Türchen 11: Real Madrid – Eintracht Frankfurt 1960
Das Finale im European Cup von 1960 wird oft als bestes Spiel aller Zeiten bezeichnet. Das lag nicht nur am überirdischen Real Madrid, sondern auch am Außenseiter.
Weißes Ballett in der Blüte seines Schaffens
European Cup, 18. Mai 1960
Seit der Einführung des Wettbewerbs hatten die Madrilenen bis zum damaligen Zeitpunkt alle Ausgaben gewonnen und auch ein fünftes Mal sollte der Pokal in die spanische Hauptstadt wandern. In diesem Jahr war der Hampden Park von Glasgow mit einer Rekordkulisse für ein Finale von über 134000 Zuschauern der Ort des Endspiels zwischen Real Madrid und Eintracht Frankfurt.
Dessen Austragung stand aber zeitweilig auf der Kippe. Nicht der zuvor viel kritisierte unebene Rasen war das Problem, sondern die Teilnahme von Real-Angreifer Ferenc Puskás wurde zum Politikum. Der Ungar hatte nach dem WM-Finale 1954 behauptet, die deutsche Mannschaft wäre gedopt gewesen, woraufhin der Deutsche Fußballbund alle Vereine angewiesen hatte, keine Spiele mit Puskás‘ Beteiligung zu bestreiten. Der „Major“ entschuldigte sich vorm Finale schriftlich und damit war die Sache ausgeräumt.
Aus dem Weg räumte Real Madrid in dieser Saison auch einmal mehr die europäische Konkurrenz. Im Viertelfinale schalteten sie Nice aus, verloren jedoch sogar das Auswärtsspiel in Frankreich zunächst, ehe man mit einem 4:0 im Estadio Santiago Bernabéu das Weiterkommen klarmachte. Im Halbfinale setzten sich die Blancos derweil gegen den Erzfeind aus Barcelona in einem Gigantenduell mit insgesamt 6:2 und zwei Siegen durch. Eintracht Frankfurt zerstörte unterdessen die Träume der Glasgow Rangers von einem heimischen Finale. In der Runde der letzten Vier gewannen die Westdeutschen beeindruckend mit 6:1 und 6:3. Im Viertelfinale schaltete die Mannschaft von Trainer Paul Oßwald noch knapp den Wiener Sportclub aus.
Die Frankfurter gingen als klare Außenseiter in die Finalbegegnung. Die Dimensionen beider Klubs wurde beispielsweise anhand der Siegprämien deutlich. Jeder Real-Spieler erhielt für den Triumph im Finale umgerechnet 650 Britische Pfund – das Zehnfache von dem, was einer der Akteure der Eintracht hätte verdienen können. Zudem muss man sich vor Augen führen, dass Fußballer wie Mateos oder Didí nicht einmal in der Finalmannschaft standen.
Aufstellungen beider Teams
Der madrilenische Trainer Miguel Muñoz, der bei den Cup-Gewinnen von 1956, 1957 und 1958 noch selbst als Spieler mitwirkte, schickte ein Starensemble auf das Feld. Die Spanier traten im 3-2-1-4 an, was eine Abwandlung des 3-2-5 war, allerdings aufgrund der zurückfallenden Bewegungen von Alfredo Di Stéfano auch zum 3-2-2-3 werden konnte. Die pendelnde Rolle im Mittelfeld übernahm aber zunächst Luis del Sol, der hin und wieder bis in die Spitze vorstach.
Bei den Frankfurtern war es eine recht klare 3-2-2-3-Grundformation, die Oßwald spielen ließ. Von Beginn an waren die Westdeutschen defensiv eingestellt und schoben auch mit den Halbstürmern Dieter Lindner und Alfred Pfaff weit nach hinten. Des Weiteren setzte die Eintracht auf klare Zuordnungen in der Manndeckung, sodass ebenso im Mittelfeld gegnerische Spieler verfolgt wurden, was Real Madrid teilweise zum eigenen Vorteil nutzte. Besonders die einrückenden Bewegungen der beiden Flügelstürmer, Canário und Francisco Gento, öffneten neue Lücken in den offensiven Halbräumen und brachten die Zuordnung durcheinander.
Früher Sturmlauf der Hessen
Eintracht Frankfurt startete trotz der defensiven Ausrichtung keineswegs chancenlos in die Partie. Gleich in der ersten Spielminute gab es einen Lattentreffer von Linksaußen Erich Meier, der aus einer verunglückten Flanke resultierte. Oßwalds Team agierte zunächst flügelorientiert, was auch positive Aspekte im defensiven Umschaltspiel zur Folge hatte, weil sich die Madrilenen schwer taten, von den Flügeln ins Zentrum zu kombinieren. Zudem fand Di Stéfano nur langsam ins Spiel. In der Anfangsphase blieb der „Saeta Rubia“ mehrmals mit Dribblings hängen und seine öffnenden Außenristpässe fanden ihr Ziel nicht.
