Julian Nagelsmanns Start bei 1899 Hoffenheim
In den sieben Spielen seit seinem Amtsantritt holten die Hoffenheimer 13 Punkte. In den letzten sechs Partien gab es vier Siege; doppelt so viele wie in den zwanzig Spieltagen davor. Was hat Nagelsmann verändert? Wie lässt er spielen und ist dies nur ein vorübergehender Höhenflug?
Eigentlich hätte Julian Nagelsmann erst ab der nächsten Saison übernehmen sollen. Mit Huub Stevens wollte Hoffenheim den Klassenerhalt schaffen und daraufhin Nagelsmann den Job übertragen. Ein ganzer Sommer zur Vorbereitung und eine neue, frische Aufgabe ohne den Druck eines unmittelbar drohenden Abstiegs sollte dem erst 28jährigen Coach eine einfachere Aufgabe ermöglichen. Stattdessen musste Nagelsmann im Februar von Stevens übernehmen, der aus privaten Gründen nicht mehr weitermachen konnte. Eine denkbar schlechte Ausgangsstellung: Keine Wintervorbereitung, nicht mehr viele Spiele zur Rettung und keine Möglichkeit für eigene Transfers. Doch Nagelsmann enttäuschte nicht.
Vielversprechender Beginn in Bremen
Direkt bei seinem ersten Spiel stellte Nagelsmann eine überraschende Formation mit interessanter Personalwahl aufs Feld. Erstmals spielten die Hoffenheimer mit drei Innenverteidigern. Bicakcic und Süle bildeten mit Schär im Zentrum die erste Linie. Strobl gab den Sechser davor, Rudy und Amiri liefen als Achter auf. Ochs und Volland besetzten die Flügelverteidigerpositionen, Vargas und Kramaric spielten ganz vorne.
Schon im Aufbauspiel waren klare Änderungen zu sehen. Es gab bereits Ansätze eines positionsspielähnlichen Systems zu sehen. Die Abstände zwischen den Verteidigern in der ersten Linie wirkten zum Beispiel schon klar einstudiert. Der Innenverteidiger befand sich häufig ein bisschen tiefer als die Halbverteidiger, welche relativ breit auffächerten. Sie standen allerdings nicht am Flügel, sondern an den äußeren Kanten der Halbräume. Vermutete Ursache: Verbindung in die Mitte aufrechterhalten und nach Ballverlusten gut abgesichert sein. Dadurch konnten sie direkt eine Raute für das Passspiel mit dem Sechser, dem Achter auf dieser Seite und dem Flügelverteidiger bilden.
Der Sechser wiederum blieb konstant auf seiner Position im Sechserraum und positionierte sich vor den beiden Zehnern Bremens, aber hinter deren Stürmer. Die Werderaner liefen nämlich im 4-3-2-1 auf. Viele Sechser wären hier weit aus ihrer Zone gegangen, um den Ball zu fordern, doch Strobl blieb konstant in der Mitte, kippte nicht ab und versuchte durch seine Position Räume zu öffnen und bestimmte Bewegungen Werders im Pressing zu vermeiden.
Am wichtigsten war hierbei wohl die enorme Besetzung der Halbräume. Rudy und Amiri besetzten in den höheren Zonen die Halbräume, ebenso wie die zwei Mittelstürmer in der letzten Linie. Allerdings war es keineswegs statisch. Die Mittelstürmer konnten sich gelegentlich zurückfallen lassen oder auf die Seite bewegen. Die Achter besetzten bei Bedarf – insbesondere nach Durchbrüchen ins letzte Drittel – das Sturmzentrum, während die Flügelverteidiger zwischen einer sich anbietenden Position nahe der Dreierreihe im Aufbau und einer sehr hohen Position in der letzten Linie pendelten.
Werders 4-3-2-1 hatte darum große Zugriffsprobleme. Die Außenverteidiger mussten entweder weit herausrücken und Hoffenheims Flügelverteidiger zustellen oder die Viererkette Werders befand sich in einer Linie gegen vier Spieler Hoffenheims vor, ohne Druck auf den Flügeln ausüben zu können. Der Führungstreffer kam allerdings nach einer Balleroberung.
