Türchen 1: Marseille – Milan 1993
Im ersten Finale mit dem Namen Champions League spielten Olympique Marseille und der AC Milan exemplarisch die beiden Schulen, die die Defensivarbeit im Weltfußball noch über (teilweise mehr als) ein Jahrzehnt prägen sollten – das Libero-Manndeckungs-System und das 4-4-2.
Beide Teams brachten eine gute Ausführung des eigenen Ansatzes auf den Rasen und taten sich umgekehrt schwer, durchschlagende Mittel gegen die Ausrichtung des jeweiligen Gegenüber zu entwickeln. So sollte sich eine sehr chancenarme Partie ergeben, die letztlich durch einen Standard entschieden wurde.

Offensivformation Marseille, Defensivformation Milan
Zwei gegensätzliche Defensivsysteme mit zeitgenössisch guten Abständen
Bei Milan stand nicht mehr der legendäre Arrigo Sacchi selbst an der Seitenlinie, sondern Fabio Capello, aber dieser verfolgte das Grundsystem weiter. Milans 4-4-2 hatte mit größerer Kompaktheit als die meisten anderen Teilnehmer des Wettbewerbs und mit stabiler Umsetzung der standardmäßigen Kettenmechanismen auf dem Weg ins Finale nur einen Gegentreffer kassiert. Nach Klärungen oder nach gegnerischen Rückpässen gewannen die italienischen Verteidiger sehr schnell wieder an Höhe und hielten die Abstände nach vorne klein. Dank konzentrierter Umsetzung kamen sie selbst mit der kurz zuvor – als Reaktion vor allem auf die torarme WM 1990 – liberalisierten Abseitsregel zurecht.
Dieses schnelle Hochrücken und Vorschieben der letzten Linie, selbst mit kleineren Versuchen einer Abseitsfalle, spielte auch Marseille überraschend aktiv- und das, obwohl der Defensivansatz auf einer gänzlich anderen und „älteren“ Logik basierte, die damit beinahe unvereinbar schien: dem Libero-System samt Manndeckung. Mit hoher Aktivität interpretierten Libero Boli und seine beiden Manndecker die Struktur aber schon stärker zu einer Dreierabwehr hin.
Dieses „Zusatzfeature“ genügte Marseille für eine stabile Vorstellung, da ansonsten die grundsätzliche Libero-Logik gut zu einem 4-4-2 passte: Die zwei Manndecker nahmen die zwei Stürmer auf, die zwei Flügelverteidiger die Flügelstürmer und die zwei Sechser die Sechser. Für Milans Viererkette blieben damit die drei Offensivspieler verantwortlich. Abedi Pelé agierte ohnehin leicht rechtsseitig und konnte so einfach Linksverteidiger Maldini übernehmen. Auch auf der anderen Seite schien Trainer Raymond Goethals ein klares 1gg1 gegen den Rechtsverteidiger haben zu wollen und dafür eine 1gg2-Unterzahl gegen die Innenverteidiger einzugehen.
Letztlich war es aus dem Sturmduo der Franzosen Weltmeister Rudi Völler, der gegen den Ball die linke Seite besetzen und den Rechtsverteidiger verfolgen musste. Das Gute für Marseille war, dass dort Tassotti sehr vorsichtig agierte und kaum nach vorne aufrückte. Bei den einzelnen Ausnahmen ging Völler nicht immer den ganzen Weg mit, sondern wollte nahe der letzten Linie an den linken Flügelverteidiger Di Meco übergeben. Für Boksic galt dies schon viel früher, falls dieser einmal mit Völler getauscht hatte. Daraufhin gab Di Meco seine Zuordnung auf, die restlichen Verteidiger mussten durchschieben und der Libero den freien Gegenspieler aufnehmen. Mit einem offensiveren Rechtsverteidiger hätte Milan gegen die notgedrungene Völler-Rolle deutlich mehr Unruhe stiften können.

