Nationale Identitäten im Fußball

Als am 4.7.2006 das deutsche Sommermärchen jäh beendet wurde, stöhnte die ganze Nation, dass ausgerechnet das für seine Defensive berüchtigte Italien Endstation gewesen war. Als einige Wochen später DFB-Kapitän Ballack sein Engagement in England begann, forderte Neu-Bundestrainer Löw, die Bundesliga müsse gegenüber dem Tempo der Premier League aufholen. Doch gibt es solche nationalen Identitäten wirklich?

Seit jeher steht die brasilianische Nationalmannschaft für Zauber, Tricks und Samba-Fußball, doch in Europa gibt es nicht nur bezüglich der Nationalmannschaften, sondern auch bezüglich der Ligen vorurteilähnliche Meinungen: So gilt die italienische Landesauswahl ebenso wie die Serie A als defensiv-geprägt und Catenaccio-spielend, wird die spanische Liga als die des gepflegten Kurzpass- und geduldigen Aufbauspiels gesehen, während die Premier League eben für ihr Tempo bekannt ist.

Nun mag man einwenden, dass derartige nationale Tugenden in der heutigen Zeit längst verwischt seien durch die vielen ausländischen Spieler, die in allen Ländern des Globus in den jeweiligen Ligen spielen. Häufig wird dabei allerdings vergessen, dass nicht nur die Spieler eine Liga prägen können, sondern der Charakter einer Liga auch die Typen von Spieler, die dorthin wechseln, beeinflussen kann.

So ist nun also die Frage, ob und inwieweit die einzelnen Ligen bestimmte nationale Identitäten vorweisen können und ob diese mit den gängigen Meinungen zur jeweiligen Nation in Einklang oder in Kontrast stehen. Dabei gibt es nur einen objektiven Weg – Zahlen und Statistiken (die sich alle auf die vergangene Saison 2010/11 beziehen).

Die erste Statistik, an die man spontan sofort denkt, sind Tore. Durch die Anzahl der Tore pro Spiel kann man einen ersten Eindruck gewinnen. Während die deutsche (2,92), englische (2,8) und spanische (2,74) Liga mit ihren Tor-Raten pro Spiel im Bereich des durchschnittlichen Wertes von knapp unter 3 liegen, fallen die italienische (2,51) und die französische (2,34) Liga doch deutlich ab.

Daraus kann man aber nicht sofort ableiten, dass diese Ligen defensiver sind. Stattdessen sollte man die Zahlen zu den erzielten Toren in einem weiteren Kontext sehen und mit anderen Statistiken verknüpfen. Hier bieten sich die Anzahl der Schüsse, der Torschüsse sowie das Verhältnis von Schüssen zu Torschüssen an:

Während in England sehr häufig und vor allem in Frankreich sehr wenig der Abschluss gesucht wird, scheint die Chancenqualität vor allem in Spanien sehr hoch zu sein, da hier überdurchschnittliche viele Abschlüsse auch auf das Ziel kommen. Das Bild des englischen Tempofußballs unterstützen die Zahlen ganz besonders: In der Premier League kommt es schneller zu Abschlüssen (Quantität), die Chancenqualität ist aber geringer.

Auch weitere Statistiken untermauern dies: Schaut man sich die durchschnittliche Anzahl an Fouls an, so erkennt man, dass diese in England sehr niedrig liegt. Die Ursachenforschung (die britische Zweikampfauslegung liegt hier nahe) ist allerdings hier nicht so interessant.

Vielmehr ist zu erkennen, dass man anhand dieser Statistiken die Ursachen für die Klischees zu den jeweiligen Ligen finden kann. Je weniger Fouls und damit auch Spielunterbrechungen es gibt, umso schneller sieht das Spiel für den Beobachter aus.

Die Premier League ist also in der Tat schneller – aber ist sie auch die Liga der langen Bälle und des Kick´n´Rush? Mit 67,15 langen Pässen, die ein Premier-League-Team durchschnittlich pro Partie spielt, liegt man damit nur knapp über den Werten von Spanien und Italien und sogar unterhalb der Bundesliga.

Doch auch hier muss man sich die Statistiken wieder in einem weiteren Zusammenhang mit anderen ansehen. Vergleicht man die Anzahl der Kurzpässe pro Spiel mit der Anzahl der langen Zuspiele, fällt auf, dass die englische Liga schon mehr lange Bälle produziert als die  anderen Ligen – Ausnahme ist die Bundesliga.

Auffällig ist die geringere absolute Anzahl an Pässen, die in der deutschen sowie in der französischen Eliteklasse gespielt werden. Dies kann zum einen damit begründet werden, dass es mehr Fouls und Unterbrechungen gibt als in den anderen drei Ligen, zum anderen könnte man vermuten, dass in Frankreich und Deutschland der Ball von den Spielern länger gehalten wird.

