Contes Top-Start zwischen den Facetten
Von 3-4-1-2-Angriffspressing bis zum tiefen 5-4-1 wurde von Inter vieles geboten im Mailänder Stadtderby. Während frühe Vorwärtspässe dem Team Probleme machten, wurde gerade die Rückzirkulation zu einem Schlüssel für den Sieg.
Nach drei Siegen aus drei Spielen bei seinem neuen Klub Inter konnte Antonio Conte im Stadtduell die Chance nutzen, aus einem guten einen noch besseren Saisonstart zu machen. Sein Team versuchte der Partie direkt mit hoher Intensität den Stempel aufzudrücken, zeigte bereits ab den ersten Phasen der Begegnung sowohl viel Licht als auch Schatten, durchlief verschiedene Veränderungsvorgänge und entschied das innerstädtische Aufeinandertreffen schließlich für sich.
Unterschiedliche Pressinganfänge
Zunächst begann Inter das Derby aus einer 5-2-1-2- bzw. 3-4-1-2-Formation heraus und setzte in den ersten Minuten ein sehr aggressives Angriffspressing an, dessen konsequente Umsetzung viel Wirkung entfaltete. Durch die Aufteilung im offensiven Zentrum konnten die ersten drei Aufbauspieler Milans mannorientiert zugestellt werden, auf den Flügeln pressten die Außenspieler jeweils weiträumig ballnah auf den gegnerischen Außenverteidiger. Das hohe Nachschieben verlagerte Inters Präsenz nach vorne.
Ein solches Vorgehen provoziert – gerade in Anfangsphasen – dann besondere Schwierigkeiten, wenn man die Mannschaft im Aufbau die ersten Linien nicht extrem aufgefächert halten will und/oder die Freilaufbewegungen in der zweiten Reihe eigentlich etwas ruhiger angelegt sind. Milan wurde immer wieder weit zurück gedrängt, schien größere Umformungen zu scheuen, konnte sich aus den direkten Zuteilungen nicht entscheidend lösen und verlor so viele Spielanteile.
Wesentlich anders war der Pressingansatz auf der anderen Seite angelegt: Gegen Inters Dreierkette formierten sich die Rossonieri von Trainer Marco Giampaolo anfänglich in einer flachen Raute, die sich im Laufe des Verschiebens durch zentrales Durchrücken von Suso immer stärker einem 4-3-3-0 annähern konnte. Angesichts der engen Anordnung der ersten Linie wurde der Ball nach außen geleitet, zumeist auf Godín halbrechts.
Während Kessie bei Milan auf der anderen Seite sehr schnell und aggressiv ins Pressing auf den Flügel – oft gegen Kwadwo Asamoah als den etwas tieferen Außenspieler – ging, erfolgte das entsprechende Nachschieben bei Calhanoglu – zumindest nicht der anführende Pressingspieler – verhaltener. Im Grunde genommen hielt die Mittelfeldreihe das positionelle Gebilde – und saubere Abstände im Block – zur Abdeckung des Zentrums hin statt sich rein ballorientiert zu bewegen.
Frühe Vorwärtspässe über halbrechts
Kleinräumig zum äußeren Halbraum hin hatte Inter daher eigentlich die Möglichkeit, das Spiel weiter zu tragen oder zu beruhigen. Einer der Sechser brachte ballnah aber zunächst oft aggressiv aufrückende Läufe durch den Halbraum ein und bewegte sich so als potentielle Anspielstation weg, auch wenn dadurch gelegentlich noch etwas Raum geöffnet wurde. Insgesamt schien Inter auf diese Konstellation nicht vorbereitet bzw. auf andere Muster eingestellt, da Conte wohl eine klarere Pressingzuteilung mit drei gegnerischen Akteuren auf die drei Verteidiger erwartet hatte.
Dieser Zusammenhang könnte der Hintergrund für die vielen frühzeitigen diagonalen Zuspiele Godíns halbrechts an die letzte Linie heran gewesen sein, meist in Form halbhoher Pässe. Dort versuchte Inter sich auch mit den Offensivspielern kompakt zu staffeln und hatte einige Ansätze für Überladungen. Vor allem erfolgte dies in flexibler Weise, mit einer Vielzahl unterschiedlicher Laufwege der verschiedenen Akteure, insbesondere mit kreuzenden Aktionen zwischen Halbstürmer, Zehner und einem aufrückenden zentralen Mittelfeldspieler.
