Ambivalente bayrische Stabilität gegen SV Langballkonter 98

0:3

David gegen Goliath, Darmstadt gegen Bayern. Ein ungleiches Duell zweier konträrer Spielphilosophien.

SV Darmstadt 98: Das beste englische Team?

In dieser Saison war Darmstadt bisher noch ohne Niederlage und überraschte viele Experten. Letzte Woche konnte man gar gegen Bayer 04 Leverkusen auswärts gewinnen. Einmal mehr zeigte man dabei eine unorthodoxe und extreme Spielweise. Mit Abstand hat Darmstadt die meisten langen Bälle in der Liga gespielt und gegen Leverkusen hatte man sogar eine Passgenauigkeit von klar unter 50%. Sie fokussieren sich meistens auf eine eher tiefe, mit vielen Mannorientierungen versehene Spielweise, auf die raumgreifende Konter folgen. Nicht umsonst machte Außenstürmer Heller als „schnellster Spieler der Liga“ Schlagzeilen.

Grundformationen

Grundformationen

In gewisser Weise erinnert der Aufsteiger dadurch an viele englische Mannschaften beziehungsweise an den Stereotyp, der über englische Mannschaften vorherrscht. Im Gegensatz zu vielen schwächeren Teams in der English Premier League sind die Darmstädter aber durchaus kompakt, verschieben im Kollektiv ballorientiert und haben zumindest ansatzweise organisierte Strukturen im Umschaltspiel.

Gegen die Bayern formierten sie sich z.B. in einem 4-2-3-1/4-4-2. Gegen den Ball orientierte sich Kempe auf der Zehnerposition an Kimmich und verfolgte diesen etwas im Mittelfeld, übergab ihn aber früh in den Raum, wenn sich Kimmich in Richtung der bayrischen Innenverteidiger zurückbewegte. Daraufhin formierten sich die Darmstädter im 4-4-2(-0) und versuchten die Passwege in die Mitte zu versperren.

Interessant war auch die Rolle der Flügelstürmer. Diese spielten weniger mannorientiert als die zentralen Akteure oder die Außenverteidiger, stattdessen wollten sie durch eine etwas engere und raumorientiertere Deckung die Außenverteidiger beim Attackieren der gegnerischen Flügelstürmer unterstützen oder eben aus einer tieferen, stabileren Position die bayrischen Außenverteidiger dynamisch pressen können.

Prinzipiell funktionierte dies ganz gut, obwohl Darmstadt durch die vielen Mannorientierungen enorm anfällig war in der Mitte gefährliche Räume zu öffnen. In der Anfangsphase schien es, als hätte dies ein großes Problem werden können, doch Bayerns Stabilitätsfokus bewahrte – womöglich beide Seiten – vor Schlimmerem.

Pep Guardiola und die Angst vor dem langen Konter

Schon kurz nach seinem Amtsantritt sprach Guardiola von dem gefährlichen Umschaltspiel in der deutschen Liga. Das konzeptionelle Positionsspiel Guardiolas (El Juego de Posición) beruht auch darauf, dass man den Gegner nach hinten drückt, sich dem gegnerischen Tor annähert und dem Gegner entweder die Fähigkeit zum Verstellen der strafraumnahen Rückpassoptionen oder das direkte Konterspiel mit schneller Unterstützung nimmt; im Idealfall natürlich beides.

Das extrem schnelle und gut strukturierte Konterspiel in der deutschen Liga ist aber teilweise so gut, dass es sich trotz tiefer kollektiver Positionierung beim Beginn der Konter bis zum gegnerischen Tor erstrecken und die weiten Räume hinter einer hohen Abwehr bespielen kann. Guardiola betonte zum Beispiel anhand des Beispiels BVB, wie die Dortmunder nicht mit zwei oder drei, sondern mit der gesamten Mannschaft schnell umschalten und dadurch extrem gefährlich sind.

Darmstadt ist natürlich individuell (und auch kollektiv) schwächer, doch mithilfe ihrer schnellen langen Bälle können sie das gegnerische Gegenpressing überwinden und die offenen Räume bespielen. Dabei nutzen sie wie erwähnt besonders Heller auf der rechten Seite fokussiert; dies war wohl auch ein Grund, wieso sich Guardiola letztlich für das genutzte System entschied.

Wie schon gegen Olympiakos Piräus agierten die Außenverteidiger im Spielaufbau betont tief. Häufig standen sie auf einer Linie mit dem Sechser, der sich nahe der beiden Innenverteidiger aufhielt. Dabei standen sie nicht nur vergleichsweise tief, sondern häufig auch eng. Bayern konnte dadurch situativ Dreierreihen im Spielaufbau herstellen, doch primär ging es darum, einen sicheren Spielaufbau mit viel Absicherung und unterschiedlichen Passwinkeln zu haben.