In Spanien und Italien findet sich die höchste absolute Anzahl an Kurzpässen, die geringste an langen Bällen – eine eindeutige Faktenlage. Dort liegt der Fokus besonders auf dem Kurzpassspiel, was die Klischeemeinung zur spanischen La Liga auch wiederspiegelt.

Dass jene zum englischen Fußball nicht ganz falsch ist, bestätigen weitere Statistiken. Ergänzend zu den Passstatistiken ist interessant, in welchen Zonen Teams ihren Ballbesitz verbuchen. In England befindet sich der Ball nur zu etwa 40 % der Zeit im 2. Spielfelddrittel, was den mit Abstand niedrigsten Wert der Top-Ligen darstellt. Im 1. Drittel sowie im 3. Drittel hat die Premier League dagegen die höchsten Werte.

Die Schlussfolgerung liegt nahe: Das Mittelfeld wird überspielt. Wieder einmal bestätigen die Statistiken den Ruf der Premier League. Denn ein schnelles Überbrücken des Mittelfeldes lässt das Spiel ebenso schneller erscheinen. Unterstützt werden die Werte dadurch, dass in der Premier League pro Spiel deutlich mehr Luftzweikämpfe stattfinden als in den anderen Ligen.

Interessant ist, dass die Bundesliga die wenigsten Luftzweikämpfe produziert, obwohl dort verhältnismäßig mehr das hohe Anspiel gewählt wird als anderswo. Ein wenig wird dies wieder durch die niedrige absolute Passanzahl in der Bundesliga ausgeglichen, aber eben nur ein wenig. Mögliche Schlussfolgerungen: In Deutschland verteidigen die Abwehrreihen höher, es werden viele lange Pässe auf dem Boden gespielt oder es landen überdurchschnittliche viele dieser Bälle im Aus.

Auch bei diesen Statistiken sind sich La Liga und die Serie A ziemlich ähnlich: Beide weisen geringe Ballpositionswerte im 1. Drittel auf, hohe im 2. und im 3. Drittel. Man spielt ein ruhiges und flaches Kurzpasspiel, dabei agiert man selbst sehr hoch ohne aber mehr Tore zu erzielen, weil die gegnerischen Defensiven tiefer verteidigen.

Weil die angreifende Mannschaft sehr hoch steht, wird man theoretisch anfällig für Konter. Dies wird durch die Statistiken bestätigt: Italien und vor allem Spanien führen bei der prozentualen Anzahl an Kontertoren.

Besonders aussagekräftig in Bezug auf die Kontertore ist auch die Anzahl der abgefangenen Bälle, die direkt für den Gegenangriff verwendet werden können. Hier liegt die Anzahl der sogenannten Interceptions in Spanien deutlich oberhalb der anderen Ligen – so erklärt sich die hohe Zahl an Toren nach schnellen Gegenstößen. In England dagegen sind Kontertore äußerst selten zu sehen – die Premier League ist eine Tempoliga, aber keine Konterliga.

Fazit

Man kann festhalten, dass Statistiken, Beobachtungen und Klischees zum Stil der europäischen Top-Ligen sich doch erstaunlich ähnlich sind.

In der englischen Premier League werden recht viele lange Bälle gespielt, es gibt viele Luftzweikämpfe, die Teams verbuchen vergleichsweise wenig Ballbesitz im Mittelfeld, kommen dafür häufiger zu einem allerdings qualitativ eher schlechterem Abschluss. Das oftmals gepriesene hohe Tempo in Englands Top-Liga ist auch dadurch bedingt, dass es dort weniger Unterbrechungen gibt als in den anderen Ligen.

Doch der Trend zeigt immer weiter weg vom „typisch englischen“ Spiel. Allein in einem Jahr stieg die Anzahl der Kurzpässe pro Langpass von 4,73 auf 5,16. Doch auch wenn die Premier League mittlerweile vermehrt durch Techniker wie Nasri und Modric und nicht mehr nur durch physisch starke Akteure wie Drogba oder Essien geprägt wird, so sind es doch mehr die Trainer, die diesen Trend einleiten: Die Methodik in der Jugendausbildung wurde überdacht und überarbeitet, alte festgeschriebene Tugenden wie das 4-4-2 hinterfragbar gemacht und immer mehr junge, ausländische oder umgeschwenkte Trainer bevölkern die Premier League und verbreiten ihre Ideen.

