Abstiegskampf-Special: 1899 Hoffenheim

1899 Hoffenheim hat ein Albtraumjahr hinter sich. Kann Markus Gisdol den positiven Trend fortsetzen und das Team noch retten?

Spielverlagerung beleuchtet in einem Special den Abstiegskampf der Bundesliga. Wir analysieren kurz die im Abstiegskampf steckenden Teams und prognostizieren ihre Chancen in den verbleibenden zwei Spielen. Die übrigen Teile erscheinen noch vor dem 33. Spieltag am kommenden Samstag.

In Hoffenheim versprachen sich die Fans und Verantwortlichen einiges von dieser Saison. Viel Geld gab der Klub für neue Spieler aus. Trainer Markus Babbel äußerte gegenüber jedem freien Mikrophon, wie gern er doch international spielen würde. Nichts von den Versprechungen wurde gehalten.

Wie kam Hoffenheim in diese missliche Lage?

In einer Analyse über die Hoffenheimer kommt man nicht umher, sich mit ihrer Transferpolitik zu beschäftigen. Bis 2006 lautete in Hoffenheim das Motto: Wir setzen auf junge, deutsche Talente. Als Rangnick das Ruder übernahm, strich man das „deutsche“ und setzt fortan nur noch auf junge Talente. Mit Babbel beerdigte Hoffenheim das Motto gänzlich und kaufte einfach nur noch ein.

Das Problem: Die Transferpolitik ging nicht auf. Es ist ein Armutszeugnis für einen Verein, wenn am drittletzten Spieltag nur einer von achtzehn Neuzugängen in der Startaufstellung stellt. Der Kader ist gefüllt mit Spielern, die sich von ihrem Transfer viel versprochen haben und bitter enttäuscht wurden. Dementsprechend viele interne Querelen kommen ans Tageslicht. Vor allem Tim Wiese sorgte für Schlagzeilen.

Es folgt eine Albtraumsaison: Im Pokal schied Hoffenheim mit 0:4 gegen einen Viertligisten aus, in der Liga reihte sich Niederlage an Niederlage und ein Transfer nach dem nächsten entpuppte sich als Fehleinkauf. Drei Trainer, zig Wintertransfers und zahllose Ernüchterungen später gibt es noch einen Funken Resthoffnung auf den Klassenerhalt. Und dieser Funken heißt Markus Gisdol.

Gisdol versuchte dem Verein mit einer interessanten Strategie neues Leben einzuhauchen. Er verzichtet gänzlich auf die übliche Abstiegskampf-Rhetorik. Stattdessen betonte er immer wieder, er verschreibe sich voll und ganz dem mittelfristigem Umbau der Mannschaft. Das erlaubte ihm, auf junge Spieler zu setzen und fehlgeschlagene Einkäufe außen vor zu lassen.

Was bei Gisdol positiv stimmt: Er hat Mut und Ideen. Nicht immer sind diese Ideen gut. Der Ausgleich gegen Bremen war beispielsweise sehr glücklich und hatte wenig mit Gisdols Wechseln zu tun. Jedoch wagt er etwas und scheut nicht vor Experimenten zurück. Ein Spiel ohne klassischen Stürmer? Erfolgreich ausprobiert! Fluide Mittelfeldreihen ohne feste Positionen? Ehrensache! Einsetzen junger Spieler mitten im Abstiegskampf? Immer doch!

Hoffenheims Raute im Spiel gegen Düsseldorf: Polanski kippte ab, das Mittelfeld bot zugleich viel Kreativität. Insgesamt waren die Mannschaftsteile wesentlich besser verbunden als in den Spielen vor Gisdol.

Hoffenheims Raute im Spiel gegen Düsseldorf: Polanski kippte ab, das Mittelfeld bot zugleich viel Kreativität. Insgesamt waren die Mannschaftsteile wesentlich besser verbunden als in den Spielen vor Gisdol.

Spielaufbau mit Problemen

So stellte Gisdol vor allem die Viererkette um. Hier schlummerte das wohl größte Problem des Teams: Die mangelhafte Kreativität und Sicherheit im Spielaufbau. Hoffenheim verfügt an und für sich über kreative Spieler: Salihovic, Firmino und mit Abstrichen Rudy und Joselu fallen in diese Kategorie. Allerdings fehlten ihnen Verteidiger, welche die Bälle zu den Spielmachern bringen konnten. Ähnlich wie bei Werder Bremen sieht die Bilanz gegen die fünf Teams mit dem stärksten Angriffspressing (Bayern, Dortmund, Augsburg, Freiburg und Frankfurt) mit vier Punkten und 9:19 Toren miserabel aus. So mangelte es ständig an Verbindungen zwischen der passsicheren und fluid agierenden Offensive und der eher konservativen Verteidigung.

Babbel und Kurz versuchten, dies mit schnellen Kontern und langen Bällen zu kompensieren. In manchen Spielen unter Kurz wurde jeder fünfte oder gar vierte Pass hoch und weit gespielt. Das mag zu Sturmtank Derdiyok gepasst haben, zu allen anderen Spielern jedoch nicht. Babbel und Kurz konnten nie das kreative Potenzial erwecken, das bei Hoffenheim schlummert.