Im Idealfall sollten die gegnerischen Flügelstürmer herausgezogen werden, damit Bayern die eigenen Flügelstürmer in simplen 1-gegen-1-Situationen auf den Seiten nutzen konnte. Nicht umsonst wurden mit Kingsley Coman und Douglas Costa zwei extrem schnelle und dribbelstarke Akteure eingesetzt, welche meistens – wenn auch nicht immer – mit dem besseren Fuß in Richtung Spielfeldmitte agierten.

Passend dazu spielte mit Thomas Müller oder Robert Lewandowski kein wirklicher Mittelstürmer, sondern Mario Götze. Er agierte zwar nicht als falsche Neun, doch wich oft auf die Flügel aus, orientierte sich mehr an seinen Mitspielern als am gegnerischen Strafraum und versuchte die Flügelstürmer zu unterstützen, als Balancegeber zu fungieren und Räume zu öffnen.

Desweiteren hatten die Bayern viele vertikale Läufe der Achter – Vidal und Rode – in die Spitze. Zumindest zu Spielbeginn. Hiermit öffneten sie Räume im Mittelfeld. Das Ziel war wohl, dass man in der Mitte vor der Abwehr Räume öffnete, welche die Flügelstürmer dann mit ihren hervorragenden Dribblings attackieren sollten. Schon in der Anfangsphase brachte Coman dadurch Vidal zu einer guten Chance, bevor Costa nach einem Lauf in die Mitte nur auf Vidal querlegen musste, der ohne Druck zu einem sehenswerten Abschluss aus über zwanzig Metern kam.

Mit der Führung im Rücken hörten diese Bewegungen auf. Die tiefen Außenverteidiger, die zur Spielverlagerung dienten und dann dynamisch die Flügelstürmer vorder- oder hinterliefen, um zusätzliche Räume zu schaffen, schoben danach kaum noch nach vorne. Auch die beiden Achter hielten sich zurück, wodurch die Darmstädter im zentralen Mittelfeld nicht mehr geöffnet wurden.

Ohne diese Raumöffnung kam die Darmstädter Aggressivität und Kompaktheit in tiefen Zonen komplett zum Tragen. Zwar konnten sie kaum hohe Ballgewinne verbuchen und wurden von Bayern nach hinten gedrückt, doch in Strafraumnähe standen sie stabil. Bayerns tiefere und passive Ausrichtung kulminierte in Aufbausituationen mit einer 2-4-Formation gegen nur einen gegnerischen Pressingspieler (den Mittelstürmer) oder Situationen mit nur Götze in der letzten Linie und fünf Spielern im zweiten Band.

Guardiola lotste nach der Halbzeitpause seine Spieler allerdings wieder nach vorne. Nach dem Seitenwechsel rückten die Achter wieder aggressiver nach vorne, was letztlich seinen Höhepunkt in den zwei Torbeteiligungen Rodes fand. Bayerns 4-1-4-1 gegen den Ball funktionierte ebenfalls gut, Darmstadts lange Bälle kamen nur gelegentlich erfolgreich in die Münchner Hälfte. Desweiteren beschnitten sich die Hausherren selbst, weil die Flügelstürmer nun immer häufiger mannorientiert spielten und dadurch Fünfer- und Sechserreihen in der letzten Linie bildeten. Vermutlich war dies eine Reaktion auf die Münchner Bewegungen, doch Bayern hatte in den defensiven Halbräumen dadurch noch mehr Raum und immer eine Option zur sicheren Ballzirkulation.

Später brachte Guardiola noch Alonso, Martinez und Müller für Douglas Costa, Vidal und Boateng, was aber an der grundlegenden Spieldynamik wenig veränderte. Müller rückte in die Mitte, Götze nach links, Alonso spielte als Sechser und Kimmich als Achter, während Coman nun auf den rechten Flügel ging. Bei Darmstadt brachten die Einwechslungen Jan Rosenthals, Mario Vrancics und Sandro Wagners trotz höherem Pressing wenig.

Fazit

Pflichtsieg für die Bayern in Darmstadt. Am Anfang zeigten die Darmstädter eine gute Leistung, wenn auch mit einigen strategischen Schwachpunkten. Bayern schien diese von Beginn an gezielt anzusteuern, doch der Stabilitätsfokus war bereits zu diesem Zeitpunkt sichtbar und nach dem 1:0 zogen sich die Münchner zurück. Als sie nach der Halbzeitpause wieder einen Gang höher schalteten und die Achter vorschoben, brach Darmstadt auseinander und konnte dies nicht mehr korrigieren.