Die Ligue 1 ist eine eher vorsichtige und abwartend geprägte Spielklasse. Es fallen extrem wenige Tore, dazu kommen qualitativ wie quantitativ wenige Abschlüsse. Der Fokus liegt hier eindeutig auf Kurzpässen, wobei diese allerdings vor allem im 1. und 2. Spielfelddrittel ausgeführt werden.

In der Bundesliga fallen vor allem die hohe Zahl an Treffern sowie die gute Qualität der Torchancen und Zielsicherheit der Spieler auf. Ähnlich wie in Frankreich spielt sich das Spiele eher weniger im 3. Drittel ab, dafür wird deutlich stärker mit längeren Bällen gearbeitet.

In Spanien liegt der Fokus auf dem Kurzpasspiel und der Ballzirkulation. Man spielt wenig im 1. Spielfelddrittel, weil der Gegner recht tief steht. So spielt man vor ihm und wartet geduldig bis sich eine Lücke auftut. Daher ist die Chancenqualität in Spanien sehr hoch, die Anzahl der Fouls sehr niedrig, die Zahl der „Interceptions“  sehr hoch ebenso wie jene der Kontertore.

Ähnlichkeiten zu diesem Spiel weist die Serie A auf. Hier fallen aber besonders die Chancenqualität und damit auch die Anzahl der erzielten Treffer gegenüber Spanien ab. Dies mag zwar die überdurchschnittlich gute defensive Grundausbildung der Italiener bestätigen, doch ansonsten bleibt festzuhalten, dass grundsätzlich die technische Qualität der Serie A gestiegen ist.

Neben den großen Teams wie Milan und Inter haben sich in den letzten beiden Jahren Teams wie Napoli, Palermo, Lazio und Udinese hervorgetan, die einen sehr ansprechenden, hochwertigen und konkurrenzfähigen Fußball spielen. Der italienische Fußball mag in einer Krise stecken, aber auf Vereinsebene sind die Italiener rein sportlich gesehen deutlich stärker, als hierzulande viele glauben.

Auch wenn es aufgrund der vielen Diagramme nicht unbedingt so aussieht, ist es doch erst einmal eine recht oberflächliche Betrachtung der Thematik, aber dennoch ein hoffentlich interessanter kleiner Einblick, wie man solche Statistiken interpretieren und was man mit ihnen anstellen kann.

Käsekuchen 23. August 2011 um 01:31

sehr interessant fände ich auch zu sehen, wie sich die effektive Spielzeit in den Ligen unterscheidet. Gibts dazu irgendwelche Statistiken? Unterschiede in der effektiven Spielzeit hätten ja durchaus auch einflüsse auf die anderen Aspekte. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es dort nennenswerte Differenzen gibt; die unterschiedliche Regelauslegung (England) hast du ja bereits erwähnt.

Großes Lob für die gesamte Seite!

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zechbauer 3. August 2011 um 07:02

Dass die italienischen Klubs hohe Qualität haben, sieht man immer mal wieder wenn deutsche Vereine auf „Italiener“ treffen. Davon abgesehen ist der Klub, der direkt hinter Barca und Real die Champions League-Siegerliste der letzten 12 Jahre anführt, ein italienischer (AC Milan mit 2 CL-Titeln). Inter steht mit einem CL-Titelgewinn zwischen Bayern, Manchester und anderen. Ich finde, das sagt schon etwas über deren Qualität aus.

Sehr interessante Aufdröselung der Statistik. Danke.

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lefthog 3. August 2011 um 04:41

Der Ligavergleich ist sicher ganz nett. Viel interessanter finde ich aber zu beobachten, wie Länder bzw. Regionen mittlerweile auf die Entwicklung von bestimmten Spielertypen „spezialisiert“ sind.

So kommen aus Argentinien fast nur noch Spieler von internationalem Format, die in der Mitte spielen (Innenverteidider, Sechser, nächste Maradonnas und Mittelstürmer). Außenverteidiger hat Argentinien schon seit Zanetti und Sorin keine gescheiten mehr hervorgebracht.
Bei den Italienern ist es ähnlich.

Portugal hat gefühlt seit 50 Jahren keinen Weltklasse Stürmer entwickelt obwohl man sonst tolle Spieler auf allen anderen Positionen hatte.

In Deutschland gibt es mittlerweile auch ganz tolle offensive Mittelfeldspieler, die am liebsten alle auf der „10“ spielen wollen aber seit Mario Gomez keinen Mittelstürmer.

Ich fände es interesant mal die Hintergründe dieser (natürlich auch zufällig auftretenden) Phänomene zu untersuchen. Auch die Auswirkungen auf die Ligen und die Nationalannschaften sind sicher bemerkenswert.