4-4-2 mit abkippenden Stürmern gegen Werder Bremen

4-4-2 mit abkippenden Stürmern gegen Werder Bremen

Unter Gisdol haben die Hoffenheimer einen kleinen, aber merkbaren Fortschritt in diesem Punkt gemacht. Zunächst ließ er Polanski als abkippenden Spielmacher in einer Raute agieren. Dies gab Beck und dem als Außenverteidiger eingesetzten Johnson mehr Freiheiten. Beide konnten ihre Dynamik im Spiel nach vorne besser einsetzen. In den letzten beiden Spielen vertraute Gisdol im Spielaufbau auf junge, spielstarke Talente. Thesker und Vestergaard haben unter ihm einen Stammplatz.

Die Folge: Die Zahl der langen Bälle hat sich klar verringert und die offensiven Akteure werden in ihren freien Bewegungen besser eingesetzt. Natürlich gibt es in diesem Bereich immer noch Schwierigkeiten, wie das Spiel gegen Bremen am Wochenende zeigte. Einen komplett reaktiv spielenden Gegner können sie nur schwer knacken und auch ihrem Pressing fehlt es an Wucht und Konstanz, um einen Gegner in dessen Hälfte einzuschnüren. Doch sie lassen den Ball wesentlich sicherer laufen und können ihr Mittelfeld besser zur Geltung lassen als über weite Strecken der Saison.

Chancen in den verbleibenden Spielen

Auch defensiv stehen die Hoffenheimer mittlerweile sicherer als in der Hinrunde. Damals funktionierte ihr wenig aggressives Mittelfeldpressing nur selten, weil sie schnell zurückwichen und dem Gegner dadurch zu viele Räume im Mittelfeld gaben. Marco Kurz hat sich vor allem der Verteidigung angenommen und ein besser funktionierendes Mittelfeldpressing etabliert. Unter Kurz halbierte sich daher die Anzahl der Gegentore (dafür zeigte sich die Mannschaft offensiv bieder).

Die Statistik zeigt die Unterschiede der drei Trainer. Unter Babbel litt vor allem die Defensive. Kurz stabilisierte die Verteidigung, das Offensivspiel unter ihm war jedoch ungenau und geprägt von langen Bällen. Gisdol hat die Mannschaft zu mehr Kreativität und Passgenauigkeit geführt - und damit doppelt so viele Punkte pro Spiel wie seine Vorgänger eingeheimst. Alle Statistiken wurden aus Daten von whoscored.com berechnet.

Die Statistik zeigt die Unterschiede der drei Trainer. Unter Babbel litt vor allem die Defensive. Kurz stabilisierte die Verteidigung, das Offensivspiel unter ihm war jedoch ungenau und geprägt von langen Bällen. Gisdol hat die Mannschaft zu mehr Kreativität und Passgenauigkeit geführt – und damit doppelt so viele Punkte pro Spiel wie seine Vorgänger eingeheimst. Alle Statistiken wurden aus Daten von Whoscored.com berechnet.

Die Verbesserungen in der Defensive könnten Hoffenheim jedoch in den verbleibenden Saisonspielen helfen. Gegen den BVB wird eine stabile Verteidigung gefragt sein. Hier wird sich zeigen, wie sehr sich die Kompaktheit unter Kurz mit der fluiden und offensiveren Spielweise unter Gisdol verträgt.

Gegen Hamburg dürfte Gisdol auf eine Raute oder zumindest auf ein enges Mittelfeld setzen. Hierbei sollten sie möglichst viel Druck auf Hamburgs zentrale Spieler, van der Vaart und vor allem Badelj, ausüben – etwas, das ihnen bereits bei der 0:2-Niederlage im Hinspiel gelang. Der HSV sah in dieser Saison selten gut aus gegen enge und kompakte Mittelfeldreihen. Sie beginnen, das Spiel komplett in die Breite zu ziehen, strahlen aber von dort nur wenig Gefahr aus, wenn der Gegner Flanken gut verteidigt. Gleichzeitig bieten sich Konterräume auf den Flügeln, die Hoffenheim mit dem schnellen Johnson nutzen kann.

Ebenso bietet sich Hoffenheim die Chance, ihre kreativen Spieler einzusetzen. Der HSV zeigte diese Saison nur selten ein konstantes Pressing. Sollte Hoffenheim erneut mit Salihovic und Firmino im offensiven Zentrum agieren, könnten diese beiden abkippen und das Gleichgewicht in Hamburgs Zentrale durcheinanderbringen. Vestergaard und Rudy könnten genügend Platz erhalten, um ihre Vorderleute einzusetzen. Volland dürfte versuchen, mit inversen Läufen in die Schnittstelen neben die eher langsamen Hamburger Innenverteidiger zu gelangen.