Anfangs hatte Hoffenheim eine 5-1-2-2-Staffelung, wodurch sie mit den beiden Stürmern sofort Abstöße zustellen und generell viel Druck auf die Innenverteidiger aufbauen konnten. In ein paar Situationen positionierten sie sich zwischen Außen- und Innenverteidigern, um beide gegnerische Positionen bei Bedarf zuzustellen. Die Flügelverteidiger konnten sich auch aus der Kette lösen und in der Mittelfeldlinie pressen, insbesondere natürlich auf der ballnahen Seite. Die Achter wiederum waren frei auf den Seiten zu unterstützen oder den Stürmern zu helfen, speziell bei versuchten Pässen Werders direkt in den Sechserraum.
Das Tor fiel aber nach einer sehr frühen Anpassung; schon in Minute 10 war es eine 5-2-1-2/5-2-3-Formation, die zur Balleroberung führte. Der offene Außenverteidiger Bremens wurde vom Flügelverteidiger Hoffenheims angelaufen und hatte eine vermeintlich offene Passoption in der Mitte. Diese wurde jedoch vom ballnahen Sechser und den zwei ballnahen Spielern der vorderen Reihe sofort attackiert und führte zum erfolgreichen Konter. Den Ausgleich zum 1:1 gab es wenige Minuten später nach einer Ecke.
Dies sollte der Endstand bleiben. Hoffenheim hatte mehr vom Spiel, konnte aber kein Tor mehr erzielen. Auch Nagelsmann weitere Umstellungen fruchteten diesbezüglich nicht; so spielten die Flügelverteidiger später asymmetrisch ohne Ball (Volland höher, Ochs tiefer) und eine Umstellung auf eine Art 4-4-1-1 hielt wegen der gelb-roten Karte Kramarics nur kurze Zeit. Danach brachte Hoffenheim das Unentschieden mit einem 4-4-1 noch über die Zeit; ein gelungener, wenn auch suboptimaler Start für Nagelsmann bei seinem Debüt.
Erster Sieg gegen Mainz
Im nächsten Spiel sollten die Hoffenheimer – und Nagelsmann – den Sieg allerdings erringen. Wenig überraschend stellte Nagelsmann um und wählte ein anderes System. Rein formativ war es ein 4-3-3/4-1-2-3; also eine seltene, aber keine allzu unorthodoxe Formation. Die Bewegungen darin waren jedoch überaus interessant und in dieser Form eine Rarität.
Nominell positionierten sich die Flügelstürmer etwas breiter. Man wollte hierbei wohl Zugriff auf die Außenverteidiger behalten und die Passoption zwischen Innen- und Außenverteidiger versperren. Die beiden Achter Hoffenheims agierten in den Schnittstellen dahinter und hatten dadurch Zugriff auf den Sechserraum der Mainzer. Der Sechser vor der Abwehr sicherte ab, was überaus wichtig war – er ermöglichte die Flexibilität dieser Ausrichtung.
Hoffenheim verschob nämlich nicht nur in diesem 4-1-2-3, sondern stellte viele unterschiedliche Staffelungen her. Bei langen Bällen Mainz‘ auf die Flügel war es je nach Höhe entweder der Außenverteidiger oder der Achter, der herausrückte. Weil die Mainzer aber meistens die eigenen Außenverteidiger dort anspielten und die Flügelstürmer nach vorne schoben, mussten die Achter lange Wege zur Seite machen. Schafften sie das rechtzeitig, war das Pressing aber effektiv. Die Viererkette Hoffenheims stellte die Wege in die Tiefe zu, der Sechser sicherte den Achter ab und die Angriffslinie bewegte sich nach hinten, um Passwege in die Mitte zu versperren bzw. auf dem ballnahen Flügel zu pressen.
Hoffenheim hatte aber einige Mannorientierungen, welche diese Ausrichtung verzerrten. So konnten die Achter herausrücken und stellten teilweise 4-2-4-0hafte Formationen her. Die Flügelstürmer wiederum konnten sich zurückfallen lassen und es gab Staffelungen, die am ehesten an 4-1-4-1-Formationen erinnerten. Diese Flexibilität erklärt auch das Zitat Nagelsmanns:
„Ich gebe meinen Spielern Muster an die Hand, die in jeder Grundordnung sowie jeder Spielform gelten. Wichtig ist, dass meine Spieler die Prinzipien, die wir haben, am Wochenende gut auf den Rasen bekommen. Und die dann auf den jeweiligen Gegner passend schalten. So sind wir schwieriger ausrechenbar.“ (im Gespräch mit der Homepage des DFB)
Die Formation dient lediglich als Werkzeug zum Umsetzen dieser Grundprinzipien; und die Bewegungen innerhalb der Formation sind Folge der Grundprinzipien, nicht der Formation als solcher. Die interessanten Bewegungen ohne Ball bei Hoffenheim lagen also viel eher an bestimmten Aufgaben, welche an Zonen, Mitspieler- oder Gegenspielerbewegungen gekoppelt waren.
