenz. Das Spiel in Wales hat allerdings schnell einen neuen Weg zur Besserung aufgezeigt. Aus dieser Hinsicht wird die Partie gegen das DFB-Team ein interessanter Gradmesser. Eine Vorschau dazu gibt es von uns auf „Mercedes-Benz-Fußball“. Unterstrichen werden sollte bezüglich der Elftal nochmals, dass die Qualität der Einzelspieler nicht so schlecht ist, wie sie gemacht wird, sondern großes Potential schlummert, wenn richtig und kollektiv eingebunden.
Zum zweiten allgemein in Bezug auf den niederländischen Fußball insgesamt: Dieser befindet sich weiterhin in einer guten und, in manchen Dingen, führenden Position. Die grundsätzliche Lage darf, wenngleich auch dort beispielsweise die öffentliche Fußballdiskussion fragwürdige Blüten treibt, als positiv bewertet werden – im Prinzip funktioniert die niederländische „Philosophie“. Es sollte noch an kleineren Stellschrauben gedreht, vor allem müssen aber die beiden genannten Hauptprobleme angegangen werden. Geschieht das nicht entscheidend, könnten die Niederländer in nächster Zeit tatsächlich jene Konkurrenzfähigkeit verlieren, die man jetzt schon in Zweifel gezogen hat. Also gilt: Weniger manndecken und die Wichtigkeit der breiten Flügel vom teilweisen Dogmatismus lösen. Das sollte eigentlich gar nicht so schwierig sein.
5 Kommentare Alle anzeigen
mananski 18. November 2015 um 19:07
Sehr guter Artikel.
Viele Topspieler hat Holland in den letzten Jahren einfach nicht mehr produziert, die einzigen bei einem Topclub sind Robben, Blind und Depay. Nach der Generation Robben, Van Persie, Sneijder usw. die 2004 zum ersten Mal dabei waren, kamen nicht mehr so viele Weltklasse-Leute nach, und Spieler von denen man dachte, dass sie vielleicht mal Weltklasse werden können wie Elia oder Affellay haben sich nicht so entwickelt. Dazu ist es auch echt ärgerlich, dass Strootman schon lange ausfällt.
zonalmarking hat über das englische Team geschrieben, dass eine „Mittelgeneration“ fehlt.
http://www.espnfc.com/club/england/448/blog/post/2713688/england-hoping-to-avoid-past-mistakes-with-new-generation
Das ist bei Holland teilweise ähnlich, wobei das Niveau der jungen Spieler auch nicht unbedingt so hoch ist wie bei den Engländern…
koom 18. November 2015 um 17:24
Finde den Verfall des niederländischen Fußballs durchaus auch bemerkenswert. Als eine der Schlussfolgerungen würde ich auch noch sagen, dass „alle anderen“ in Sachen Jugendausbildung und Taktik aufgeholt haben und der Unterschied hier kaum noch spürbar ist. Und wenn man dort eben keine Vorteile mehr genießt, dann entscheidet (wie in der Bundesliga) die Materialqualität und -quantität, also sprich: die größere Spielerauswahl und damit die höhere Chance auf Toptalente. Und die Niederlande sind ein sehr kleines Land, vor allem verglichen mit den „Fußballgroßmächten“.
Das ist natürlich nicht alles. Island bspw. bewies ja in der EM-Quali, dass auch mit wenig Mitteln viel gehen kann, aber die machen auch gerade sehr viel richtig und haben vorerst einen großen Underdog-Status. Während die Niederlande eben WM-Dritter und generell ein Land mit großer Historie im Fußball ist.
woody10 18. November 2015 um 14:14
sehr starker, passender Artikel!
das erwähnte Nebenproblem, dass Eredivisie-Clubs aus der Liga die vielen Mannorientierungen und die Bespielung dieser (die generell ganz gut gemacht wird) sehe ich aus meinen quantitativ geringen Eindrücken schon fast als Hauptproblem für die international eher unterdurchschnittlichen Ergebnisse. (kommen natürlich andere, darunter auch vereins- und spielerspezifische Probleme hinzu.
bsg 17. November 2015 um 19:07
sehr cooler artikel, schöner kommentar. Die Sätze sind sooo viel besser als vor Monaten. Dan kann ich den Gedanken viel besser folgen!
Danke!
victorolosaurus 17. November 2015 um 13:54
Ein schöner Artikel. Ein kleiner Gedanke zu dem Spiel gegen Wales: Es war auch ein Sieg mit einem vernünftig eingebundenen, fitten Robben, der dann einfach schon klar ein, zwei Stufen über dem Rest spielt. Da er auf absehbare Zeit der letzte richtig große Spieler bei den Niederländern ist, muss man meines Erachtens ein bisschen Abrücken von dem Dogmatismus und sich mehr Gedanken machen als das vielleicht früher der Fall war. Aber das steht im Artikel auch schon besser. Es ist vielleicht auch eine Gelegenheit (jetzt kommt explizit persönliche Meinung), sich fast schon „historischer“ niederländischer (iSv von Elftal) Probleme anzunehmen, nämlich der fehlenden Gegneranpassung, des „Helden“fußballs und damit einhergehend des manchmal vorherschenden Egoismus‘. Das sind für mich auch Gründe, warum sie in Turnieren unter Wert rausgekommen sind oft.
Offtopic: das van-Gaal-Ajax war schon einigermaßen geil und irgendwann werde ich das mal in einem Footballmanagerteil ans Laufen kriegen. Hat R. de Boer tatsächlich auch Stürmer gespielt? Hatte ich jetzt gar nicht mehr auf dem Schirm. Als falsche Neun oder tatsächlich in der Kanu/Bergkamp-Rolle?