Diese Bewegungen an sich waren oft gut, jedoch aufgrund der Einleitungssituationen letztlich nicht so leicht einzubinden. Milan befand sich noch in zentral kompakt gehaltener Staffelung, die anschließend auch bei zweiten Bällen mit zur Geltung kam und dort Inters Ansätze wiederum abschwächte. Dennoch zeigten sich die Mannen von Conte in der ersten Halbzeit nach jedweder Art im vorderen Bereich abgeprallter oder loser Bälle gefährlich und schalteten in solchen Situationen schnell. Gerade die jeweils in der höchsten Linie befindlichen Akteure setzten sich gut als Anspielstationen ab.
Rückzirkulation als Erfolgsbaustein
Allgemein hatten die Nerazzurri in verschiedenen Situationen die Tendenz, übermäßig frühzeitige Vorwärtspässe zu spielen, mitunter etwas hektisch. Teilweise ergab sich dies wahrscheinlich aus der versuchten Umsetzung bestimmter Abläufe im Passspiel, von denen Conte für Dreierkettensysteme etwa auch in seiner Zeit als italienischer Nationaltrainer einige vorgab: Die Orientierung daran kann gelegentlich dazu führen, dass bei bestimmten Auslösern die Spieler auch dann einen dem Muster folgenden Direktpass spielen, wenn sie gar nicht mit dem ersten Kontakt weiterleiten müssten und eigentlich noch Raum hätten, den sie ausschöpfen könnten.
Dem Passspiel entsprang nicht nur dieser große Problem-, sondern gleichzeitig auch einer für den Erfolg zentraler Schlüsselpunkt des Teams: Während Inter aus dem zweiten Drittel oft zu früh die Überleitung nach vorne suchte, spielten sie in Situationen, in denen sie im vorderen Drittel waren und dort aber nicht so gut weiter kamen, insbesondere im Anschluss an ausweichende Aktionen, konsequent und pragmatisch von dort auch wieder zurück. Ein starker Auftritt in der Rückzirkulation ins Mittelfeld trug besonders in späteren Phasen zunehmend zur Spielberuhigung und zum Erhalt von Zugriff bei, wurde dementsprechend im Verlaufe der Partie immer wichtiger.
Die drei Verteidiger trafen in diesen Zusammenhängen insgesamt gute Entscheidungen. Im defensiven Mittelfeld bewegte sich Brozovic in vielen Fällen gut aus dem Deckungsschatten heraus und pendelte fast durchgehend durch die Räume. Mit seiner Beidfüßigkeit war er im Passspiel wichtig für die Folgeaktionen, zudem zeigte er eine sehr vielseitige Passtechnik und konnte diese gerade für die Umsetzung bei jenen für Conte-Mannschaften typischen Passmustern und dabei insbesondere bei Direktverlagerungen aus den Sechser- und Achterräumen auf die Flügel einbringen.
Milans Ansätze über Susos Zurückfallen
Auch Milan gelang es im Verlaufe der ersten Halbzeit besser, eigene Ballbesitzphasen zu generieren und sich häufiger mal aus dem gegnerischen Pressing zu befreien. Über gelegentliche Ausweichbewegungen aus dem Zentrum konnten sie bei hohem Zustellen die Situationen etwas entzerren, vor allem durch zusätzlich tiefe Positionierungen von Suso im rechten Halbraum – gerade bei leicht zurückgezogenen Pressinghöhen – für Ruhe sorgen. Dieses Zurückfallen stärkte die hintere Präsenz durch einen weiteren Spieler und provozierte Inter gelegentlich dazu, sich zurück zu orientieren und dort neu zu staffeln.
Über den gewissermaßen herausgekippten Suso wurde Milans Spiel im zweiten Drittel dann auch weitergetragen. Im Rückzug ging Inters erste Defensivlinie zunehmend in eine flache Anordnung aus drei Spielern über. Weil links Rafael Leão die Breite hielt, konnte Milan hinter der Halbraumposition des ballfernen gegnerischen Stürmers – und bei kleinräumigen Vorbereitungen um Suso gegen das herüber schiebende gegnerische Mittelfeld teilweise sogar neben den Sechsern – einige Male über Halbraumverlagerungen Raumgewinn erzeugen und nach vorne gelangen. Dort erhielten entweder Calhanoglu oder der enger vorstoßende Ricardo Rodríguez das Leder.