Ein Beispiel war die Bewegung des Mittelstürmers: Bewegten sich die Flügelstürmer beide nach vorne, um Druck herzustellen, weil sie am schnellsten Zugriff erzeugen zu können, ließ er sich zurückfallen, um die Mitte zu besetzen; es entstanden rautenähnliche Formationen. Die Achter wiederum waren dadurch freier, um zur Seite zu gehen und die Bewegungen der Flügelstürmer abzusichern.
Dies funktionierte relativ gut, auch wenn sich die Mainzer einige Male durchwühlen oder die offenen Flügelräume anvisieren, um überfallartig – wenn auch nicht erfolgsstabil – in die Mitte zu kommen. Das Spiel mit Ball war bei Hoffenheim wiederum brachialer angelegt.
Die Außenstürmer standen häufig sehr breit, auch auf der ballfernen Seite. Das Ziel war wohl das Öffnen der Schnittstellen in der Viererkette Mainz‘ sowie das Auflösen der Kompaktheit generell. Dies wurde mit einrückenden Bewegungen bei oder kurz vor Ballannahmen garniert, woraufhin die Außenverteidiger aggressiv hinterliefen. Im Verbund mit diesen Flügeldurchbrüchen gab es einige zurückfallende Bewegungen des Mittelstürmers und Vorstöße der Achter sowie Abkippen des Sechsers.
Dadurch entstanden aber einige Probleme in der Ballzirkulation im Mittelfeld und in der Kontrolle der Konter. Nach einem Ballverlust konnte Mainz schnell einen Konter über zwei Pässe vom eigenen bis zum gegn. Strafraum durchbringen, der zur Führung führte. Direkt danach fiel aber der Ausgleich der Hoffenheimer über eine Balleroberung im Mittelfeld, eine schnelle Verlagerung auf die andere Seite, wo die offene Seite sofort mit einem Pass in die Tiefe von Ochs auf Volland ausgenutzt wurde.
Letztlich entwickelte sich ein relativ ausgeglichenes Spiel, in welchem die Hoffenheimer Probleme unter höherem, aggressiverem Druck und in der Kontrolle der gegnerischen Konter zeigten. Ein Standard führte zum 2:1 und das darauffolgende 3:1 sollte letztlich trotz Mainzer Anschlusstreffer zum knappen Sieg reichen.
Niederlage gegen den Mentor
Dieses Spiel wurde von Constantin Eckner gesondert analysiert.
Auf Englisch gibt es eine Analyse von Tom Payne zu dieser Partie.
Wichtige Punkte gegen Augsburg
Den nächsten Sieg holten sich die Hoffenheimer im „sechs-Punkte-Spiel“ gegen den FC Augsburg. Die Hoffenheimer benötigten hier einen Sieg, um den Anschluss an die Nichtabstiegsplätze endgültig herzustellen, die Weinzierl-Elf wiederum gerät dadurch langsam, aber sicher wieder in den Abstiegsstrudel. Nagelsmann wählte für diese Partie wieder eine Ausrichtung wie im Spiel gegen Mainz. Das 4-1-2-3 aus diesem Spiel wurde abermals genutzt, wirkte allerdings etwas verbessert und sogar marginal verändert.
Ein besonderer Punkt, der sich verbessert hat und auch die Kompetenz des Trainers impliziert, ist das Timing im Zugriffsverhalten. Dies ist eine potenziell spielentscheidende Feinheit, weil sie so oft vorkommt und in so vielen Situationen den Unterschied machen kann, der wiederum über die darauffolgenden Situationen entscheidet.
Hier zeigten die Nagelsmann-Hoffenheimer schon ansatzweise eine der Eigenheiten, welche die Nagelsmann-Jugendmeistermannschaft auszeichnete (hierzu wird bald bei Konzeptfußball eine Betrachtung erscheinen). Teilweise kreierte man mit nur leichter, passiver Bewegung vorteilhafte Situationen, wo man dann aggressiv Zugriff herstellte und fast schon mit einer überraschenden Plötzlichkeit für Intensität sorgte.