Solch eine gegnerorientierte Strategie pass zu Gisdol. Er ist ein Trainer, der sich für jedes Spiel eine individuelle Strategie einfallen lässt und auch gerne während Spielen seine Formation ändert. Ob dies reicht, um die nötigen Punkte aus den kommenden Spielen zu holen? Fakt ist auch, dass Hoffenheim im Spielaufbau noch weit weg von der gehobenen Bundesligaklasse ist. Es dürfte ihnen schwerfallen, im Zweifel ein Tor zu erzwingen.

Prognose

Hoffenheim hat die schwierigste Ausgangsposition im Abstiegskampf – und das nicht nur wegen ihrer zwei Punkte Rückstand auf Augsburg und Düsseldorf. Sie brauchen mindestens vier, bestenfalls gar sechs Punkte aus zwei Spielen. Gegen den HSV mag ein Sieg möglich sein, gegen den BVB haben sie im letzten Spiel jedoch nur eine Chance auf einen Punktgewinn, wenn sie nicht das Spiel machen müssen. Selbst wenn der BVB mit der zweiten Garde antritt, ist die Spielanlage der Hoffenheimer nicht reif genug, eine kompakte Mannschaft vom Schlage der Borussia auseinanderzuspielen.

Demnach brauchen die Hoffenheimer eine Ausgangslage, bei der sie im letzten Spiel keinen Sieg erzwingen müssen. Solch eine Konstellation gäbe es jedoch nur, wenn sie am Wochenende gegen den HSV gewinnen und Augsburg und Düsseldorf zur selben Zeit verlieren würden. Ein wenig viel hätte, würde und könnte im Abstiegskampf. Langfristig könnte Markus Gisdol jedoch ein Glücksgriff für die TSG sein.

nowa3000 11. Mai 2013 um 17:30

Um meinem eigenem Versäumnis nach zu kommen habe ich dann heute das Spiel TSG gegen HSV geschaut.
Letztlich geht der Sieg von Hamburg in Ordnung, da einfach konsequenter vor dem Tod und in der Defensive doch sicherer als die Hoffenheimer. Zwar war 1899 in der 2ten Halbzeit deutlich verbessert und hat einiger sehr schöne Spielzüge gezeigt, agierte aber meiner Meinung nach zu Unsicher.
Ob da der psychologische Aspekt, dass man „mit dem Rücken zur Wand steht“, zum tragen kommt? Insbesondere in Hälfte ein gab es viele Fehlpässe etc. die wohl darauf beruhten. Zusätzlich noch etwas Pech, beispielsweise als Casteels bei Sons Kopfball wegrutscht. Trotzdem Respekt vor der Leistung in Hälfte zwei, denn da wurde der HSV doch in Bedrängnis gebracht und stark in die eigenen Hälfte gedrängt.
Summasummarum: Rein technisch gesehen ist alles drin, nur Bremen ist raus aus dem Abstiegskampf. Aber gegen den BVB wird das mit einer vergleichbaren Leistung aus meiner Sicht nichts.

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MR 11. Mai 2013 um 18:40

„konsequenter vor dem Tod“

-> Erfolgsrezept!

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Nowa3000 11. Mai 2013 um 20:25

Oha! Da ist mir aber ein gewaltiger Fauxpas passiert. Soll natürlich vor dem Tor heißen. Wobei das auch so was hat….aber eher im allgemein gültigen Sinne.

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Wolfsmond 11. Mai 2013 um 10:52

Echt tolle Serie! Vielen Dank für die Mühe. Die Prognose wer nu absteigen wird und wer die Klasse hält ist zwar nicht wirklich überraschend, das hätte man auch per Bauchgefühl getippt aber es ist immer schöner mit mehr Background zu argumentieren 🙂
Schaun mer mal, heute abend wissen wir alle mehr

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nowa3000 11. Mai 2013 um 10:36

Schöne Analyse, habe mich auch darauf sehr gefreut! (Neben Bremen)
Leider konnte ich nur wenige Spiele der TSG verfolgen, dennoch entspricht der Text in etwa meinem Gesehenen. Im Gegensatz zu vielen anderen wünsche ich Hoffenheim den Klassenerhalt, auch wenn das erst seit Gisdol für mich von Interesse ist, denn die Variante auf junge (deutsche) Talente zu setzen und insbesondere zahlreiche taktische Varianten machen den Verein doch wieder sympathischer und attraktiver.
Und falls es nicht reicht, dann wünsche ich mir das die TSG weiter mit Gisdol an diesem Image weiter arbeitet! Von daher gebe ich datschge recht: Vielleicht bietet der Abstieg eher die Möglichkeit, den Umbruch weiter zu gehen.

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datschge 10. Mai 2013 um 22:18

Ich wünsche Hoffenheim nicht gerade den Klassenerhalt, aber mit Gisdols Fokus auf junge Talente kehren sie endlich wieder zur einem ihrer sympathischeren Aspekten von früher zurück. Und ein Abstieg ist vermutlich gar nicht mal so verkehrt, um diesen neuerlichen Umbau noch konsequenter durchziehen zu können. Bleibt nur zu hoffen, dass dahingehend wieder Kontinuität einkehrt.

(Das rote Korrekturunterstrichele unter Gisdol in der Statistiktabelle sollte mal raustuschiert werden. 😉 )

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