Meistens führten die Rossonieri nach solchen Szenen die Ballzirkulation fort, die offensiven Anschlussräume in jenem Bereich besetzten sie weniger aggressiv und wagten sich auch mit Dribblings selten dort hinein. Es sollte generell über den weiteren Verlauf der Partie ein Problem des Teams bleiben, dass sie zwischen den beiden Achterräumen wenig Interaktion hatten und oft einen Halbraum mit drei oder vier Spielern zu überladen versuchten, ohne dass selbst bei vorangegangenen Verlagerungen ein Akteur auch mal von der anderen Seite weiterführend mit integriert wurde.
Flachere Sturmreihe, herausschiebende Achter und offenerer Sechser
Je häufiger Suso sich bei eigenem Ballbesitz nach halbrechts zurückfallen ließ, um anzukurbeln, desto häufiger reihte er sich auch in der Defensivarbeit auf der rechten Offensivposition ein und desto stärker gestaltete sich die Formation schon direkt als 4-3-3(-0). Das führte ab dem zweiten Teil der ersten Halbzeit dazu, dass bei Inter die Halbverteidiger früher und etwas klarer zugestellt wurden. Um sich dagegen lösen zu können, kippten dafür Berella und Sensi ballnah häufiger seitlich in die Verbindung zwischen Halb- und Flügelverteidiger heraus.
Sie boten sich dort für diagonale Zuspiele an, nach denen sie von außen gegen den tiefen 4-3-Block hätten ankurbeln können. Zunehmend spielte Inter damit die eigenen Eröffnungen breiter an einem Flügel entlang, konnte oft noch einen zusätzlichen Offensivspieler überladend herüber ziehen, musste aber aufpassen, rechtzeitig auch wieder Querpasswege zurück in die Mitte zu finden: Da sie das gruppentaktisch recht gut machten, gelang es auch, solche Aktionen entsprechend zu bewerkstelligen.
Wenn sich derartige Möglichkeiten ergaben, nutzten sie das im Zuge ihrer guten Rückzirkulation. Gerade weil in diesem Zusammenhang die Rautentendenz beim Gegner geringer war und dessen erste Linie flacher gestaffelt stand, wurde es für Milan im defensiven Anschluss schwieriger, in solchen Situationen Brozovic im Zentrum aufzunehmen. Auch wenn Piatek einige Male noch gut zurückfiel und so einige Situationen stören konnte, kam so die Ballzirkulation Inters nochmal etwas besser zur Geltung.
Doppelte Flügelbesetzung radikalisiert die Zirkulation
In diesem Zusammenhang setzte Conte für die letzte Viertelstunde mit einer veränderten 5-4-1-Formation und dementsprechend zwei offensiven Außenspielern nochmals auf zusätzliche Breite. Verlagerungen wurden durch die doppelte Flügelbesetzung erleichtert, so dass Inter das Leder weiträumig laufen lassen konnte. Die Spieler nutzten Seitenwechsel auch geschickt aus und nicht in jeder Situation zur Tempoaufnahme, sondern verzögerten in passenden Momenten, ließen den Gegner nachschieben und spielten dann weit in die hinteren Formationslinien.
Die Verteidiger nutzten bei Bedarf andribbelnde Aktionen, um sich neu zu lösen, und die Doppel-Sechs bewegte sich passend in den Lücken zwischen Achtern, Stürmern und Zehner. Gerade dieser gegnerischen Tendenz zurück zur Raute, die wahrscheinlich Brozovic´ verbindende Position eindämmen sollte, wirkte die Umstellung auf 5-4-1 gut entgegen: Mit der doppelten Flügelbesetzung verbesserten sich die Anbindungen von den Außenpositionen auf die Halbverteidiger, die die zwei verbliebenen Milan-Angreifer ohne den tieferen Mittelstürmer weniger kontrollieren konnten und gegen deren Folgebewegungen sie bei eigenem Nachschieben auf Rückpässe leicht ins Leere zu laufen drohten.