Offensivformation Milan, Defensivformation Marseille
Vorstöße aus der Tiefe gingen am ehesten von Maldini auf der anderen Seite aus, der einige Male sogar ohne Ball diagonal in den linken Zehnerraum zog. Dieser Bereich blieb ansonsten in dem weitgehend klassischen 4-4-2 von Milan verwaist, das hauptsächlich lineare Passlinien bot und so kaum Kreativität entwickeln konnte. Die meiste Variation entstand noch daraus, dass Rijkaard situativ für mehr Offensivdrang in die letzte Linie aufrückte und fast wie ein dritter Stürmer agierte. Auch die Flügel zog es nur selten ins offensive Zentrum – selbst dann nicht, wenn ein Außenverteidiger mal mit aufrückte und vorne die Breite übernahm. Beide Außen neigten in einer solchen Situation dazu, passiv zu werden und hinter ihrem Außenverteidiger abzusichern.
Aktivität in Duellen um zweite Bälle
Obwohl die Defensivreihen beider Teams also sehr stabil standen und kaum Torchancen vorkamen, war die Partie doch unterhaltsamer, als zu befürchten. Das lag vor allem an den aufgepeitschten Duellen im zweiten Drittel, die in der ausgeglichenen Gesamtlage um Abpraller entstanden. Die Mannschaften gingen mit hoher Aktivität in diese Szenen und ließen ihren Gegenspielern wenig Zeit. Auffällig war vor allem, wie rabiat die Duelle geführt wurden und wie ausgeprägt die Spieler Fouls in Kauf nahmen – in dieser Form ein seltenes, fast kurioses Bild. Mehrmals gingen Aktionen mit Verletzungsgefahr nur durch glückliche Umstände glimpflich aus.
Übergänge aus einem Duell direkt in den nächsten Anschlussmoment schaffte gerade Marseille immer wieder mit eindrucksvoller Dynamik und konnte dadurch nach verloren scheinenden Bällen doch nochmals überraschend nachhakeln. Unter dem Eindruck der enormen Aktivität in diesen Abpraller-Duellen lesen sich die zahlreichen und auch von einigen Spielern selbst thematisierten Doping-Gerüchte nachdenklich.
Marseilles attackierende Unterzahlangriffe
Allerdings war diese ausgeprägte Aktivität nun auch nicht der allein bestimmende Vorteil des späteren Siegers. Marseille gelang es sehr gut, die eigene Aktivität strategisch wirksam zu kanalisieren. Das betraf nicht nur in einer defensiven Perspektive die Entscheidungsfindung und Kommunikation der Verteidiger zur Kettenhöhe, sondern zudem im Angriffsspiel die offensive Entscheidungsfindung. Auch wenn Marseille das Mailänder 4-4-2 – allein schon wegen ihres geringen Aufrückens – genauso selten ausspielen konnte wie die meisten anderen Mannschaften aus den vorigen Runde, schafften sie es besser, Milan zumindest häufig zum Verteidigen zu zwingen.
Entscheidend dafür waren viele ambitionierte Dribblings, kleine Abstände der wenigen Beteiligten und vor allem schnelle Vorwärtspässe an die letzte Linie statt dahinter. Häufig fuhren allein die drei Offensivspieler die Angriffe. Am ehesten gab es über links Unterstützung, in Person von Di Meco. Dies war auch die Seite, auf die sich Völler und Boksic häufig absetzten. Das nominelle Sturmduo bewegte sich oft kompakt im Duett und versuchte eine Seite stark zu machen, bevorzugt eben die linke.
Ihre breiteren Ausgangspositionen boten sich in der offensiven Unterzahl an, weil der Flügel der Bereich war, den Milans Kompaktheitsfokus am ehesten offen ließ. Wenn die Angreifer dort Bälle in den Fuß – meistens im Anschluss an einen gewonnen Abpraller – erhielten, versuchten sie das Leder schnell nach vorne zu schleppen. Auch wenn sie keine großen Aussichten hatten, damit sauber durchzubrechen, provozierten sie Milans Defensive zum Zurückfallen und suchten Standardsituationen als wertvolles Etappenziel.
Aus einem dieser zahlreichen ambitionierten Dribblings resultierte schließlich auch die Ecke zum goldenen 1:0, in diesem Fall über die rechte Seite. Abedi Pelé erhielt nach einer Umschaltsituation den Ball im rechten Halbraum, hatte Boksic als gegnerbindende Unterstützung in unmittelbarer Nähe und stürmte dann sofort nach vorne. Er machte Druck auf Maldini im 1gg1 und blieb unbeirrt weiter im Dribbling, selbst als nachschiebende Mailänder zusätzliche Unterstützung in die Szene brachten. Am Ende kam Abedi Pelé nicht vorbei an Maldini, aber dieser musste gegen das direkte Voranstürmen zur Ecke klären.
Offensive Steigerung in Halbzeit zwei bleibt aus
Nach dem Gegentor kurz vor dem Pausenpfiff blieb für Milan noch genügend Zeit, um in die Partie zurückzukommen. Aber bis zur Schlussphase der zweiten Halbzeit änderte sich wenig an der geringen Durchschlagskraft. Capello reagierte früh mit der Einwechslung des Ex-Marseille-Kapitäns Papin für den Sturm und beorderte Massaro anstelle von Donadoni auf die rechte Seite. Von dort zog der umtriebige Italiener mitunter als dritte (oder mit Rijkaard sogar vierte) Spitze nach vorne. Die Strategie der bloßen Offensivpräsenz kam aber gegen die Athletik der französischen Verteidiger kaum zur Geltung, selbst nach der verletzungsbedingten Auswechslung Anglomas.
Für die letzte halbe Stunde musste di Meco mit ins Abwehrzentrum rücken, lief aber erst recht zur Allroundform auf. Bereits zuvor hatte er seinen neuen Gegenspieler Massaro nicht durchweg verfolgt, sondern gegen dessen höhere Position darauf gesetzt, dass eine Gleichzahlverteidigung in letzter Linie ausreichen und er selbst durch verstärktes Herausrücken gezielte Bälle in diese Situationen hinein würde mit unterbinden können. Als Tassotti langsam etwas offensiver zu werden begann, schob Di Meco situativ heraus, um ihn rechtzeitig zum Zeitpunkt der Ballannahme stellen und zum Abdrehen zwingen zu können.
Zumal auch Deschamps weiterhin – wie schon in der ersten Halbzeit – punktuell mit Deckungsschatten vorrückte, um einen der Innenverteidiger zu bedrängen, entging Marseille der Gefahr, irgendwann zu passiv zu werden. Bei Milan entwickelte sich die offensivere Einbindung der Außenverteidiger, vor allem auf rechts, aus Ansätzen heraus letztlich nicht weit genug und auch die Unterbesetzung in den vorderen Mittelfeldbereichen blieb eine Baustelle. Folgerichtig brachte Marseille den knappen Sieg über die Zeit.
Fazit
Beide Mannschaften spielten den Fußball, der typischerweise auf höchstem europäischen Niveau in den frühen 90er-Jahren gespielt wurde – die einen eine ältere Libero-Logik und die anderen einen neueren Viererkettenblock, den langsam andere Teams zu übernehmen begannen. Die Vertikalabstände gegen den Ball und die Aktivität bei zweiten Bällen war etwas besser als die Konkurrenz und daher jeweils für den Finaleinzug entscheidend, auch wenn gelungene offensive Spielzüge rar blieben.

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