Diese Situationen gab es z.B. einige Male nach Flügelpässen der Augsburger. Hoffenheim positionierte sich erst passiv in Ballnähe, bevor der nächste Pass dann enorm aggressiv angelaufen und attackiert wurde. Auch das Gegenpressing und die Absicherung der eigenen Angriffe zeigten sich etwas verbessert. Die Lücken zwischen der ersten und den darauffolgenden Linien bei höheren Angriffen waren geringer und wurden besser verschlossen.
Das 4-1-2-3/4-1-4-1 selbst hatte sich auch verändert. Es gab mehr Situationen mit einer Viererlinie hinter einem Stürmer und vor dem Sechser, ergo waren die Achter öfter auf einer Linie mit den Flügelstürmern. Dennoch gab es wieder die üblichen, vielen herausrückenden Bewegungen; die Flügelstürmer konnten diagonal auf die Innenverteidiger gehen, ebenso wie die Achter neben den Stürmer herausrücken oder mannorientiert einen Gegenspieler im Zentrum verfolgen konnten. Zwei Sachen waren im organisierten Bewegungswahn der Hoffenheimer am interessantesten.
Teilweise gab es eine Abschrägung der Viererlinie, wo sich ein Flügelstürmer weit nach vorne bewegte, der Achter leicht mitschob und der ballferne Flügelstürmer sich zurückfallen ließ. Erhöhte sich der Flügelstürmer ballfern, war es vermutlich ein Weg, um den Gegner aufrücken zu lassen und schnell und aggressiv kontern zu können. Erhöhte sich der Flügelstürmer ballnah, wollte man wohl in Ballnähe aggressiv pressen, aber auf der anderen Seite schon Absicherungsmechanismen ermöglichen.
Einige Male entstand dadurch ein 4-3-2-1 mit einem Achter und einem Flügelstürmer in höheren Zonen. Interessant war auch das flexible Zurückfallen flexibel eines Außenstürmers hinter einen weit herausrückenden Achter. Der Flügelstürmer bewegte sich dann zuerst zurück und ging in die Mitte, um den Sechser in diesen Zonen zu unterstützen. Die Mitte wurde verdichtet, der Halbraum besetzt und bei Pässen auf den Flügel konnte man dynamisch herausrücken, während der Achter wieder zurückkam.
In Ballbesitz gab es einmal mehr viele Diagonalbälle und Halbraumkombinationen zu sehen, die Aufbauformation war durch ein konstanteres Abkippen des Sechsers häufig ein 3-4-3. Allerdings gab es hier eine asymmetrische Staffelung der Doppelacht zu beobachten, wo sich einer immer wieder nach vorne bewegte und höhere Zonen besetzte. Trotz einer an sich guten Leistung wurde nach dem:1-Ausgleich Augsburgs zur Pause umgestellt: Auf ein 3-4-1-2. Dies erinnerte an die Ausrichtung aus dem Spiel gegen Bremen; auch ohne Ball wurde im 3-4-1-2 bzw. 5-2-1-2/5-2-3 gepresst.
Wichtig waren die Veränderungen aber besonders für das Spiel in Ballbesitz. Die Mittelstürmer besetzten die Räume zwischen gegnerischen Außen- und Innenverteidiger, wodurch sie diese zurückdrängen konnten. Dazu hatten die Flügelverteidiger konstant eine gute Höhe; sie konnten nicht von den Außenverteidigern übernommen werden, zogen die gegnerischen Flügelstürmer mit und konnten sich in freien Räumen anspielbar machen. Der Zehner im 3-4-1-2 pendelte zwischen einer Position im Zehnerraum und einer Position auf halbrechts. Die Sechser reagierten gut darauf, bewegten sich dementsprechend und stellten ein 1-2 im Mittelfeld flexibel her. Ein Tor durch Uth nach einem Flügelangriff und einer Flanke des ausgewichenen Kramaric führte zum Sieg.
Ausgekontert in Stuttgart
Dieses Spiel wurde von Tim Rieke gesondert analysiert.
Überraschungserfolg gegen Heckings Wölfe
Nach der herben Niederlage in Stuttgart gab es für Hoffenheim gegen Wolfsburg wieder einen Sieg. Gegen den EL-Kandidaten und letztjährigen Vizemeister gingen die Hoffenheimer früh in Führung. Hierbei war es ein schneller Konter, welcher schon in der dritten Minute zum 1:0-Endtstand reichte. Die Ausrichtung in diesem Spiel erinnerte wieder an die erste Halbzeit gegen Augsburg zehn Tage zuvor, wenn auch wieder mit einer obligatorischen Adaption.
