Türchen 6: Internacionals gruppentaktische Lösungsfindung
SC Internacional aus Porto Alegre ist in Brasilien die Mannschaft der zweiten Jahreshälfte.
Nach der heftigen Flutkatastrophe in der Region rund um die südbrasilianische Millionenstadt, dementsprechend zahlreichen ausgefallenen Hinrundenspielen und einem schwierigen Saisonstart hat sich das Team unter dem neuen Trainer Roger Machado – ausgerechnet einer Vereinslegende des Stadtrivalen Grêmio – beeindruckend entwickelt. Bis zum spektakulären 2:3 bei Flamengo gab es für Inter fast vier Monate keine Pflichtspielniederlage mehr und beinahe hätte der Schlussspurt gereicht, um sogar noch in das Meisterschaftsrennen einzugreifen.
Nachdem der einstige Linksverteidiger Roger bei seinen vorigen Trainerstationen vor allem als Defensiv-(/Pressing-)Trainer von sich reden machte, meistens ein grundsätzlich stabiles Konstrukt entwickelte, aber der inkonstante Output offensiv zwischendurch für durchwachsene Phasen sorgen konnte, hat sich bei Internacional eine enorme gruppentaktische Qualität mit Ball herausgebildet.
Internacional im Spielaufbau
Die Mannschaft kann in einem Dreieraufbau mit dem Sechser aufbauen oder durch eine flachere, leicht eingerückte Position von Linksverteidiger Bernabei, der diese häufig zum Andribbeln nutzt. Positionell ergeben sich in den ersten Linien damit einige Parallelen etwa zu Eintracht Frankfurt (inklusive des häufig noch zu zögerlichen Andribbelns der Aufbauspieler mit Ausnahme Bernabeis), aber das weitere Ausspielen gestaltet sich anders.
Beispielsweise geht Internacional mehr Überladungen der flachen Flügelzonen ein. Wenn die Spieler mit einem long-line-Ball angespielt werden, gehen sie gut damit um. Sie versuchen kaum mal überambitioniert, direkt sauber am Gegenspieler im Rücken vorbeizukommen. Statt den Ball möglichst präzise unter Kontrolle zu bringen, konzentrieren sie sich darauf, den Körper so gegen den Gegenspieler zu stellen, dass dieser nicht an den Ball herankommt – der deshalb nicht umgehend vollständig kontrolliert sein muss. Sie bleiben in diesen Szenen geduldig und begnügen sich zunächst damit, das Tempo aus dem Zuspiel herauszunehmen und währenddessen den Gegner zu blockieren. Die Fortsetzung mit einem fast ruhenden Ball ist in der bedrängten Lage zu einem etwas späteren Moment technisch leichter umzusetzen. Vor allem der ehemalige Bundesliga-Stürmer Rafael Borré kommt für Überladungen an der Seitenlinie oft als Wandspieler weit in den äußeren Halbraum entgegen.
Darüber hinaus gibt es bei Inter viele (und im Vergleich zu Frankfurt mehr) ergänzende Bewegungen der Mittelfeldakteure, die sich aus flachen Positionen den Ball abholen. Die beiden Schlüsselpersonalien dafür sind mit Kapitän Alan Patrick als Achter/Zehner und mit Verbindungsspieler Thiago Maia zwei langjährig unterschätzte Spieler. Bei Thiago Maia kommt allerdings auch ein neuerer Entwicklungssprung in Sachen Aktivität hinzu. Er findet sehr gut Situationen, um großräumig und aufwendig am Ball zu unterstützen und aus zunächst unbeachteten Zonen das Ausspielen zu ergänzen.
Anschlussbewegungen
Gerade die Aktivität auf gruppentaktischer Ebene und überhaupt das breite, kreative Repertoire für gruppentaktische Lösungsfindung sind das große Faustpfand für die so erfolgreiche Zeit unter Roger Machado. Diese Stärken erst führen dazu, die verschiedenen Ballbesitzstrukturen letztlich so gut ausspielen zu können. Ohne die enorme gruppentaktische Qualität Internacionals (und dort speziell auch das individualtaktische Verhalten in gruppentaktischen Situationen) wäre die Flexibilität der Staffelungen im Einzelnen nur ein Muster ohne (bzw. von deutlich geringerem) Wert.