FAB 21. September 2015 um 13:36

Bei Squawka kann man sich ein schönes Bild vom Darmstädter Aufbauspiel machen, einfach mal Torwart und Abwehrspieler auswählen und sich dazu deren Passpiel anzeigen lassen:
Erkenntnis: Alle Befreiungsschläge nach links in rot (Fehlpass) und alle nach rechts in grün (angekommen) …
Woran liegt das? Ist Heller einfach schneller als Rausch?

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Dr. Acula 21. September 2015 um 07:45

plant die SV redaktion eine vorschau zum spiel wolfsburg-bayern?

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CE 21. September 2015 um 08:27

Es ist nichts geplant.

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mk 21. September 2015 um 10:03

In welchem Universum ist das denn ein Topspiel? Ich meine, Wolfsburg spielt mit… 😉

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Peter Vincent 20. September 2015 um 14:33

Gegen Barca ging es um die Manndeckung auf dem ganzen Feld, Überzahl im Mittelfeld und entsprechender Kontrolle. Das dann hinten Dreierkette gespielt werden musst, war kein Selbstzweck, sondern notwendiges Übel.

Alaba—–Javi——-Boa—–Lahm
=>

—–Alaba———-Javi———–Boa——–

passt schon gut. Wenn Holger fitt ist, spielt er aber sowieso,
dann gibt es ein Duell zw. Javi und Boa bzw. Javi und Alonso/Kimmich.

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Dr. Acula 20. September 2015 um 14:18

bin mal gespannt ob martinez bald boateng als zentraler verteidiger einer 3er-kette ablöst. wenn mich nicht alles täuscht, war das letzte saison so geplant, wenn nicht das kreuzband gerissen wäre

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LuckyLuke 20. September 2015 um 14:30

Wäre meiner Meinung nach auch die beste Aufstellung in der Verteidigung (oder zumindest bei Dreierkette). Alaba (links) und Boateng (rechts) können ihre „Halbraumqualitäten“ perfekt einsetzen und Martinez kann seine defensiven Qualitäten perfekt einbringen (vorausgesetzt er findet zu alter Stärke natürlich)

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HK 20. September 2015 um 15:40

Für Martinez wird das noch ein langer Weg.
Selbst wenn er fit bleibt, kann ich mir so was stammplatzähnliches (wenn’s das bei Bayern überhaupt noch gibt) nur ab der Rückrunde vorstellen.

Btw. Coman, der wirkt wirklich interessant. Auf die Enwicklung kann man gespannt sein.

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LuckyLuke 20. September 2015 um 16:28

Auf jeden Fall! Das war zumindets von mir auch eher perspektivisch gemeint, deswegen ja auch der HInweis, dass er erst wieder zu alter Stärke finden muss…

Ich persönlich fand Coman auch auf Anhieb interessanter in seiner Spielweise als bspw. Costa…

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razor19911 20. September 2015 um 17:08

Habe so das Gefühl, dass ein fitter Badstuber bei Guardiola gesetzt sein dürfte. Boateng sowieso auch.
Geil wäre eine 3-er-Kette mit Alaba-Badstuber-Boateng und einem Martinez als alleinige Sechs davor. Diese Variante würde denke ich sehr gut harmonieren.

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Dr. Acula 20. September 2015 um 17:44

nur dumm, dass guardiola martinez als IV und nicht als 6er sieht….

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Felix 21. September 2015 um 12:29

Martinez werden wir unter Guardiola vermutlich eher selten als alleinige Sechs sehen, da er einfach nicht der Art Spieler entspricht, die er dort gerne spielen sieht (Alonso, Kimmich,…). Er wird viel mehr die zentrale Rolle in der Dreierkette oder eben als Innenverteidiger in der Viererkette spielen.

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CR4 20. September 2015 um 01:42

Mein Gott! mir fehlen gerade die Worte … gegen Real mit Ronaldo & Bale und Barca mit Messi & Neymar werden die Räume hinter hohen Außenverteigern geöffnet und gegen die 98er: tiefe Außenverteiger mit viel Absicherung – damit hab ich nicht gerechnet und bin von Pep eiskalt taktisch erwischt worden (sonst hätte ich natürlich auch nicht auf ein Tor von Darmstadt getippt) – dass muss ich erstmal sacken lassen und ne Nacht drüber schlafen … respect Marcel „nur Heller ist schneller!“

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Koom 20. September 2015 um 14:42

Die individuelle Qualität sollte problemlos einen Sieg sichern, da kann man dann auch praktisch „Sicherheitsfußball“ spielen. Ökonomisch.

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HK 20. September 2015 um 15:44

Genau. Ökonomisch auch Minimumprinzip genannt. Mit möglichst wenig Aufwand ein vorgegebenes Ziel (Sieg) erreichen.

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Yilde 21. September 2015 um 12:49

Zumal die englischen Wochen vor der Tür stehen. Was sollen sich die AV´s da gegen Darmstadt totrennen 🙂

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