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HW 23. Januar 2012 um 11:55

Eine etwas späte und kurze Antwort, aber vielleicht eine Anregung für Leute die hier stöbern.

Formationen sind oft noch von einer nationalen Tradition beeinflusst. Das findet sich besonders im Jugendbereich wieder.
Italien hat gute Außenverteidiger, aber keine guten Flügelstürmer, weil kaum ein Team damit spielt. In Frankreich wurde lange auf den Typ Viera gesetzt. Argentiener spielen öfter die Raute als europäische Teams. usw. usw.
Hält man sich die zahllosen Traditionen der Länder vor Augen verwundern die ausgebildeten Spielertypen weniger. Nur selten ändert sich da tatsächlich etwas grundlegend. Deutschland profitiert z.B. von seiner großen Offensive in der Neustrukturierreung der Jugendausbildung. Ähnliches haben anderer Länder davor oder danach auch umgesetzt (und der Prozess muss ständig wiederholt werden).
Aber bei den ganzen Traditionen bestätigen Ausnahmen auch immer die Regel.

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44² 3. August 2011 um 00:06

Seh deine Ausführungen gespalten. Du versäumst es an einigen Stellen, die Ausprägung der Differenzen einzuordnen. Zum Beispiel dürften 2% Unterschied in der Torschuss pro Schuss Statistik dem Betrachter kaum auffallen. Jeder fünfzigste Schuss ist das. Auch die Entwicklung der ganzen Werte über die letzten Jahre wäre sehr interessant gewesen um das alles besser einordnen zu können.

Die Foul- und Passstatistiken find ich interessant. Sehr beeindruckend sind die Kontertore, gerade in Spanien und England. Im Grunde besagt das ja, dass die Art der Tore weniger vom eigentlichen Offensivspiel abhängt, sondern stärker von der Defensive der Angreifer. Womit man wieder beim Thema Gegenpressing landet.

In einigen Fällen müsste man aber sicher noch die Verteilungen innerhalb der Liga betrachten. Zum Beispiel dürften die La Liga-Kurzpasswerte arg von Barcelona verzerrt werden.

Aber alles in allem lesenswerter Post. Woher sind die Statistiken denn?

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TR 3. August 2011 um 00:20

Erst einmal danke für das Lob!

Das mit den Differenzen ist dann an manchen Stellen etwas verzwickt und sehr kleinlich (wobei bei der von dir gewählten Stelle es ja quasi um eine „Erfolgsrate“ geht).

Statistiken sind von whoscored.com – leider erst seit 2009/10 verfügbar und deshalb nicht über die Jahre vergleichbar, sonst hätte ich es gemacht (so nur der Hinweis auf die Premier League und ihre Steigerung innerhalb eines Jahres).

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Ben 14. Oktober 2011 um 16:03

Hallo!
Ich schreibe momentan meine Diplomarbeit an der Sporthochschule Köln. Grob gesagt, untersuche ich, ob es einen Zusammenhang zwischen Bildschnitt (Regie) und Spielunterbrechungen gibt und ob sich dies in ENG, ESP und D unterscheidet.
Meine Frage: Ich finde auf der Seite whoscored.com so einige Statistiken, aber die, die du hier verwendest, nicht. Kannst du die Quellen etwas präzisieren? Das würde mir sehr helfen!

Als Gegenleistung gibt es demnächst für euch Daten zur Nettospielzeit in England und Spanien von mir 😉

Beste Grüße, Benjamin

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TR 14. Oktober 2011 um 18:36

Oh, das hört sich interessant an.

http://www.whoscored.com/Statistics
Grob gesagt, findet man die Statistiken hier. Dann oben bei „Popular Leagues“ die Liga auswählen und dann „Team Statistics“ anklicken. Anschließend kommen die Daten, zur Bundesliga sieht das dann meistens so aus: http://www.whoscored.com/Regions/81/Tournaments/3/Seasons/2949/Stages/5492/TeamStatistics/Germany-Bundesliga-2011-2012
(und hier kann man auch direkt die Liga sowie die Saison verändern)

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Ben 18. Oktober 2011 um 17:27

Danke für deine Antwort. Sehe ich das aber richtig, dass du dir sehr sehr viel Mühe gemacht hast, die Daten so zu addieren, das man die Ligen vergleichen kann? Also du errechnest ja zum Beispiel, wieviele Fouls es im Ligaschnitt gibt, aber auf whoscored.com gibt es die Angabe nur für den jeweiligen Verein – oder bin ich blind? Dass das jetzt nicht furchtbar schwierig ist, daraus den Schnitt zu errechnen ist klar, ich muss nur vorsichtig sein, was den Quellennachweis angeht.

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