Ein Blick zurück in den 70er Jahre Spiegel – MH
Beim Samstagabend Topspiel standen sich der Tabellen Zweite und Dritte der vergangenen Saison gegenüber. Der FC Bayern verteidigt im Besonderen durch eine dominante zweite Halbzeit die Tabellenspitze, während Stuttgart ungewöhnlich wenig Ballbesitz zu verzeichnen hat.
Stuttgarter Angriffspressing vs. typisch Münchner Aufbauspiel
Stuttgart beginnt hoch pressend aus ihrer klassischen 4-4-2 Pressingformation. Das hybride Pressing Stuttgarts ist nicht rein mannorientiert. Im Raum aber spielerorientiert lenkt Stuttgart den FCB immer wieder in den Druck auf eine Seite. Die Stuttgarter Unterzahl bedingt durch den mitspielenden Neuer im Tor der Münchner wird immer wieder ausgeglichen mit Hilfe der Deckungsschatten erzeugenden Undav und Demirovic.
Auf den 3-1 (mit Neuer 4-1) Spielaufbau mit dem häufig abkippenden Sechser Kimmich reagieren insbesondere Karazor und Stiller mit einer sehr guten Risiko/ Nutzen Abwägung. Die beiden Stuttgarter Sechser lassen sich kaum aus dem Zentrum locken, sondern sichern sich immer wieder gegenseitig gut ab, während ein Sechser situationsbedingt rausschieben kann, um mannorientiert Druck auf die 3er Aufbau Kette auszuüben. Das ist besonders wichtig, da der FCB sich somit schwer tut die eigenen Angreifer auf letzter Stuttgarter Linie anspielen zu können. Der Zentrumsraum wird nicht geöffnet und der Passweg zum abkippenden Kane kann geschlossen werden.
Die Folge des Stuttgarter Angriffspressings ist, dass München zwar mehr Ballbesitz hat, jedoch hauptsächlich in der eigenen Hälfte, wodurch keine wirkliche Drangphase im gegnerischen Drittel entwickelt werden kann. Besonders schwierig für die Münchner ist es, einen Mittelweg aus Positionsspiel und Fluidität bzw. Positionswechsel zu finden gegen das hybride Pressing des VFBs. Die Bayern zeichneten sich in der laufenden Saison auch durch eine hervorragende Reaktion auf das häufigere mannorientierte Verteidigen durch viele Positionswechsel und auf raumorientiertes Verteidigen (u.a. gegen Werder Bremen) durch ein präzises Positionsspiel aus.
Besonders das Fehlen Musialas macht sich hier bemerkbar. Musiala, der sich eigentlich immer wieder bis tief in die eigene Hälfte fallen lässt, um durch eine gewonnene 1gg1 Situation im Spielaufbau Überzahl herstellen zu können, schafft es so normalerweise den Druck auf seine Mitspieler zu nehmen. Kritisieren lässt sich zudem, dass zu selten die Verteidiger Stuttgarts in die Zwickmühle zwischen Absicherung halten und Gegenspieler attackieren gebracht wurden. Das sollte sich in der zweiten Hälfte insbesondere ab der 55. Minute ändern.
Stuttgarter Spielaufbau
Um zu verstehen, weshalb die Stuttgarter so wenig Ballbesitz hatten, lohnt sich ein Blick auf den Stuttgarter Spielaufbau. Bayern presst gewohnt mannorientiert über den gesamten Platz. Dabei schlägt Stuttgart fast jeden Ball im Spielaufbau lang. Das ist eigentlich eine gute Idee gegen ein mannorientiertes Angriffspressing, da man somit auf letzter Linie ziemlich einfach 1gg1 Situationen herstellen kann.
Während Undav einen Verteidiger immer wieder rauszieht, sind Demirovic, Leweling und Rieder die entsprechenden Zielspieler. Das Problem dabei ist allerdings, dass insbesondere Rieder den schnellen Davies immer wieder in Ballnähe in die Mitte zieht, wodurch dieser problemlos im Rücken von Upamecano absichern kann.
Zudem sind die hohen, langen Bälle kaum vorbereitet. Es fehlt die nötige Variabilität, um den Gegner vor unterschiedliche Aufgaben stellen zu können und das mannorientierte Pressing auszuspielen. Die sich immer wieder wiederholenden beschriebenen Abläufe sorgen zwar dafür, keine Ballverluste in der eigenen Hälfte zu provozieren und die Münchner in der eigenen Hälfte unter Druck setzen zu können. Torgefahr entwickelt sich daraus jedoch nicht.
Mögliche variable einstudierte Varianten (angepasst an die Stärken der Stuttgarter Spieler) gegen das mannorientierte Münchner Angriffspressing habe ich im Folgenden grafisch dargestellt:
Variante 1:
Variante 2:
Variante 3:
Es gibt natürlich weitere Möglichkeiten, eine Manndeckung zu manipulieren. Die aufgezeigten Varianten passen jedoch hervorragend zu den Stärken der Stuttgarter Spieler. Besonders interessant erscheinen zudem die Überlegungen des extremen Totalen Fußballs und die damit verbundenen dauerhaften Positionswechsel.
