Aspektanalyse Teil 1: Defensive gewinnt Spiele, Offensive gewinnt Titel! – MH
PSG gewinnt das Champions League Finale mit 5:0 gegen Inter Mailand. Dabei dominiert Paris vor allem zu Beginn des Spiels aufgrund ihres flexiblen Ballbesitzes. In dieser Aspekt Analyse wird das Pariser Ballbesitzspiel analysiert.
Während in den meisten Analysen über das Pariser Offensivspiel deren Flexibilität oder Fluidität hervorgehoben wird, fehlt ebenso häufig eine Untersuchung, woher diese stammt und was konkret Paris anders macht, als andere Ballbesitzmannschaften. Woher stammt die Flexibilität? Dieser Frage möchte ich hier anhand des Champions League Finals auf den Grund gehen.
Inters Defensivansatz
Inter startete in das Spiel hauptsächlich aus einem hohen 5-3-2 Abwehrpressing wie bereits in den Champions League Spielen zuvor. Dabei schoben insbesondere die Außenverteidiger Dumfries und Di Marco situativ vor, um Druck ausüben zu können. Die Halbverteidiger der 5er Kette blieben hingegen sehr häufig in der letzten Kette, um die Tiefe abzusichern.
Lediglich wenn der äußere Mittelfeldspieler der 3er Mittelfeldreihe rausschob, um Druck auf den Ballführenden der ersten Aufbaulinie PSGs zu machen, rückte ein Halbverteidiger mit vor und formte somit ebenso situativ eine 4-4-2 Staffelung mithilfe des absichernden Außenverteidigers. Diesem Fokus auf die Tiefenverteidigung lag wahrscheinlich die Schnelligkeit des Pariser Angriffstrios zugrunde. Der Ansatz sorgte allerdings ebenso dafür, dass Inter nur selten Druck auf die Aufbaukette ausüben konnte und passiv verteidigen musste. Fraglich ist, warum Inter sich nicht schon nach den ersten Minuten ausschließlich auf das hohe mandeckende Angriffspressing in Kombination mit tiefem Verteidigen im Block beschränkte.
Pariser Grundstruktur und Philosophie
Paris wiederum zeigte sich bestens vorbereitet auf Inters hohes Abwehrpressing. Aus einem nominellen 4-3-3 System veränderte sich die Staffelung der Pariser in Ballbesitz sehr häufig. Dabei gibt es ein paar fixe Ankerpositionen, die immer besetzt wurden. Das Pariser Ballbesitzspiel lässt sich am ehesten als eine Mischung aus festen Ankerpunkten und freieren Raumbesetzungen beschreiben. So bleibt zwar eine grundlegende Struktur gewahrt, jedoch kann ebenso flexibel Überzahl geschafft oder Räume verwaisen gelassen werden. Zwar lässt sich das Pariser Ballbesitzspiel eindeutig dem Positionsspiel zuordnen, dennoch gibt es einige Besonderheiten, die Enriques Team zu anderen positionellen Teams abgrenzt.
Paris baute gegen Inters Abwehrpressing aus einem 3-1 auf. Gemeinsam mit den beiden Innenverteidigern bildeten entweder der nominelle Sechser Vitinha oder einer der Außenverteidiger asymmetrisch die erste Aufbaulinie. Zusätzlich gab es immer 2 Breitengeber auf den Flügeln. Häufig waren dort die Flügelspieler Kvaratskhelia und Doué aufzufinden, allerdings rotierten ebenso die Außenverteidiger Hakimi und Mendes sowie teilweise Stürmer Dembélé an Stelle der Flügelspieler in diese Position. Es lässt sich festhalten, dass PSG mit den Ankerpositionen aus einem 3-1-w2 (w=wide/ Breitengeber) in Ballbesitz agierte. Dabei wurden allerdings die Positionen nicht durch feste Spieler besetzt, sondern stattdessen rotierten immer wieder unterschiedliche Spieler in die Positionen. Insbesondere Dembélé und Vitinha besetzten unterschiedlichste Zonen und waren die Taktgeber, an denen sich die anderen Spieler in ihren Rotationen orientierten.
Gleichzeitig konnten die restlichen, sich situativ nicht in den festen Ankerpositionen befindenden Spieler, insbesondere die zentralen Ruiz, Neves, Vitinha und Dembélé für Überzahl sorgen oder bestimmte Räume verwaisen lassen. So ließen sich die in der Raumbesetzung freieren Spieler immer wieder in bestimmten Zonen des Spielfeldes auffinden, waren allerdings nicht an diese gebunden. Beispielsweise schob der ballferne Außenverteidiger Hakimi häufig invers ins Zentrum auf Höhe des Sechsers, ebenso ließ sich der nominelle Stürmer Dembélé immer wieder in den halbrechten Halbraum fallen, ohne jedoch an diese Zone gebunden zu sein, wodurch nicht unbedingt ein anderer Spieler dort reinrotieren musste. Das übergeordnete Ziel PSGs war es, Überzahl im Zentrum zu schaffen und somit Dominanz zu entwickeln.