Die Eintracht hingegen kam gerade über die rechte Seite mit Pfaff und Flügelstürmer Richard Kreß in der achten sowie zehnten Minute zu Flügeldurchbrüchen. In der Arbeit gegen den Ball betrieben die Frankfurter einen hohen Aufwand, was vor allem an den langen Wegen der Außenstürmer deutlich wurde, die unablässig auf die Vorstöße von Madrids Außenverteidiger reagierten und die eigene Defensivabteilung unterstützten.
In der Anfangsphase der Begegnung agierten Puskás und Di Stéfano etwas zurückgezogener, wodurch man nach kleineren Verzögerungen Del Sol mit Steilpässen über halbrechts in die Spitze schickte. Die Frankfurter waren aus dem offenen Aufbau heraus weniger einfallsreich. Meist schlug Torhüter Egon Loy das Spielgerät direkt über 80 Meter – er profitierte im ersten Durchgang vom starken Rückenwind – in die Sturmspitze, wo Reals Abwehrchef José Santamaría gegen den umtriebigen Angreifer Erwin Stein ins Duell gehen musste.
Nach 18 Minuten und einer für Real typischen verhaltenen Anfangsphase gingen die Westdeutschen in Führung. Ein Ballverlust von Real im eigenen Drittel ermöglichte einen schnellen Umschaltangriff über Stein auf der rechten Seite. Die Hereingabe konnte Kreß vor dem argentinischen Torwart Rogelio Domínguez ins Gehäuse spitzeln.
Madrilenische Außenverteidiger in Sieben-Meilen-Stiefeln
Im Anschluss übernahm Madrid vollends die Kontrolle über die Partie. Sie dominierten die zweiten Bälle und die Offensivabteilung fand langsam ins Angriffsspiel. Der Ausgleich in der 27. Minute resultierte aus einem abgefangenen Befreiungsschlag. Anschließend verlagerten die Blancos nach rechts. Canário setzte sich im Dribbling unter anderem gegen Hermann Höfer durch. Die Flanke landete bei Torschütze Di Stéfano.
Auffällig war bei den Spaniern das intensive Aufrückverhalten der Außenverteidiger. Kurz vor dem Ausgleich tauchte Rechtsverteidiger Marquitos bei Di Stéfano im Zentrum auf. Die vorgeschobenen Defensivspieler hinterliefen ihre Vordermänner nicht, kreierten aber gerade im Falle von Marquitos gute Ablage- und Rückpassoptionen.
Nach einer halben Stunde hatte der Favorit die Partie vollends gedreht. Ein Schuss von Canário von halbrechts wurde von Loy nur nach vorn abgeklatscht. Di Stéfano verwandelte den zweiten Versuch. Die zunehmende Kontrolle im Mittelfeld, wodurch Frankfurt phasenweise keinen Weg mehr aus der Umklammerung fand, wurde dadurch ergänzt, dass die Eintracht-Spieler im offensiven Umschalten teilweise zu schnell steil in die Spitze sprinteten. Das Zentrum um Kapitän Hans Weilbächer wurde insofern zu längeren Bällen gezwungen.
Zudem spielte die Defensive mit einigen risikoreichen Herausrückbewegungen, zeigte aber situativ auch starkes Angriffspressing gegen Reals Kurzpass-Spielaufbau. So wurde beispielsweise Rechtsverteidiger Marquitos am eigenen Strafraum zugestellt und angelaufen. Im Deckungsverhalten gab es derweil Änderungen nach einer halben Stunde. Zentralverteidiger Hans-Walter Eigenbrodt verfolgte nicht mehr Di Stéfano, weil sich dieser zu stark ins Mittelfeld zurückfallen ließ. Dafür bewachte Eigenbrodt nun verstärkt Puskás.
Ein Nackenschlag für die Frankfurter war der dritte Gegentreffer in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Ein Abschlag wurde von Puskás direkt auf Del Sol verlängert. Kurz vor dem Tor konnte man den Spanier noch stoppen. Doch die Eintracht-Verteidiger verloren im eigenen Sechzehner die Kugel. Puskás ließ sich mit seinem linken Fuß nicht zweimal bitten.