Gegen Augsburg hatte das 4-1-4-1/4-1-2-3 im Vergleich zur Partie gegen Mainz mehr Staffelungen im 4-1-4-1 gehabt sowie andere Abläufe im Pressing geschaffen. In der Wolfsburg-Partie war es wiederum nun häufiger ein 4-2-3-1, welches aus dem nominellen 4-1-4-1 geschaffen wurde. Vargas als eigentlicher rechter Achter schob immer wieder nach vorne und besetzte den Zehnerraum. Ursache dafür waren die Mannorientierungen.
Vargas orientierte sich am gegnerischen Sechser, die beiden Sechser wiederum an den Achtern Wolfsburgs. Allerdings orientierte sich Vargas nicht nur strikt an Gustavo, sondern besetzte teilweise lediglich den gegnerischen Sechserraum – so entstanden ein paar Mal mithilfe des tieferen Mittelstürmers auch 4-2-4-0-Formationen, gegen die Wolfsburg keine wirkliche Lösung fand und meistens auf die Seite zirkulieren musste.
Dieses 4-1-4-1/4-2-3-1 war also wie die vorherigen Systeme ausgesprochen flexibel und auf Kontrolle der zentralen und Halbräume ausgelegt. So lauerte der ballferne Flügelstürmer häufiger in zentralen Räumen auf eine unsaubere Verlagerung, eine Pressingmöglichkeit vor ihm oder eine Umschaltmöglichkeit, wenn der Ball erobert wurde. Der ballnahe Flügelstürmer orientierte sich am gegnerischen Außenverteidiger und ließ sich meist zurückfallen, während der Mittelstürmer die Passwege des Ballführenden zustellen versuchte.
Diese Spielweise ohne Ball sorgte für große Probleme bei Wolfsburg. Die Einbindung der zentralen Räume war kaum möglich, die Zwischenlinienräume wurden von Hoffenheim durch die Mannorientierung und schnelles Bewegungsspiel gut besetzt. Wolfsburg hatte kaum Präsenz, ging immer wieder auf die Flügel, wo sie isoliert wurden, und schloss meist unter Bedrängnis ab.
Hoffenheim hatte allerdings selbst kaum noch überzeugende Angriffe. Im Gegensatz zu der Mehrzahl der Spiele unter Nagelsmann überließ man nun – in Anbetracht der individuellen Stärke Wolfsburgs und der eigenen Führung – den Ball weitestgehend dem Gegner, die meisten Attacken waren Konterangriffe. Nach der Halbzeit wurde das 4-2-3-1/4-1-4-1 etwas simpler angelegt, die Flügelstürmer zogen sich zurück und agierten etwas konstanter auf ihren Positionen, wodurch viele 4-4-1-1hafte-Staffelungen entstanden.
Später ging Nagelsmanns Team zu einem 4-1-4-1/4-5-1 über, welches durch die Einwechslungen Ochs‘ für Vargas (55.) und Canouses für Schär (67.) entstand. Diese kompaktere Formation mit mehr Breitenstaffelung in der Mittelfeldreihe half Hoffenheim dabei den Sieg vergleichsweise souverän über die Zeit zu bringen.
Dabei war in dieser Partie durchaus beeindruckend, wie konstant die Hoffenheim-Elf stabil verteidigen konnte. Dies war sogar unter dem defensivorientierten und mit dieser Spielweise historisch durchaus „achtungserfolgreichen“ Huub Stevens nicht immer der Fall gewesen. Eine talentierte Mannschaft aus höheren Tabellenregionen hatten die unterschiedlichen Nagelsmann-Formationen in dieser Partie weitestgehend in Griff, verschlossen die Räume sehr gut, auch wenn man nicht in allen Situationen griffig war.
So sind die Flügel in allen Nagelsmann-Systemen bisher etwas anfällig für schnelle Durchbrüche, obgleich die 4-5-1-Ausrichtung in diesem und die 5-4-1-Formation aus dem nächsten Spiel natürlich diese Schwäche minimierten bzw. zuungunsten anderer Vorzüge gänzlich verschwinden ließen. Auch die Kompaktheit ist noch nicht auf Topniveau – wenn auch schon als stark und ausreichend anzusehen. Auffällig ist jedoch, wie gut die Spieler mittlerweile schon auf diese leichten Probleme in den Abständen im Spiel ohne Ball reagieren, wie schnell herausgerückt und für den herausgerückten Spieler auch abgesichert wird. Letzteres ist noch nicht so konstant und sauber wie ersteres, entwickelt sich aber wie so vieles unter Nagelsmann in die richtige Richtung.