Im Gegensatz zu relationistischeren Mannschaften, wie Malmö oder Racing Santander steht bei PSG, wie soeben beschrieben, zumeist der Raum und der Gegenspieler als Orientierungspunkt im Fokus anstatt des Mitspielers. Eine Besonderheit des PSG Spiels liegt allerdings zusätzlich an der situativen Freiheit, die Trainer Luis Enrique insbesondere seinen dribbelstarken Spielern lässt. So gibt es immer wieder situativ für den Gegner überraschende Ausbrüche aus der Suche nach dem freien Spieler, indem beispielsweise spontan Dribblings in Unterzahl-/ Gleichzahlsituationen gesucht werden oder enge Kombinationen im Druck stattfinden. Das passt natürlich hervorragend zu den Stärken der Spieler. Als Beispiel hierfür lässt sich das 3:0 von Vitinha anführen, welcher auf der rechten Verteidigerposition in die Situation startet und mithilfe von langem Andribbeln durch das Zentrum, 2 Doppelpässen und Durchlaufen nach Abspiel die gesamte Mannschaft Inters alt aussehen lässt und völlig überrascht.
Locken und zentrale Überzahl
Das übergeordnete Ziel der Pariser gegen Inter blieb jedoch die Dominanz durch eine Überzahl im Zentrum. Durch diese wurden insbesondere die Halbverteidiger Inters in eine Zwickmühle gezwungen. Entweder rückten sie raus, übten Druck aus, verhinderten die Unterzahl im Zentrum und riskierten allerdings die Öffnung der Tiefe in der letzten Kette oder sie blieben in der letzten Kette und mussten passiv verteidigen, ohne Druck auf den ballführenden Spieler zu bekommen. Wie bereits beschrieben, sicherten Inters Abwehrspieler zumeist die Tiefe ab. Das lag wahrscheinlich daran, dass PSG darauf lauerte, durch das Verwaisen lassen bestimmter Räume, diese im Anschluss mit ihren schnellen und dribbelstarken Spielern zu belaufen und zu bespielen.
Um die letzte Kette zu locken, wurden immer wieder Dembélé, Doué und Kvaratskhelia in Rotationen eingebunden. Ebenso kippten die Achter Ruiz und Neves häufig auf Außen ab, um die äußeren Spieler Inters Mittelfeldkette rauszuziehen, wodurch zumeist die Halbverteidiger aufrückten, um das Loch zu schließen. Dafür entstanden 1gg1 Situationen auf der Außenbahn für die nun die Tiefe belaufenden Breitengeber PSGs.

Das Herauskippen Inters Achter, Ruiz, sowie das Entgegenkommen der falschen Neun, Dembélé, sorgt für eine Zwickmühle bei den Verteidigern Inters.
Rotationen und Rochaden
Zusätzlich zum ständigen Locken der letzten Kette Inters kreierte PSG andauernd Zuordnungsprobleme aufgrund vielfältiger Rotationen. Die weiter oben angesprochenen Rotationen zwischen Halbraum und Breitengeber der Außenverteidiger und Flügel sorgten für Übergabeprobleme zwischen Halbverteidiger und Außenverteidiger Inters. Häufige zu beobachtende Rotationen waren:
- Doué rotiert mit Hakimi sowie Mendes mit Kvaratskhelia in der Besetzung des Halbraums und der Breite
- Vitinha rotiert mit Mendes in der Besetzung der ersten Aufbaulinie, wobei Vitinha nicht auf die linke Aufbauseite gebunden ist
- Neves rotiert mit Hakimi in der Besetzung der ballfernen inversen Außenverteidigerposition und einer tiefen Zentrumspositiion
- Vitinha rotiert mit einem der Achter, Ruiz oder Neves in der Besetzung des zentralen Ankerpunkts (Sechserposition) und den tieferen Zentrumspositionen
- Dembélé rotiert mit den Flügelspielern Doué oder Kvaratskhelia in der Besetzung des Zentrums und der Flügel
- Dembélé rotiert mit einem der Achter in der Besetzung der Tiefe und des Halbraums
- …
Allerdings finden PSGs Rotationen nicht nur zwischen 2 Spielern und 2 Positionen statt. Das Spiel PSGs ist ein dauerhaftes rotieren mehrerer Spieler. Im Gegensatz zu vielen anderen Mannschaften wird aus den Rotationen weiter rotiert.