Torreigen nimmt kein Ende
Nach der Pause machte die Partie dort weiter, wo sie zuvor aufgehört hatte. Die Frankfurter zogen sich zu stark im Kollektiv zurück, sodass die Angriffe ungefährlicher wurden. Stein pendelte als Mittelstürmer extrem vertikal und horizontal. Doch er musste meist zu lange den Ball halten, da lediglich Linksaußen Meier mit seinem Aufrückverhalten Risiko einging und damit nur schnelle Ablagen auf ihn möglich waren. Ansonsten blieb das offensive Umschaltspiel quasi unvollendet. Entweder man wurde zu früh beim Herausspielen gestoppt oder nach einer ansehnlichen Mittelfeldkombination, fehlte der letzte Pass im offensiven Drittel.
Oßwalds Mannschaft wollte unterdessen Di Stéfano nicht mehr derart stark zur Geltung kommen lassen, weshalb Weilbächer ihn verfolgte und bereits bei der Ballannahme hart attackierte, was jedoch Schiedsrichter Jack Mowatt immer wieder abpfiff.
Ab der 56. Minute nahm das Schicksal dann seinen Lauf. Zunächst wurde ein Foul an Gento für elfmeterwürdig befunden. Zuvor hatte Puskás den Flügelangreifer per Schnittstellenpass in den Strafraum geschickt. Puskás ließ sich die Möglichkeit dann nicht nehmen und glich im internen Duell mit Di Stéfano auf 2:2 aus. Kurz danach erhöhte er nochmals sein Torekonto. Nach einer Ecke der Eintracht kombinierten sich Gento und Del Sol aus dem linken Halbraum heraus. Gento wurde mit einem Steilpass geschickt und überlief Friedel Lutz. Die Flanke landete bei Puskás zum 5:1. Danach beruhigte sich die Partie kurzzeitig.
Wichtig für Madrids Überlegenheit war übrigens auch der unbesungene Mittelfeldstratege José María Vidal. Durch die Bewegungen von Del Sol und Di Stéfano hatte Vidal de facto keinen Gegenspieler und konnte das Loch im rechten Halbraum nutzen. Seine überladenden Vertikalvorstöße brachten Konfusion in den Deckungsverbund der Eintracht. Kapitän José María Zárraga hielt sich eher zurück und war mit seiner tieferen Positionierung halblinks die perfekte Rückpassoption für Vidal und Di Stéfano. Letzterer hielt sich jedoch nach einer gespielten Stunde vermehrt in der Spitze auf, ehe ab der 71. Minute ein neuerlicher Torreigen begann.
Zunächst erhöhte Puskás auf 6:1. Eine flache Flanke von rechts konnte der Angreifer ungedeckt annehmen und sich im gegnerischen Strafraum drehen. Wenige Augenblicke später verkürzte Frankfurt auf 6:2. Stein und Kreß brachten gegen die herausgerückte Abwehrreihe von Madrid eine Konterkombination hinter die Verteidigungslinie. Auf das Tor von Stein folgte aber sofort die Antwort von Di Stéfano per Fernschuss. Den Endstand besiegelte ein Fehlpass von Vidal im eigenen Strafraum. Eigentlich wollte Reals Nummer vier zum Torwart zurückspielen. Doch der Rückpass war zu kurz und wurde von Stein abgefangen.
In der Schlussphase zauberten die Spanier noch ein wenig. Gento schob vermehrt ins Sturmzentrum, während sich Puskás mehr Platz auf der linken Seite gönnte. Canário fiel vom rechten Flügel nach hinten, um sich an den Ballzirkulationen zu beteiligen. Schöne Verlagerungsbälle hier, eine Hackenablage da – das Publikum im Hampden Park, das Rekordpreise für die Plätze in diesem Stadion gezahlt hatte, erhob sich nach dem Schlusspfiff jubelnd und gleichzeitig in Ehrfurcht vor dieser Jahrhundertmannschaft.
Für die Geschichtsbücher
Man konnte sich nicht vorstellen, dass Real Madrid in den nächsten Jahren besiegbar wäre. Allerdings verloren die Blancos in der kommenden Saison bereits in der ersten Runde gegen Barcelona, an die sie 1960 auch schon aufgrund des schlechteren Torverhältnisses die spanische Meisterschaft abgeben mussten.
Puskás und Di Stéfano zeigten in diesem Endspiel noch einmal ihr ganzes Können. Die spanische Meisterschaft sollten sie noch mehrfach in Folge gewinnen. Doch in Europa blieb ihnen ein weiterer Triumph aufgrund zweier Finalniederlagen gegen die aufstrebenden Benfica und Internazionale verwehrt. Beim nächsten Gewinn des Henkelpotts 1966 standen von dieser Mannschaft nur noch Gento und Außenverteidiger Pachín auf dem Rasen.