Mit dem 5-4-1 tief verteidigen
Auch gegen den Ball bedeutete das 5-4-1 eine größere Veränderung. Schon zuvor hatte sich gelegentlich Lukaku halbrechts – speziell ballfern – bis etwa auf Höhe des Mittelfelds zurückfallen lassen, sich jedoch nicht ins Verschieben eingeordnet, sondern einfach den Raum gefüllt. Nun reihte Inter vor einer tatsächlich tiefen Fünferkette eine eng gestaffelte Mittelfeldreihe mit klaren Pendelbewegungen auf. Das kurze Vorschieben des ballnahen Spielers wurde insgesamt gut abgesichert, vor allem die offensiven Außenspieler orientierten sich sehr flexibel im Bereich der Halbräume, der spät eingewechselte Candreva etwa wirkte in der Positionsfindung und bei der Körperdrehung zum Ball mitunter wie der Defensivspezialist vom Dienst.
So erinnerte die tiefe 5-4-1-Ausrichtung im Verschieben und in der gegenseitigen Absicherung schon leise an die starken Phasen, die Conte in dieser Formation bei Chelsea gezeigt hatte. Im Vergleich zur Anfangsphase dieses Stadtduells unterstrich die letzte Viertelstunde die große strategische Bandbreite im aktuellen Repertoire. Zu jenem Zeitpunkt verteidigte Inter eine knappe Führung, die kurz nach der Pause im Anschluss an eine Ecke gefallen war, erhöhte aber kurz nach der 5-4-1-Umstellung auf 0:2 und konnte sich so noch stärker auf die tiefe Ausrichtung fokussieren.
Der Stadtrivale musste dagegen anspielen: Sehr viel ging bei den Mannen von Giampaolo von der neu besetzten halblinken Seite aus, wo Theo Hernández und der gelegentlich herauskippende Lucas Paquetá als Einwechselspieler ankurbelten, aber auch öfters zu vorschnellen Pässen in den Zwischenlinienraum neigten. Damit verpasste es Milan dann, den Gegner erst einmal zurück zu drängen. Bei diesen Eröffnungen über halblinks war zudem Kessie fast immer außerhalb des Blocks positioniert und so fehlte es an Präsenz in den Offensivzonen.
Dort förderten die vorbereitenden Anordnungen im Mittelfeldbereich die Orientierung der Angriffsspieler auf pendelnde Bewegungen durch den Zwischenlinienraum, den Inters 5-4-1 mit seiner engen Mittelfeldreihe aber gerade besonders gut verteidigen konnte. Wenn sich beispielsweise Biglia mal höher – im Bereich jener zweiten gegnerischen Linie – positionierte, wurde es für die Schwarz-Roten etwas vielversprechender. Mit Rebic kamen nach dessen Einwechslungen nochmal neue Ansätze und einige gute Bewegungen in kleine gegnerische Schwachstellen, die zumindest zwei Chancen einleiteten, letztlich änderte das aber nichts mehr am Ergebnis. So erreichte Conte seinen Top-Saisonstart.
1 Kommentar Alle anzeigen
August Bebel 24. September 2019 um 12:36
Schöne Analyse, danke dafür! Ich bin mal gespannt, was für Inter in dieser Ligasaison drin ist. In den letzten zwei Jahren hieß es auch schon öfters und gerade zu Saisonbeginn, jetzt könnten sie Juve angreifen, ohne dass am Ende was daraus wurde, aber mit Conte würde ich ihnen vielleicht wirklich mehr zutrauen, zumal mich Juve unter Sarri bislang trotz ordentlicher Ergebnisse noch nicht so recht überzeugt. Lazio ist da morgen noch mal ein guter Prüfstein.
Beim AC habe ich in diesem Spiel (wie auch schon oft unter Gattuso) das Problem gesehen, dass es schlicht an offensiver Präsenz mangelt und das Offensivspiel dadurch leicht ausrechenbar wird. Das wurde für meinen Geschmack mit Theo und Rebic schon mal etwas besser, da Rafael Leao vorher meistens breit stand und Rodriguez kaum aufrückte.
Zwei kleine Korrekturen: Inters Mittelfeldspieler heißt Barella, nicht Berella, und es sind die Rossoneri (mit nur einem „i“).