Ein gutes Beispiel dafür sind die Anschlussmomente nach explosiven Auftaktaktionen, wie kurzem Andribbeln oder einem Anspiel aus einer beinahe ruhenden Situation: Alan Patrick, Thiago Maia, Bernabei oder auch der zuletzt formstarke linke Flügeldribbler Wesley Ribeiro täuschen für ihre Folgebewegung häufig zunächst eine andere Richtung an als die, die sie tatsächlich einschlagen. Gegenspieler müssen darauf reagieren und so können sie sich immer mal kleine Zeitvorteile für den Fortlauf der Szene herausholen.
Für die Bewegung nach dem eigenen Pass ziehen die Spieler nicht nur in den Raum diagonal neben dem Passempfänger, sondern folgen alternativ immer mal der Passrichtung nach. Gerade für Doppelpasssituationen ist das oftmals ein unterschätztes Mittel: Intuitiv gehen viele Spieler in eine andere Richtung und laufen quasi seitlich neben den Doppelpasspartner, weil sie sich dort mehr Raum versprechen. Allerdings ist das oftmals der Weg, den auch der Verteidiger am wahrscheinlichsten antizipiert, zumal dieser in einem 2gegen2 oftmals leichter auf die Innenbahn kommen kann.
Darüber hinaus trauen sich wenige Spieler, bei einem Doppelpass dem eigenen Passweg zu folgen, da sie fürchten, den Mitspieler zulaufen zu können. Gerade dieser Raum ist für die Gegenspieler aber schwierig zu verteidigen, da sie sich mit dem ersten Pass zunächst auf eine mögliche tiefe Fortsetzung einstellen müssen. Der direkte Gegenspieler des Passempfängers muss diesen im 1gegen1 verteidigen und so bleibt vor allem das Rückwärtsdoppeln des anfangs ballnächsten Gegenspielers als mögliches Problem. Dagegen wiederum ist die angetäuschte Anschlussbewegung des Passgebers wertvoll. Wenn man das Freilaufverhalten nach der Auftaktaktion variiert und die Möglichkeit hat, auch mal dem eigenen Pass in den Raum „vor“ dem Mitspieler nachzustarten, wird man für die Verteidiger schwieriger zu lesen.
Kreative Nutzung von 1 und 2 Kontaktaktionen
Diese Herausforderung für gegnerische Verteidiger, die Aktionen von Internacionals Offensivspielern zu antizipieren, verstärkt sich weiter bei der Frage, welche Anzahl an Ballberührungen man jeweils von ihnen erwarten muss. Zwischendurch passiert es immer wieder, dass vor allem Alan Patrick in sehr überraschenden Situationen mit einem Kontakt spielt, wo man zunächst eine Ballannahme erwarten würde.
In der obigen Szene erhielt er die Verlagerung in herausgekippter Position und stand so, dass das Zuspiel auf seinen schwächeren linken Fuß ging. Mit einem ersten Kontakt diagonal nach hinten hätte er sich den Ball selber auf den stärkeren rechten Fuß legen und anschließend kurz andribbeln können.
Wenn man den Gegner ballseitig anlocken und beispielsweise eine Verlagerung vorbereiten möchte, wäre ein solches langsames Zwischendribbling oder eine Annahme mit anschließender Verzögerung bis zum zweiten und dritten Kontakt wichtig, um den Gegner zunächst weit genug auf die angespielte Seite zu ziehen und ballfern ausreichend Raum zu schaffen. Alan Patrick hatte in dieser Szene jedoch eine andere Idee, keine Angriffsvorbereitung, sondern den direkten Angriffsübergang: Der erste Kontakt ging auf den von innen zulaufenden Bernabei und der frühe Moment überraschte den Verteidiger, der dadurch früher abstoppen musste als geplant.
In einer anderen Szene aus dem Angriffsdrittel erhielt Alan Patrick zentral vor der Kette einen kurzen Querpass des nach einer Hackenablage Thiago Maias nach innen gedribbelten Bernabei. Sowohl Borré als auch Thiago Maia waren diagonal entgegengesetzt zur Bewegungsrichtung der Verteidiger und damit eigentlich sehr aussichtsreich tief gelaufen, allerdings sehr früh gestartet. Deshalb hätte Alan Patrick entweder mit dem ersten Kontakt einen Steckpass spielen müssen, wofür allerdings der Winkel, in welchem der Ball zu ihm kam, zu ungünstig wirkte, oder bei einem zweiten Kontakt wäre zu viel Zeit verstrichen und die beiden Kollegen ins Abseits geraten.