Dass die Finalausgabe aus dem Jahr 1960 zu einem Fußballklassiker und womöglich zum besten Spiel aller Zeiten wurde, lag allerdings auch an Eintracht Frankfurt, für die das Ergebnis auf der Anzeigetafel eigentlich zu hart ausfiel. Denn Oßwalds Mannschaft zeigte mehrmals in diesem Endspiel, zu welchem Kombinationsspiel sie fähig war. Sicherlich hatte sie im Gesamtpaket bei Weitem nicht die individuelle Klasse von Real Madrid und ihr simples Manndeckungssystem war manchmal zu leicht zu durchschauen, doch zu dieser Jahrhundertpartie gehörte auch ein guter Gegner für das Weiße Ballett.
7 Kommentare Alle anzeigen
JLS 11. Dezember 2016 um 17:21
Ist dir was zu Hermann Höfer aufgefallen?
CE 12. Dezember 2016 um 00:55
Nicht wirklich. Er stach weder negativ noch positiv heraus.
Schorsch 11. Dezember 2016 um 10:48
Kann der 3. Advent besser beginnen? Kaum!
Vielen Dank an CE für die Analyse dieses legendären Spiels! Das ‚Weiße Ballett‘ ist unsterblich, aber damit ein solches Spiel zur Legende werden kann, braucht es einen würdigen Gegner. Das hat CE absolut richtig herausgestellt. Die Eintracht, Deutscher Meister 1959, hatte letztlich keine Chance auf den Sieg, aber sie war dieser würdige Gegner!
CE spricht vom ‚unbesungenen‘ Mittelfeldstrategen Vidal auf seiten Reals. Schaut man sich die Mannschaft der SGE an, so wird man auch so einige feine Fußballer entdecken, die leider heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten sind außerhalb des Umfelds der Frankfurter Eintracht. An ‚Don Alfredo‘ Pfaff erinnert man sich vielleicht noch, aber von den anderen ist (zu Unrecht, wie ich meine) kaum jemand im Fußballgedächtnis geblieben. Was auch leider für Trainer Paul Oßwald gilt. Er und nicht wenige der Akteure aus dem Finale in Glasgow waren mit der Eintracht dann auch in der Bundesliga aktiv.
Für das ‚weiße Ballett‘ war dieses Finale der letzte Höhepunkt, bevor es -wie von CE beschrieben- von anderen Teams wie Benfica, Inter, Milan und später anderen als Spitzenteam abgelöst wurde. Die 66er Elf war (bis auf die beschriebenen 2 Ausnahmen) eine gänzlich andere und trug auch eine andere Handschrift. Sie konnte auch nie den Zauber des Teams um Di Stéfano und Puskás erreichen.
Aus Frankfurter Sicht war es wohl die beste Elf aller Zeiten. Trotz der UEFA-Cupsieger, trotz der Elf um Weltmeister Grabowski und Hölzenbein, die unter Gyula Lóránt in den 70ern einen phantastischen Fußball (Raumdeckung!) spielten. Anfang der 90er hatte man die Chance, es den Altvorderen gleichzutun. Wie die Chance genutzt wurde, ist bekannt…
Nochmals vielen Dank an CE!
CE 11. Dezember 2016 um 11:08
Da Du gerade die darauffolgenden Jahre erwähnst. Wir haben im Archiv noch ein paar weitere Analysen.
Finale 1962: https://spielverlagerung.de/2015/11/23/benfica-kroente-sich-zum-neuen-koenig-europas/
Finale 1964: https://spielverlagerung.de/2015/11/26/grande-inter-zeigt-defensive-brillanz-im-finale-von-wien/
Finale 1966: https://spielverlagerung.de/2015/11/24/die-blancos-gewinnen-letztmalig-ihren-pokal/
Schorsch 11. Dezember 2016 um 13:18
Jetzt brat mir doch einer einen Storch! Habe ich diese Retroanalysen verpasst? Das sind ja echte Perlen! Sowohl was die Spiele selbst, aber auch die Analysen anbelangt! Da sind so einige meiner ‚Fußballheroen‘ dabei. Coluna, Eusébio, Facchetti, Mazzola, Suárez (Miramontes), und noch einige andere. Klasse! Vielen Dank!
Vielen Dank dafür, diese Spiele analysen
CE 12. Dezember 2016 um 00:54
Freut mich, dass Dir die Analysen gefallen. Die habe ich von meinem einstigen persönlichen Blog ins hiesige Archiv transferiert.
H3rby 14. Dezember 2016 um 18:03
Wow, vielen Dank für die Links, dein Blog scheint ja eine wahre Schatzgrube zu sein!