So kam es beispielsweise vor, dass Dembélé auf der Halbspur entgegen kam, Doué in den Sturm tief durchlief, während Außenverteidiger Hakimi den Breitengeber übernahm. Gleichzeitig suchte einer der Achter im Zentrum die Tiefe. Anstatt allerdings in die gewohnte Struktur zurückzukommen, wurde aus den Rotationen weiter rotiert. So ließ sich Hakimi plötzlich als Sechser wiederfinden und Dembélé auf der eigentlichen Außenverteidigerposition. Das sorgte ebenso dafür, dass Inter kaum Zugriff aus dem Abwehrpressing finden konnte, da es Probleme bei der Übergabe im Moment der Suche nach der Mannorientierung gab.
Exkurs zum Verständnis: Während ich in diesem Artikel Rotationen als Wechsel zwischen 2 oder mehreren Positionen bezeichne, stehen Rochaden hilfsweise für den Wechsel in andere Zonen des Spielfelds, die nicht besetzt waren oder werden. Während Rotationen lediglich den Zweck haben, Übergabeprobleme zu kreieren, werden durch Rochaden primär Räume geöffnet oder Überzahl geschaffen.
Allerdings blieb es nicht nur bei den dauerhaften Rotationen zwischen den klassischen Positionen des Positionsspiels. Zusätzlich wurden gewisse Räume immer wieder gar nicht besetzt, um sie anschließend belaufen zu können. Diese Rochaden sorgten immer wieder für ballnahe Überzahl sowie für zusätzliche Unstrukturiertheit beim eigentlich im 5-3-2 sehr strukturierten Gegner.
Nicht nur der am freiesten agierende Dembélé sorgte für die Öffnung der Spitze, um diese zu belaufen. Auch die Flügelspieler ließen als taktisches Mittel immer wieder die Tiefe verwaisen, damit sie im Anschluss attackiert werden konnten. So kam es beispielsweise vor, dass sowohl Mendes als auch Kvaratskhelia entgegenkamen im Halbraum und der Breite. Die Position des tiefen Breitengebers blieb dann zunächst unbesetzt, bis beispielsweise Achter Ruiz versuchte durch einen Tiefenlauf den freigezogenen Raum bespielbar zu machen.
Auch verließen insbesondere die zentralen Spieler, die beiden Achter Ruiz und Neves sowie Stürmer Dembélé, immer wieder intuitiv die klassischen Zonen des Positionsspiels, um situativ in einer Aktion für mehr Dribbelstärke und enge Kombinationen zu sorgen. Dementsprechend lässt sich das Pariser Ballbesitzspiel nicht nur auf die beschriebenen Rotationen reduzieren.
Faktor Dribbling
Die Pariser Mannschaft besteht ebenso wie die von Barcelona größtenteils aus dribbelstarken Spielern. Die Freiheit, jederzeit ins Dribbling gehen zu können, hilft dabei, das Spiel PSGs für den Gegner weniger vorhersehbar zu machen. Gleichzeitig sorgt die Überlegenheit in 1gg1 Situationen für eine passivere Herangehensweise der Gegner, da dieser Gleichzahl Situationen verhindern möchte. Die spontanen Ausbrüche in Dribblings oder enge Kombinationen durch Doppelpässe und weiteres sind eine Besonderheit in Enriques System, die auf den positionellen Grundstock aufgebaut ist. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass nicht nur die 3 Angreifer diese Freiheiten haben. Ebenso profitieren die zentralen Spieler davon, wie beim 3:0 durch die Vorbereitung Vitinhas eindrücklich gezeigt wurde.
Fazit
Paris Ballbesitzstruktur lässt sich mit einer positionellen Grundstruktur beschreiben, die Dynamik durch viele einstudierte Rotationen entwickelt. Darüber hinaus verfolgte PSG den Plan, Inters letzte Kette vor das Dilemma zwischen Zentrumsüberladung und Tiefe öffnen zu stellen. Insbesondere die Rochaden sorgten immer wieder für ungewöhnliches Chaos in der Defensive Mailands. Darüber hinaus gibt Enrique angepasst an die individuellen Stärken seines Teams situativ gewisse Freiheiten, die die Flexibilität weiter erhöhen.
Alles in allem wirkt das Pariser Ballbesitzspiel zunächst wahnsinnig chaotisch. Es fußt allerdings auf einer zuordenbarer Philosophie des Trainers, welche auf die Pariser Mannschaft sehr vorteilhaft angepasst wurde. Enrique und PSG, das passt erstaunlich gut und sorgt für einen wirklich ansehnlichen Offensivfußball.
Vielen Dank an MX für die Zuarbeit!
Autor: MH ist Fußball-Aficionado von Herzen. Seine Wohnung gleicht einer Fußball-Bibliothek in deren Regalen Bücher über die großen Taktiker von Rinus Michels bis Pep Guardiola stehen. Das Buch von Spielverlagerung.de fehlt hier natürlich nicht. Für MH ist Fußball nicht nur ein Spiel. Es ist ein Lebensgefühl. Auf X ist er unter Mh_sv5 zu finden.
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