Ein nostalgischer Blick zurück in die 70er Jahre lohnt sich, um mögliche Lösungen gegen das Bayerische Spiel zu entwickeln. Wenn auch nicht in diesem Extrem umgesetzt, ist es interessant, sich die Prinzipien des Totalen Fußballs unter Rinus Michels von Ajax Amsterdam anzuschauen, um die gegnerische Manndeckung zu manipulieren. Es wird spannend zu sehen, welche zukünftigen Lösungen wir gegen das Spiel der Bayern sehen werden.
Zunächst allerdings lässt sich festhalten, dass sich das immer wieder kritisierte mannorientierte Pressing der Bayern einmal mehr auszahlt. Man dominiert durch schnelle Ballgewinne und lässt den Gegner gar nicht erst zur Entfaltung kommen. Eine solche Spielkontrolle wäre ohne diese aggressive Spielweise kaum möglich.
Bayerische Torgefahr in Halbzeit zwei
Im Laufe der zweiten Halbzeit insbesondere ab der 55. Spielminute übernimmt der FC Bayern die Spielkontrolle auch in der gegnerischen Hälfte, da der VFB es nicht mehr schafft, durch ihr hohes hybrides Pressing das Spiel in der Münchner Hälfte zu halten.
„Formationen sind zwar nur wie Telefonnummern, doch sie können trotzdem gewisse Charakteristiken mitbringen.“ Das Zitat von René Marić aus dem Jahr 2015 beschreibt die aktuelle Münchner Spielweise ziemlich gut. Mit Formationen lässt sich der Münchner Spielaufbau insbesondere in der zweiten Hälfte kaum noch beschreiben.
Vor allem Strukturen wie 3-2-5, 3-1-2-4 und 3-1-3-3 waren häufig im Spielaufbau erkennbar. Dabei auffällig war der wiederkehrende 3-1 Aufbau mit einem abkippenden Sechser. Die wohl entscheidenste Umstellung allerdings fand auf den Halbraum Positionen statt. Vor allem Kane und Müller, aber auch Guerrero, teils auch Gnabry oder Olise waren immer wieder sowohl im halblinken als auch im halbrechten Raum nahe am eigenen Strafraum aufzufinden.
Somit wurde zum einen das Zentrum überladen und die Stuttgarter Sechser vor Probleme in der Zentrumsverteidigung gestellt, zum anderen wurden die Stuttgarter Verteidiger andauernd in die Zwickmühle zwischen drauf schieben und Druck ausüben sowie Zentrum in Unterzahl verteidigen, dafür die Absicherung auf letzter Linie herstellen, gebracht. Um beide Varianten der Stuttgarter Verteidiger ausnutzen zu können, ließen sich immer wieder die in dieser Saison typischen Laufwege des Außenverteidigers Davies in die Tiefe im linken Halbraum in den Rücken der Abwehr sehen. Bayern schaffte es immer wieder die Stuttgarter in die eigene Hälfte zurückzudrängen um Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte kreieren zu können.
Aus dieser Dominanz in der gegnerischen Hälfte konnten nun auch gefährliche Gegenpressingmomente kreiert werden. So fiel das 1:0 in Folge eines Gegenpressingmoments auch deshalb, weil man es aus besagten Gründen schaffte, viel häufiger das Spiel in die Stuttgarter Hälfte zu verlagern. Das war definitiv ein entscheidender Schlüssel zum 4:0 Sieg.
Das Fazit
Die Bayerische Dominanz im Ballbesitz und im Ergebnis lässt sich unter anderem durch das hohe mannorientierte Pressing, einen sehr starren Spielaufbau der Stuttgarter gegen das mannorientierte Münchner Pressing sowie entscheidende Überladungen des Zentrums im Spielaufbau der Münchner gegen ein in der ersten Halbzeit noch sehr effektives Pressing der Stuttgarter erklären. Letzten Endes ist es somit ein verdienter Sieg für die Münchner. Es wird spannend sein, welche Ideen sich die zukünftigen Gegner des Rekordmeisters einfallen lassen, um die Strukturen der Münchner Manndeckung zu zerstören.
Autor: MH ist Fußball-Aficionado von Herzen. Seine Wohnung gleicht einer Fußball-Bibliothek in deren Regalen Bücher über die großen Taktiker von Rinus Michels bis Pep Guardiola stehen. Das Buch von Spielverlagerung.de fehlt hier natürlich nicht. Für MH ist Fußball nicht nur ein Spiel. Es ist ein Lebensgefühl. Auf X ist er unter Mh_sv5 zu finden.
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