Viele Spieler hätten das Zuspiel riskiert oder den zweiten Kontakt für eine Annahme und anschließendes Andribbeln genutzt, da zumindest noch einige Meter bis zum nächsten Verteidiger verblieben. Die Ballannahme hätte den Innenverteidiger wahrscheinlich zum Herausrücken verleitet, sobald er nicht mehr mit dem sofortigen Ball in seinen Rücken rechnen musste. Dagegen hätte Alan Patrick die Situation fast nur noch mit einem Dribbling ausspielen können, weil Bernabei noch nicht wieder nah genug angeschlossen hatte, um bei einem Zuspiel am Gegner vorbeizukommen. Ein durchbruchsorientiertes Dribbling hätte wahrscheinlich nur nach halblinks gegen die Bewegungsrichtung funktioniert und Alan Patrick vielleicht am Innenverteidiger vorbei gebracht, aber dann hätte sich wiederum die Frage der Fortsetzung gestellt.
Von daher war die kreative Lösung des Kapitäns interessant: Er entschied sich für eine Aktion mit dem ersten Kontakt und ließ den Ball nochmals auf Bernabei abtropfen, aber (noch) nicht für einen Durchbruch, sondern erneut „vor“ die letzte Linie. Das sorgte zumindest erst einmal dafür, dass der Innenverteidiger in abwartender Haltung verharrte und Bernabei mehr Zeit für seinen Laufweg hatte. Da dieser sich im Tempo befand und die Abstände insgesamt kleinräumig waren, ging die Aktion nur auf, weil Alan Patrick den abtropfenden Ball tatsächlich so weich wie ein Abtropfen spielte.
Der resultierende Doppelpass zwischen ihm und Bernabei wurde dann die Grundlage für einen zweiten und letztlich auf den Durchbruch ausgerichteten Doppelpass. Bernabei war in Reichweite gelangt, um hinter die Abwehr durchzubrechen, spielte mit dem ersten Kontakt nochmals quer auf Alan Patrick und dieser wiederum leitete den Ball ebenfalls mit dem ersten Kontakt per Innenseite in den Rücken des Verteidigers weiter. Letztlich kam Bernabei nicht ganz sauber auf der Innenbahn durch und nur ein bedrängter Abschluss heraus, der aber dennoch am Außenpfosten landete.
Insgesamt sorgte der doppelte Doppelpass mit den weichen One-Touch-Aktionen dafür, dass die Verteidiger den Moment des Versuchs, die Tiefe zu attackieren, schwieriger vorausahnen konnten, weil der Ball mehrfach in einer „Zwischenposition“ hin und her lief, wo er normalerweise nicht gehalten wird, sondern ein schneller Übergang stattfindet. Statt des letzten Zuspiels mit dem ersten Kontakt wäre am Ende der Szene dann aber auch der zweite Kontakt gut möglich gewesen, beispielsweise für einen eigenen Abschluss.
Individuelle und kollektive Perspektive
Als Einzelspieler ist Alan Patrick insgesamt ein gutes Beispiel, wie die gruppentaktische Stärke Internacionals entscheidend von den individualtaktischen Finessen profitiert. Vor seinen Zuspielen täuscht er immer wieder kurz an, bevor er den Pass spielt, und nutzt geschickt Zwischenkontakte. Wenn er zunächst ein oder zwei Schritte in ein Dribbling nach hinten setzt, um sich anschließend nach vorne zu drehen und den Weg auf dem falschen Fuß erwischen zu können, führt er die Drehung meistens ohne zusätzlichen Kontakt zum Ball aus, den er stattdessen liegen lässt. Wenn er den Ball vorher in ausreichende Entfernung gespielt hat, kommt der Gegner nicht schnell genug heran und er selbst macht sich die koordinative Ausführung leichter, da er nicht auf Körperkontrolle und Ball gleichzeitig achten muss, sondern das Leder erst anschließend wieder aufnimmt.
So sehr das gruppentaktische Ausspielen von Offensivsituationen beeindruckt und sich in Form zahlreicher sehenswerter Szenen ausdrückt, sind die strukturellen Ausgangslagen nicht immer die besten. Zum letzten Drittel erlaubt die Spielanlage Internacionals noch manches Entwicklungspotential. Vergleichsweise viele Freilaufbewegungen richten sich long-line aus, die Anschlussverbindungen beispielsweise zum Strafraumeck oder nach hinten für die Rückzirkulation sind oftmals unbeständig und auch die ballfernen Positionen nicht immer die effizientesten. Aktuell löst das Team von den mannschaftstaktisch schwächeren Situationen eine ausreichende Anzahl auf der gruppentaktischen Ebene gut genug aus. Langfristig gibt es noch manches zu tun, bei sehr vielversprechendem Potential.
Keine Kommentare vorhanden Alle anzeigen