Dominanz in der Hansestadt
Mit dem zweiten Sieg in Folge – das erste Mal in dieser Bundesligasaison für Hoffenheim – gelang Hoffenheim die nächste Überraschung. Gegen den Hamburger SV gewann man nun sogar auswärts relativ souverän und überzeugend mit 3:1. Abermals wurde ein 4-1-4-1 genutzt, welches aber einmal mehr angepasst wurde. Teilweise war es ein 4-1-2-2-1 mit etwas breiteren Flügelstürmern, welche situativ die gegnerische Abwehrlinie attackieren oder sich zurückfallen lassen konnten. Dazu gab es eine leichte Asymmetrie zwischen den Außenstürmern und Achtern.
Uth auf der rechten Seite ließ sich häufiger und früher zurückfallen, Amiri wiederum als rechter Achter schob immer wieder etwas nach vorne. Auf links hielt sich Rudy als Achter tiefer und Volland hatte ein paar herausrückende Läufe im Pressing. Daraus entstanden dann auch viele verschiedene 4-4-2-Staffelungen. Somit gab es ein typisches Leiten auf den Flügel mit vielen Isolationen oder aggressivere Pressingsituationen im Zentrum. Die Kompaktheit zwischen den Mannschaftsteilen war nicht optimal, doch durch gutes Herausrücken und zurückfallen der vorderen Linien sowie die Mannorientierungen konnte man das gut balancieren. Nach der Führung wurde wiederum ein konstanteres 4-5-1/4-1-4-1 wie in der vorhergehenden Partie kreiert, auch wenn es nach wie vor aggressivere Herausrückbewegungen der Außenstürmer gab – wenn auch konstant auf die tieferen Außenverteidiger Hamburgs. Mithilfe dessen konnte man die Angriffe des HSVs besser kontrollieren und insbesondere auf den Flügelzonen – wo die Pressingaktionen teilweise etwas unsauber waren – verbesserte sich dadurch das Zugriffsverhalten.
Am auffälligsten war aber die weitere fortschreitende Entwicklung des Ballbesitzspiels. Auch, wenn man sich nach der Führung wieder stärker auf das Konterspiel mit weniger fokussiertem Spielaufbau fokussierte, so zeigte man anfangs durchaus wieder leichte Veränderungen positiver Natur beim Spiel mit Ball.
Im 4-1-2-3 rückten die Flügelstürmer wieder zwischen Innen- und Außenstürmer ein, Kramaric als Mittelstürmer ließ sich immer wieder zurückfallen und nahm grundsätzlich schon eine leicht tiefere Stellung im Zwischenlinienraum ein. Dazu kamen einige dynamische Zurückfallbewegungen für Ablagen und Drehungen der eingerückten Flügelstürmer, welche dann auf einer Linie mit Kramaric agierten oder dieser wieder nach vorne ging, während die Achter die offenen Räume besetzten; ob den Zehnerraum oder diagonal in Richtung Flügel. Auch Läufe in Richtung Sturmzentrum gab es von den nominellen Mittelfeldspielern zu sehen, ebenso wie das Abkippen des Sechsers wieder situativ vorkam.
Ansatzweise geht diese Spielweise bereits in Richtung des Guardiola- und Tuchel-Ballbesitz-Positionsspiels, in welchem über das Einnehmen bestimmter Positionen ein Grundgerüst für bestimmte Aktionen und Reaktionen geschaffen wird. Die Abstände in Ballbesitz bei der Nagelsmann-Elf waren einmal mehr gut bis sehr gut, desweiteren zeichnen sich bereits einige konstante Bewegungsmuster auf unterschiedlichen Positionsverbindungen ebenso ab wie gewisse Fokussierungen auf Zonen. Für die Hoffenheimer ist dies insbesondere langfristig vielversprechende und wünschenswerte Entwicklung.
Nach den Führungen konzentrierte man sich aber natürlich wie erwartet wieder mehr auf das Umschaltspiel; und dies keineswegs schlecht. In der zweiten Halbzeit konnten die Hoffenheimer abermals einen Konter zum 1:3 durchbringen, wo nicht nur die Dynamik im Umschaltspiel und die gute Spielereinbindung auffällig war, sondern auch das schnelle Wechseln von Zonen, um konstruktiv möglichen Gegenpressingsituationen des Gegners zu entgehen und eine gute Raumnutzung im Konterspiel zu ermöglichen.
Außerdem stellte Nagelsmann einmal mehr passend um. Aus dem 4-1-2-3 wurde eine simplere Variante davon, bevor man später ohne Ball ins 4-2-3-1artige überging. In der Endphase wurde wiederum auf ein 5-4-1 ohne Ball umgestellt, welches dem HSV die Angriffsmöglichkeiten raubte und Hoffenheim ein verändertes Umschaltspiel, fokussierter auf das Halten des Balles, erlaubte.
Fazit
Schon jetzt kann man eines feststellen: Die Verpflichtung Julian Nagelsmanns war nicht nur ein Gewinn für 1899 Hoffenheim, sondern für die gesamte Bundesliga. Innerhalb der Redaktion wird er eigentlich durchgehend positiv gesehen. Die großen Innovationen oder verrückten Ideen, die man sich fantastisch gewünscht hatte, gab es natürlich nicht. In Anbetracht der Umstände hat Nagelsmann aber aus einer externen Perspektive mehr oder weniger das Optimum herausholen können.
Das Team spielt anders, die einzelnen Akteure werden besser, passender eingebunden und sogar die Ergebnisse stimmen. Dies gelang dem Trainertalent bereits in kurzer Zeit; ein Abstieg wäre insofern nicht nur schade, er erscheint aktuell auch äußert unwahrscheinlich. Viel eher wirkt es, als ob die Hoffenheimer dieses Jahr mehr oder weniger souverän die Abstiegsplätze in den nächsten Wochen verlassen sollten und in den nächsten Jahren unter Nagelsmanns Ägide womöglich für die eine oder andere Überraschung sorgen könnten.
9 Kommentare Alle anzeigen
Benjamin 23. Februar 2017 um 08:09
Bin durch Zufall auf eure Seite gestoßen und muss sagen, Top Artikel und sehr verständlich rüber gebracht. Einen neuen Fan habt ihr. Werde mir da einiges für den Eigenbedarf abkupfern „müssen“
Koom 23. März 2016 um 09:29
Einen guten Start mit guten Ideen hat er auf jeden Fall hingelegt. Gespannt sein darf man vermutlich auf die mittelfristigen Leistungen seiner Mannschaft, ob er sich abnutzt oder die Mannschaft auch nach der ersten Kennenlern- und Erfolgsphase erreicht und motivieren kann.
Da wird dann auch letztlich Scouting und Verpflichtungen dann eine Rolle spielen. Gisdol war ja auch kein schlechter, aber wenn die Mannschaft nicht aufnahmefähig bleibt…
felixander 23. März 2016 um 10:04
Meinst du, das Thema „abnutzen“ ist bei einem solchen Trainer relevanter als bei den Schleifern alter Schule? Ich finde, die taktisch eher anspruchsvollen Trainer können doch viel besser immer wieder neue Impulse setzen und machen den einzelnen Spieler tatsächlich stets besser. Eine ganz andere Art der Menschenführung, dem Spieler Aufgaben an die Hand zu geben, die seinem Level entsprechen, anstatt ihn irgendwie extrinsisch motivieren zu wollen.
@RM: danke, sehr guter Artikel!
Koom 23. März 2016 um 10:39
Nein, das Thema „abnutzen“ ist bei allen ziemlich gleich. Es gibt natürlich Trainer, die damit besser oder schlechter umgehen können, also wo sich dieser Abnutzungseffekt relativ schnell einstellt oder die ewig einen Verein trainieren können. Ferguson bspw. dürfte ein Paradebeispiel dafür sein.
Persönlich denke ich auch, dass „moderne“ Trainer mehr Möglichkeiten haben, aber wie schon gesagt: Die Kadergestaltung spielt da eine gewichtige Rolle. Und solche Trainer können vielleicht auch selbst mal schneller ausbrennen, aus verschiedenen Gründen.
felixander 23. März 2016 um 11:21
So wie ich es verstanden habe, war Ferguson ein genialer Delegierer und Manager. Daher auch seine Variabilität über die Jahre und vermutlich ein geringerer Abnutzungseffekt. Pep dagegen scheint so ziemlich das Gegenteil zu sein, kümmert sich um jedes Detail und reibt sich dabei vermutlich irgendwann auf.
Ich denke, da sollte generell im Trainergeschäft mehr drüber nachgedacht werden: Woher kommen die Abnutzungserscheinungen? Und: Wie kann man verhindern, dass die Trainer selber irgendwann überdrehen/ausbrennen?
Führungspersönlichkeiten in anderen Branchen sind doch auch nicht nach 2-3 Jahren verbraucht.
ES 23. März 2016 um 16:23
In so exponierter Stellung sind die meisten Führungskräfte nach 2-3 Jahren verbraucht. Wenn man sich das in Branchen, die starkem und wechselndem Marktdruck ausgesetzt sind, ansieht, wird man einen Wechsel nach 2-3 Jahren sehr häufig finden. Sie halten sich da länger, wo die Strukturen festgefahrener sind, in großen Konzernen etc.. Da merkt es keiner so schnell bzw. da tragen manchmal die Strukturen die Führungskraft noch eine Zeitlang weiter.
Schorsch 23. März 2016 um 23:05
Nach meiner persönlichen Erfahrung sind es 3 – 5 Jahre. Ich würde da auch die ‚großen Konzerne‘ nicht pauschal etwas ‚retardierter‘ in ihren Reaktionen sehen. Es kommt nicht von ungefähr, dass es in vielen Unternehmen vorgegebene Wechsel auf Führungspositionen in einem bestimmten Turnus gibt. Der mit den Führungkräften zu Beginn ihrer Karriere geplante / abgesprochene ‚career path‘ trägt dem auf individueller Ebene Rechnung.
Im Profifußball hängt das ‚Höchstlestungsvermögen‘ eines Trainers auch viel mit den Entwicklungszyklen eines Teams zusammen. Ein solcher Zyklus unter einem Trainer dauert genau diese 3 (Regel) bis maximal 5 Jahre. Wenn man dann nicht den Trainer tauschen will, muss man das Gros der Mannschaft tauschen. Letzteres hat übrigens Hitzfeld seinerzeit beim BVB von der Clubführung verlangt. Was diese (wahrscheinlich aus finanziellen Gründen) nicht wollte, worauf Hitzfeld als Trainer zurücktrat (und vom Club zum Sportdirektor ernannt wurde; wohl eher, weil man sich nicht die Blöße geben wollte, einen solch erfolgreichen Mann gänzlich zu verlieren. Hitzfeld hat die Zeit genutzt, sich zu erholen (er war ziemlich ausgebrannt, was man ihm auch ansah) und für die Bayern fit zu werden. So ganz viel anders war es bei Guardiola in Barcelona wohl auch nicht. Von vorneherein hatte er seine Zeit als Cheftrainer nicht länger als 3 Jahre gesehen. Die Vertragslaufzeiten hatte er auf 1 Jahr begrenzt. Er bezeichnete es im nachhinein als Fehler, nach dem dritten Jahr (wo das Team auf dem Höhepunkt war) noch einmal um ein Jahr zu verlängern. Die Entwicklungskurve des Teams war in diesem 4. Guardiola-Jahr auch bereits leicht im Sinken begriffen (was bei diesem Niveau sicher sehr relativ ist) und er hatte wohl auch andere Vorstellungen als die Clubführung, wie die Mannschaft personell zu verändern sei. Er hat sich dann zur mentalen und physischen Erholung eine einjährige Auszeit genommen. So wie Tuchel übrigens auch bei noch laufendem Vertrag in Mainz; die Diskussionen darum sind bekannt. Insofern durfte es niemanden überraschen, dass Guardiola nicht länger als 3 Jahre beim FCB bleiben wird. Eigentlich müsste das Team nun auf dem Höhepunkt dessen sein, was Guardiola als Trainer mit ihm erreichen kann (von Wunschvorstellungen des Trainer bezüglich Spielerverpflichtungen einmal abgesehen).
Kvist4 22. März 2016 um 13:36
Echt stark diese Variabilität im Pressing und das vor allem nach so kurzer Zeit.
Könntet ihr noch was zum Offensivspiel sagen. Beschränkt sich dieses wirklich lediglich auf Ballgewinne und Umschaltsituationen oder steckt da mehr dahinter?
Dr. Acula 22. März 2016 um 09:01
wollte euch gestern ne mail schicken, mit der bitte um genau diese analyse, aber ich kam nicht dazu und siehe da, RM kann offenbar gedanken lesen.
danke für den tollen artikel, ist gut verständlich abgesehen von einer sache: könntest du in zukunft bitte die mannschaft, um die es geht, in den grafiken immer unten darstellen? ich weiß, die farben machen jede erklärung eig überflüssig, aber im lesen bin ich manchmal so dabei, mir alles vorzustellen, da guck ich zum bsp die grafik zum spiel gegen den bvb an und denke mir ewig, wo ihr da das 5-2-1-2 seht..
grüße